„Vorfreude ist schöner noch als die Liebe selbst.“ Dieser wiederkehrende Satz aus Jenny Erpenbecks Kairos lässt sich gut auf Verleihungen von Buchpreisen übertragen. Da läuft es ja oft ähnlich: Erst schürt die Longlist das Interesse, dann treibt die Shortlist die Spannung in die Höhe und wenn schließlich die Preise vergeben werden, ist das Beste im Grunde schon gelaufen. Oder doch nicht? Wer beim International Booker Prize 2024 für Jenny Erpenbecks Kairos die Daumen gedrückt hat, wurde bei der Vergabe des Preises belohnt. Dort sprach die Jury der Autorin und ihrem Übersetzer Michael Hofmann den diesjährigen Titel zu.
Es ist das erste Mal in der 19 Jahre andauernden Historie des International Booker Prize, dass ein Buch den Preis gewinnt, das im Original auf Deutsch erschienen ist. Hier erfährst du mehr über den Preis, die weiteren nominierten Werke und die deutschsprachigen Titel und Schreibenden, die in den vergangenen Jahren für den International Booker Prize nominiert waren.
Gewinner des International Booker Prize 2024: „Kairos“ von Jenny Erpenbeck
Am 21. Mai wurde bei einer Gala in der Turbine Hall der Londoner Tate Modern verkündet, dass Jenny Erpenbeck und Übersetzer Michael Hofmann den International Booker Prize für die englische Fassung von „Kairos“ erhalten.
Der Roman erzählt die Geschichte der 19-jährigen Ost-Berlinerin Katharina, die sich an einem Julitag im Jahr 1986 in den mehr als dreißig Jahre älteren Schriftsteller Hans verliebt und trotz dessen Ehe eine Beziehung mit ihm anfängt, die zur Prüfung ihres Lebens wird – ein starker Text, der ungeheuer dicht und referenzreich die Gleichzeitigkeit von Verbundenheit und Einsamkeit, Vergangenheit und Gegenwart, Privatheit und Politik, Schuld und Unschuld spiegelt. Oder wie es die fünfköpfige International-Booker-Prize-Jury ausdrückte: „Erpenbecks große erzählerische Gabe ist ihre Fähigkeit die Überschneidungen bedeutsamer persönlicher und historischer Wendepunkte in exquisiter Prosa voller Tiefe und Klarheit zu verdeutlichen.“
„Kairos“: Das Hörbuch als Autorinnenlesung
Die über zwölf Stunden dauernde deutsche Hörversion von „Kairos“ hat Jenny Erpenbeck, wie schon ihre beiden vorherigen Romane „Heimsuchung“ und „Aller Tage Abend“, selbst eingelesen. Im Booker-Prize-Interview schlug sie zudem eine Lanze für Audio-Versionen von Romanen, indem sie bekannte, dass sie selbst beim Autofahren immer Hörbücher laufen lasse. Auch die englische Fassung von Kairos, die beim International Booker Prize ausgezeichnet wurde, ist als Audiobook erhältlich.
In ihrer Dankesrede würdigte Jenny Erpenbeck explizit ihren Übersetzer Michael Hofmann. Ihre Mutter sei ebenfalls Übersetzerin gewesen, von daher wisse sie um die Herausforderungen beim Übertragen von Romanen in andere Sprachen. Erpenbeck und Hofmann teilen sich das Preisgeld in Höhe von 50.000 britischen Pfund - das entspricht in etwa 58.160 Euro.
Shortlist des International Booker Prize 2024
Die diesjährige Shortlist des International Booker Prize enthielt sechs Werke aus sechs Ländern, die – so die Jury – „auf radikal originelle Weise das Intime mit dem Politischen verbinden“.
Zwischen Juli 2023 und Januar 2024 hatten britische und irische Verlage insgesamt 149 aktuelle Romanübersetzungen bei der Booker Prize Foundation eingereicht. Aus dieser Auswahl wählte die Jury im März zunächst eine 13 Titel umfassende Longlist.
Seit 9. Mai stand die Shortlist fest, mit der die Jury die sechs besten Titel der Longlist ins Rennen um den Preis schickte. Für die fünf Shortlist-Titel, die nicht in der Hauptkategorie gewannen, hatte die Booker Prize Foundation jeweils eine Zusatzprämie von 5.000 Pfund ausgelobt, umgerechnet etwa 5.816 Euro. Auch hier geht jeweils die Hälfte des Geldes an Original und Übersetzung.
Das mit dem Hauptpreis ausgezeichnete Team Erpenbeck und Hofmann erhielt neben den 50.000 Pfund Preisgeld zusätzlich die begehrte „Iris“. Diesen offiziellen Spitznamen erhielt die Booker-Prize-Statue – eine Figur einer Frau im Art-Deco-Stil – letztes Jahr im Rahmen eines Publikums-Votings. Er soll an die anglo-irische Roman-Philosophin Iris Murdoch erinnern, die 1978 für ihren Roman The Sea, the Sea den Booker Prize erhielt.
Jury-Vorsitzende Eleanor Wachtel bescheinigte den sechs nominierten Romanen folgende Gemeinsamkeit:
Unsere Shortlist ist zwar implizit optimistisch, thematisiert aber dennoch gegenwärtige Realitäten von Rassismus und Unterdrückung, globaler Gewalt und ökologischen Katastrophen.
Was Eleanor Wachtel damit meinte? Das erschließt sich bei näherer Betrachtung der nominierten Romane. Im Folgenden erfährst du mehr über die Titel, welche neben Jenny Erpenbecks „Kairos“ dieses Jahr auf der Shortlist standen - geordnet nach Ländern.
Nominierung aus Schweden: „The Details“ von Ia Genberg
In ihrer schwedischen Heimat wurde Ia Genberg für den teils autofiktionalen Roman „Detaljen“ bereits mit dem renommierten August-Literaturpreis ausgezeichnet. In deutscher Übersetzung ist „Die Details“ im August 2023 bei Rowohlt erschienen. Zeitgleich mit dem gedruckten Buch kam eine von Marion Elskis gelesene Hörfassung heraus. Genberg beschwört in ihrem Roman einen buchstäblichen Fiebertraum der Erinnerungen herauf.
Indem sie ihre Protagonistin über die vier prägenden Menschen ihres Lebens nachsinnen lässt, rollt Genberg auf sehr persönliche Weise die komplette Biografie der Frau auf.
Die Jury des International Booker Prize sagt über „The Details“:
Ia Genberg stattet die Geschichte durch ihren stillen, aber entschiedenen Erzählton mit einem Zauber aus, der uns mittenhineinzieht in eine Welt voller enger, aber komplizierter Beziehungen, sodass es sich anfühlt als wären es die eigenen.
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Nominierung aus Argentinien: „Not a River“ von Selva Almada
Selva Almadas fantastischer Abgesang auf die männerdominierte Gesellschaft Argentiniens heißt im spanischen Original „No es un río“. Der Roman erschien bei Berenberg unter dem Titel „Kein Fluss“ auch in deutscher Übersetzung. Auf etwas über hundert Seiten erzählt er die Geschichte eines Ausflugs, der beinahe tödliche Folgen hat.
Drei Angler geraten am Paraná-Fluss in ein Tanzfest der dortigen Bevölkerung hinein und zetteln Streit an. Zunächst sieht es nach einem banalen Konflikt unter Machos aus. Doch es steckt mehr dahinter: Die Schrecken der Vergangenheit brechen auf.
Das sagt die Jury des International Booker Prize über „Not a River“:
Die wachsende Feindseligkeit gegenüber den drei Fischern, die die Einheimischen als Eindringlinge empfinden, lässt uns Seite für Seite atemlos vor Spannung weiterblättern. Wir wissen, dass etwas Schlimmes passieren wird, können es aber nicht vorhersehen, bis es passiert.
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Nominierung aus Brasilien: „Crooked Plow“ von Itamar Vieira Junior
Itamar Vieira Junior gilt als Botschafter der kritisch-progressiven brasilianischen Gegenwartsliteratur. „Crooked Plow“ heißt im portugiesischen Original „Torto Arado“. Die deutsche Übersetzung erschien im August 2022 unter dem Titel „Die Stimme meiner Schwester“ bei S. Fischer. Vieira Junior schrieb den Roman unter den Eindrücken, die er im Rahmen der Erforschung seiner eigenen Ahnengeschichte beim Zusammenleben mit den Nachkommen ehemaliger Sklaven sammelte.
Das Buch erzählt von zwei Schwestern, die bei ihrer Großmutter einen alten Koffer mit einem großen Messer finden. Der Fund löst eine Kette verhängnisvoller Ereignisse aus, die die Wunden einer durch Kolonialismus, Gewalt und Unterdrückung gezeichneten Gemeinschaft offenlegen.
Die Jury des International Booker Prize über „Crooked Plow“:
Indem der Roman tief in Brasiliens Quilombo-Kultur eintaucht, bietet er einen einzigartigen Einblick in eine Welt, deren Bevölkerung und Narrativen das Erbe des Widerstands und der Kämpfe um Land tief eingeschrieben ist – eine Perspektive, die selten so unmittelbar und authentisch eingefangen wird.
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Nominierung aus Korea: „Mater 2-10“ von Hwang Sok-yong
Hwang Sok-yong ist einer der bekanntesten koreanischen Autoren. Der heute 81-Jährige erlebte den Koreakrieg und den Vietnamkrieg mit und arbeitet seit Ende der 1960er Jahre als Schriftsteller. In seinen Romanen thematisiert er die politischen Verwerfungen seiner Heimat stets nahbar und menschlich.
In deutscher Übersetzung erschienen von ihm zuletzt „Die Lotosblüte“ und „Dämmerstunde“ im Europa Verlag. Mit „Mater 2-10“ legt Hwang Sok-yong ein knapp 500-seitiges, drei Generationen umspannendes Epos über die Kämpfe der Arbeiterklasse im von Krieg und Teilung gezeichneten Korea vor.
Die Jury des International Booker Prize über „Mater 2-10“:
Hwang Sok-yong erzählt die Geschichte einer nach wie vor geteilten Nation, aber er erzählt sie mit so viel Liebe und Freude, Humor und Behutsamkeit, als wäre es eine Erfolgsgeschichte.
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Nominierung aus den Niederlanden: „What I’d Rather Not Think About“ von Jente Posthuma
Die niederländische Autorin Jente Posthuma erlangte in ihrer Heimat mit einem Roman über „Menschen ohne Ausstrahlung“ Bekanntheit und legte mit „Heks! Heks! Heks!“ eine Gegenerzählung zum frauenfeindlichen Mythos der Hexen vor. In ihrem neuen Roman „Waar ik liever niet aan denk“ – so der Originaltitel – thematisiert Posthuma die trügerischen Sicherheiten familiärer Bande. Beziehungsweise die Abgründe, die sich auftun, wenn sie plötzlich wegfallen. Nach dem Selbstmord ihres Zwillingsbruders muss die junge Protagonistin die Eckpfeiler ihrer eigenen Identität neu zusammensetzen.
Die Jury des International Booker Prize über „What I’d Rather Not Think About“:
Die ungeschönte Darstellung der Zwillingsbeziehung in diesem Buch, verschränkt mit der authentischen Abbildung von Trauerprozessen, führt zu einer Gesamterzählung, die sowohl ungeheuer erkenntnisreich ist als auch anrührend in ihrer Menschlichkeit.
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International Booker Prize: Alle Shortlist-Titel auf einen Blick
Autorin/Autor | Übersetzerin/Übersetzer | Titel | |
---|---|---|---|
1 | Kria Josefsson | ||
2 | Michael Hofmann | ||
3 | Annie McDermott | ||
4 | |||
5 | Sora Kim-Russell & Youngjae Josephine Bae | ||
6 | Sarah Timmer Harvey |
Vorgeschichte: Deutschsprachige Schreibende und Romane beim International Booker Prize
„Kairos“ ist der erste deutschsprachige Titel, der den International Booker Prize gewinnt. Trotzdem waren Bücher und Schreibende aus Deutschland, Österreich und der Schweiz bei den Nominierungen der vergangenen Jahre respektabel vertreten. Bei der ersten Ausgabe des Preises im Jahr 2005 war Günter Grass für sein Gesamtwerk nominiert, 2013 folgte der Schweizer Peter Stamm. 2016 schaffte es dann der Österreicher Robert Seethaler mit Ein ganzes Leben auf die Shortlist.
2017 stand erstmals Clemens Meyer auf der Longlist. Damals war er für sein Gesellschaftsepos „Im Stein“ nominiert. 2018 ging mit Christoph Ransmeyer erneut ein Österreicher ins Rennen. Er kam mit dem Brüderdrama Der fliegende Berg auf die Longlist. Im selben Jahr war auch die diesjährige Gewinnerin Jenny Erpenbeck mit Gehen, ging, gegangen zum ersten Mal auf der Longlist vertreten.
Der erste deutschsprachige Roman auf der Shortlist des International Booker Prize nach Seethalers „Ein ganzes Leben“ war 2019 Die Kieferninseln von Marion Poschmann. Diese Ehre wurde 2020 auch Daniel Kehlmanns Tyll zuteil.
2021 war die deutschsprachige Literatur zwar nicht in der Endrunde dabei, aber Judith Schalansky schaffte es mit ihrem Verzeichnis einiger Verluste auf die Longlist.
2023 gab es ein Wiedersehen mit Clemens Meyer. Nach der Nominierung mit „Im Stein“ im Jahr 2017 war der Autor diesmal für seinen Wende-Klassiker „Als wir träumten“ nominiert, kam allerdings auch diesmal nicht auf die Shortlist. So geht Jenny Erpenbeck als erste deutschsprachige Autorin in die Geschichte des International Booker Prize ein, die nicht nur Longlist und Shortlist erreichte, sondern auch den Preis erhielt.
Was ist der International Booker Prize?
Der International Booker Prize wird einmal im Jahr an „das beste Einzelwerk aus dem Bereich Fiction vergeben, das ins Englische übersetzt und im Vereinigten Königreich und/oder Irland veröffentlicht wurde“. Er ist Großbritanniens wichtigste Auszeichnung für Romane der englischen Gegenwartsliteratur, die im Original nicht auf Englisch erschienen sind.
Der International Booker Prize ist eine Zusatz-Kategorie zum traditionellen Booker Prize, der seit 1969 jährlich im Herbst ein englischsprachiges Original würdigt. Die internationale Kategorie rief die Booker Prize Foundation 2005 ins Leben. Anfangs ehrte sie alle zwei Jahre Gesamtwerke von Schreibenden, die nicht aus dem Commonwealth stammen. Seit einer Umstrukturierung im Jahr 2016 geht der Preis nun jährlich an ein herausragendes Einzelwerk.
Die Foundation will damit nicht nur die kreative Leistung der Autorinnen und Autoren der Originale hervorheben, sondern auch das Verdienst von Übersetzerinnen und Übersetzern. Demzufolge teilen sich beide Parteien das Preisgeld Hälfte-Hälfte.
Das Preisgeld in Höhe von 50.000 britischen Pfund – das entspricht circa 58.160 Euro – stiftet die Booker Prize Foundation. Die Organisation möchte mit dem Preis die öffentliche Wahrnehmung von Literatur fördern. Welcher Titel dieses Jahr gewonnen hat, verkündet die Jury am 21. Mai im Rahmen einer Gala in London. 2023 gewann „Time Shelter“ von Georgi Gospodinov.
International Booker Prize 2024: Wer sitzt in der Jury?
Die Jury beim International Booker Prize besteht aus fünf Personen und wechselt jedes Jahr. Wie die in diesem Jahr nominierten Romane – sie kommen aus Argentinien, Brasilien, Korea den Niederlanden, Schweden und eben Deutschland – ist auch das fünfköpfige Jury-Team international aufgestellt:
Autorin und Radio-Moderatorin Eleanor Wachtel (Kanada, Jury-Vorsitz)
US-Lyrikerin und Pulitzer-Preis-Gewinnerin Natalie Diaz (USA)
„Suncatcher“-Autor Romesh Gunesekera (Sri Lanka)
Übersetzer und „Black Utopians“-Autor Aaron Robertson (USA)
Künstler William Kentridge (Südafrika)
Die Preisverleihung findet in der imposanten Turbine Hall des Londoner Museums Tate Modern statt.
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