Der Begriff „Frauenliteratur“ ist umstritten. Wird er doch seit langer Zeit benutzt, um Werke von Autorinnen abzugrenzen und sie abzuwerten. Ungeachtet ihrer tatsächlichen literarischen Qualität und der enormen Bandbreite der als „Frauenroman“ bezeichneten Bücher. Wir schauen uns an, was hinter dem kontroversen Label steckt und erklären, wie sich seine Bedeutung im Wandel der Zeit verändert hat. Außerdem stellen wir einige herausragende aktuelle Bücher von Autorinnen vor.
„Frauenliteratur gibt es nicht. Genauso wenig wie Linkshänderliteratur, Rothaarigenliteratur, europäische Literatur, Literatur der Nordhalbkugel. All diese Kategorien sind ebenso groß wie bedeutungslos. Tragischerweise ist Frauenliteratur die einzige, die immer wieder als Knüppel hervorgeholt wird, mit dem man auf schreibende Frauen einschlagen kann.“
(A.L. Kennedy)
Was versteht man unter „Frauenliteratur“?
Wer „Frauenroman“ hört, denkt wahrscheinlich zuerst an pastellfarbige Taschenbuch-Cover in Bahnhofsbuchhandlungen. An Titel mit so wohlklingenden Namen wie „Sommerträume im kleinen Café am Meer“ oder „Gentlemen küssen besser“ – um zwei fiktive Beispiele zu nennen. Romane, die vorrangig der Entspannung dienen. Typische Kennzeichen solcher Bücher sind eine eingängige Sprache, ein eher schematischer Aufbau, etwas stereotype Charaktere und ein Happy End. Aber ist das wirklich „Frauenliteratur“?
Nein. Hierbei handelt es sich um Unterhaltungsromane oder – um einen ebenfalls umstrittenen Begriff zu benutzen – um Trivialliteratur. Denken wir bei solchen Romanen an „Frauenromane“, dann hallen die 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts nach. Zu dieser Zeit wurden günstige Heftromane unter dem Etikett „Frauenroman“ vermarktet. Schaut man noch weiter in die Vergangenheit zurück, ins 19. Jahrhundert, wurden zeitweise sogar alle unterhaltenden Romane als „Frauenliteratur“ bezeichnet. Kritisch hinterfragt wurde der Begriff zu dem Zeitpunkt nicht.
Frauen in der Moderne: Die „Must Read“-Klassiker des 20. Jahrhunderts
Frauenliteratur in den 70er- bis 80er-Jahren
Erst um die 1970er-Jahre herum wurde durch die voranschreitende Frauen-Emanzipation der Begriff „Frauenroman“ umgedeutet und auf feministische Literatur bezogen. Zeitgleich begannen Frauen damit, den Begriff zu kritisieren. Geht er doch offensichtlich von einer männerzentrierten Sicht auf die Welt aus, in der die Frau – um es mit Simone de Beauvoir zu sagen – als das „andere“ Geschlecht gilt. Bezeichnenderweise gibt es das Äquivalent zur „Frauenliteratur“ – die „Männerliteratur“ – nicht.
„Frauenliteratur“ heute: Ein Begriff, der ausgedient hat
Heute käme wohl kaum mehr jemand auf den Gedanken, einen Roman nur deshalb als „Frauenliteratur“ zu bezeichnen, weil er von einer Frau geschrieben wurde, von einer Frau handelt oder sich eher an Leserinnen wendet. Es gilt mittlerweile als selbstverständlich, dass schreibende Menschen ungeachtet ihres Geschlechts sämtliche Stilhöhen bedienen – von Kitsch bis Hochliteratur.
Der Begriff „Frauenliteratur“ kann also eigentlich weg. Zudem kam in den letzten Jahren die berechtigte Kritik hinzu, dass der Begriff „Frauenroman“ auf einem binären Geschlechtersystem fußt und somit keinen Raum für die Perspektiven nicht-binärer und trans Personen lässt. Doch wer glaubt, dass es damit in der Welt der Literatur nun einigermaßen gleichberechtigt zugeht, irrt.
Wie unterschiedlich „männliches“ und „weibliches“ Schreiben bewertet wurde und wird, dazu hat Autorin und Übersetzerin Nicole Seifert ein kenntnisreiches, augenöffnendes Buch geschrieben: „Frauen Literatur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt“. Darin zeigt sie – untermauert von Zahlen, Beispielen und Fakten – auf, dass von Frauen verfasste Bücher weniger wahrgenommen, kritischer bewertet und schneller wieder vergessen werden. Bis heute.
Für ihr Buch hat sich die Autorin auf anspruchsvolle belletristische Literatur von Frauen konzentriert, die nicht unter dem Label „Frauenroman“ verkauft wird. Doch offenbar wirkt die Zuschreibung „Literatur von Frauen = Trivialliteratur“ bis heute noch unbewusst in vielen Köpfen.
Frauenromane: banal, kitschig, trivial?
Nur ein Beispiel: Literaturkritiker – so fand die Studie #frauenzählen der Uni Rostock 2018 heraus – besprechen zu 75 Prozent Bücher von anderen Männern. Da außerdem auf zwei männliche Literaturkritiker nur eine Literaturkritikerin kommt, haben Autorinnen schon allein dadurch deutlich weniger Sichtbarkeit in den untersuchten Medien. Darüber hinaus fallen die Rezensionen von Männern über die Werke von Frauen kürzer aus. Und: Sie sind manchmal so unsachlich und so offensichtlich klischeebehaftet, dass es schon skurril ist.
Da wird Siri Hustvedt unterstellt, ihr erstes Buch hätte in Wahrheit ihr Ehemann Paul Auster geschrieben. Deniz Ohde muss sich anhören, sie könne „nicht denken“, ihr hochgelobter und mit renommierten Preisen ausgezeichnetes Debüt Streulicht sei banal, flach und „unglaublich larmoyant“, also weinerlich. Die ebenfalls vielfach ausgezeichnete Autorin Judith Hermann konnte in der FAZ lesen, sie habe nichts zu sagen. Ihr Stil zeuge – so der Rezensent – von „gedanklicher Schlichtheit“ oder „einfach nur Unvermögen“.
„Während Autoren Tausende von Seiten mit Alltagsbeschreibungen füllen und dafür gefeiert werden, wird Schriftstellerinnen, die Ähnliches unternehmen, Befindlichkeitsprosa vorgeworfen.“
(Nicole Seifert)
Blöd gefragt: Schreiben Frauen die schlechteren Bücher?
Nun könnte man provokativ fragen: Schreiben Autorinnen vielleicht tatsächlich trivialere, anspruchslosere Bücher? Die Autorin Catherin Nichols machte die Probe aufs Exempel. Sie schickte einen Probetext an hundert Literaturagenten – fünfzigmal unter ihrem eigenen Namen, fünfzigmal unter einem männlichen Pseudonym.
Ergebnis: Der vermeintliche Autor wurde 17-mal um das komplette Manuskript gebeten, die Autorin nur zweimal. Wurde der Text des vermeintlichen Schriftstellers als „gut konstruiert“ und „clever“ gelobt, hieß es an die Adresse der Autorin gerichtet: leider nicht gut genug. Wohlgemerkt: Es ging um denselben Text. Es ist nur eines von zig Beispielen, mit denen Nicole Seifert ihre These untermauert.
Seiferts bitteres Fazit: Autorinnen haben es auch heute noch ungleich schwerer, wahrgenommen und anerkannt zu werden. Das ist nicht nur ungerecht den Autorinnen gegenüber, sondern auch jammerschade für Lesende und Hörende. Die Autorin beschloss konsequenterweise, eine Frauenquote in ihrem Bücherregal einzuführen: Drei Jahre lang las sie nur Bücher von Autorinnen. Schlicht, um zu verhindern, dass sie das Beste verpasst.
Nobelpreisträgerinnen: Diese Frauen haben die Literatur-Welt verändert
Aktuell, klug, relevant: Herausragende Literatur von Frauen
Wer Seiferts Beispiel folgen möchte, findet an dieser Stelle eine kleine Auswahl herausragender, aktueller Bücher von Frauen, die von wirklich jedem gelesen werden dürfen – und sollten. Du hast mehr Lust auf etwas Leichtes? Unterhaltsame Chic-Lit und gefühlvolle Liebesromane empfehlen wir dir ebenfalls hier im Magazin.
Die Ich-Erzählerin in Deniz Ohdes Streulicht wächst in den 90er-Jahren in einer trostlosen Industriestadt auf. Sie ist ein Arbeiterkind: klug und fleißig, aber still, voller Selbstzweifel und Angst. Weder ihre privilegierte Freundin noch ihre bornierten Lehrer nehmen wahr, wie sehr Armut und Rassismus ihr den sozialen Aufstieg erschweren. Streulicht ist ein beklemmender, sehr genau beobachteter Bildungsroman über eine hart erkämpfte Selbstermächtigung.
Eine Frau – ist es Judith Hermann? – arbeitet in jahrelangen Therapiestunden ihre belastende Familiengeschichte auf: die Depressionen des Vaters, die Nazi-Vergangenheit des Großvaters. Sie erzählt von ihrer Ablösung aus dem Elternhaus, von verdämmerten Sommern mit einer Künstlerclique im Haus der Großmutter. Was in Wir hätten uns alles gesagt ist autobiografisch, was ist Fiktion? In unnachahmlich lakonischem Erzählstil betreibt die Autorin ein raffiniertes Vexierspiel.
Zu Beginn der Corona-Pandemie tauscht Dora ihren urbanen Lebensstil gegen ein heruntergekommenes Haus im brandenburgischen Dorf Bracken ein. Doch das vermeintliche Landidyll entpuppt sich als Illusion: Dora muss sich nicht nur mit der wuchernden Natur in ihrem Garten, sondern auch mit Dorf-Nazis und ihren eigenen Vorurteilen auseinandersetzen. Ein selbstironischer und empathischer Roman Über Menschen, Ideologien und das Spannungsfeld dazwischen.
Nobelpreisträgerin Annie Ernaux blickt zurück: auf die 50er-Jahre, ihre Universitätskarriere, ihre unglückliche Ehe, sexuelle Unterdrückung und Befreiung. Und schließlich auf das eigene Altern. In kunstvoller Montagetechnik geschrieben ist Die Jahre eine Erinnerungsarbeit, in der sich eine ganze Generation wiederfinden kann. Die faszinierende Hörspielfassung mit mehreren Sprecherinnen verlangt beim Hören volle Aufmerksamkeit.
Annie Ernaux: Was die Literatur der Nobelpreisträgerin ausmacht
Eine Frau – Mutter und Alleinverdienerin – wacht morgens panisch auf. Sie ist überzeugt: Ihr Stiefvater ist tot. Aus diesem Anlass heraus erzählt sie von Siegfried, dem titelgebenden Helden des Romans. Vor allem aber von den drei Frauen in seinem Leben: seiner Mutter, seiner Frau und von sich selbst. In nüchterner, lakonischer Sprache entsteht ein Sittenbild der Bundesrepublik, in dem die Erzählerin über Rollenzuschreibungen, Gewalt und Schweigen, das Erbe des Faschismus und erhalten gebliebene Machtstrukturen reflektiert.
Die alleinstehende Grundschullehrerin Nora unterdrückt ihre Sehnsucht nach einem Leben als bildende Künstlerin und Mutter. Als eine charismatische Video-Künstlerin, ihr kluger Mann und ihr bezaubernder Sohn in Noras Leben treten, scheint das Glück zum Greifen nah: Nora fühlt sich durch die Freundschaft auserwählt und ihrer Mittelmäßigkeit enthoben. Bis ein unfassbarer Verrat sie schmerzhaft auf den Boden der Tatsachen zurückholt.
„Wunderland“ – im Original The Woman Upstairs – von Claire Messud ist ein psychologisch feinfühliger Pageturner über Einsamkeit, Wut und zerplatzte Illusionen, der als englischsprachiges Hörbuch vorliegt.
Große, kleine, wichtige und unterhaltsame Frauenromane bei Audible
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