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Annie Ernaux: Was die Literatur der Nobelpreisträgerin ausmacht

Annie Ernaux: Was die Literatur der Nobelpreisträgerin ausmacht

Annie Ernaux wurde im Oktober 2022 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Ausschlaggebend für die Entscheidung der Schwedischen Akademie war laut Mats Malm, Ständiger Sekretär: „der Mut und die klinische Schärfe, mit der (die Autorin) die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung aufdeckt“.

Die mittlerweile 82-jährige Annie Ernaux wurde 1940 in Lillebonne in der französischen Normandie geboren. Als einziges Kind ihrer katholischen Eltern besuchte sie zunächst ein katholisches Mädchenpensionat, bevor sie später in Rouen und Bordeaux Literaturwissenschaften studierte und promovierte. Sie arbeitete als Gymnasiallehrerin und bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 2000 als Dozentin an einer Fernuniversität. Ernaux wuchs in sehr bescheidenen Verhältnissen auf. Ihr Vater war zuerst als einfacher Arbeiter tätig. Später betrieben die Eltern einen kleinen Krämerladen.

Was macht die Erzählweise der französischen Schriftstellerin, die sich thematisch auch mit Beziehungen, Elternschaft und persönlicher Entwicklung beschäftigt, so besonders? Wer hat ihren Blickwinkel beeinflusst?

Zwischen Ethnografie und Autobiografie: Die Erzählweise von Annie Ernaux

Auffallend in den Werken von Annie Ernaux: die autobiografische Perspektive, die sie einnimmt, um auf den eigenen Lebensweg und ihren Aufstieg aus dem Arbeitermilieu zurückzublicken. Diesen analysiert sie mit Blick auf bestimmte Ereignisse, Episoden und Phasen ihres Lebens. Die sehr persönlichen Eindrücke werden in der Er-/Sie-Erzählform geschildert, wobei der Erzähler jedoch nur teilweise auktorial, also allwissend, über den Geschehnissen steht und immer wieder in eine zutiefst personale Erzählweise mit der damit eingehenden limitierten Perspektive zurückfällt.

Die Beschreibungen von Geschehnissen, aber auch von Annie Ernaux‘ Gedanken, zeichnen sich durch schonungslose Ehrlichkeit aus, die wie eine Auflehnung gegen das eigene, tief verankerte Schamgefühl anmutet. So beschreibt Ernaux Körper, Krankheiten und intime sexuelle Erfahrungen en détail. Auch den Entstehungsprozess ihrer Werke kommentiert sie ungeschönt und schreibt zum Beispiel in Erinnerung eines Mädchens:

Je weiter ich schreibe, desto mehr kommt mir die Leichtigkeit der Erzählung abhanden, die in meiner Erinnerung aufbewahrt ist.

Insbesondere das Verhältnis von Frauen und Männern, die Unterschiede ihrer gesellschaftlichen Stellung und Funktion sind Ernaux extrem bewusst, werden von ihr hinterfragt und kritisiert. Gleichzeitig zeichnet sie nach, wie sich das Geschlechterverhältnis und die gesellschaftlichen Anforderungen an Frauen und Männer im Laufe der Zeit wandeln.

So schreibt sie in Die Jahre, ihrem autobiografischen Roman aus dem Jahr 2008, mit Blick auf die Protestbewegungen der 1968er in Frankreich:

Die Schamgefühle von gestern kamen aus der Mode. (…) Man blickte auf seine Geschichte als Frau zurück und stellte fest, dass man nicht auf seine Kosten gekommen war. Dass die sexuelle und kreative Freiheit den Männern vorbehalten war. Ein typisches Frauengefühl war dabei, zu verschwinden: das einer naturgegebenen Unterlegenheit.

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Annie Ernaux und die Soziologie

Ernaux‘ Werk ist politisch und maßgeblich beeinflusst von den philosophischen und soziologischen Theorien Barthes‘, Lacans, Foucaults und Bourdieus. So verdeutlicht die Autorin immer wieder, wie unter anderem der wachsame, machtvolle Blick der Gesellschaft speziell Mädchen und Frauen prägt. Die normierende Funktion der vollumfänglichen gesellschaftlichen Beobachtung geht auf Michel Foucaults Konzept des Panoptismus zurück.

Kritik an der bürgerlichen Disziplinargesellschaft: Foucaults Einfluss auf Annie Ernaux

Dieses hat Foucault in „Überwachen und Strafen“ dargelegt. In dem 1975 erschienenen Werk verdeutlicht der französische Philosoph, wie staatliche Institutionen – zum Beispiel Schulen, Krankenhäuser und Kasernen – Menschen, die sie besuchen (müssen), kontinuierlich überwachen und disziplinieren beziehungsweise bestrafen. Und zwar so lange, bis die Personen in den betreffenden Institutionen die Regeln und die Moral, die in ihnen herrscht, verinnerlicht haben.

Diese Regeln tragen sie anschließend nach außen, um die eigene Überwachung und Disziplinierung sowie die anderer fortzuführen. Ernaux greift dieses und weitere poststrukturalistische Theoreme an vielen Stellen in ihren Werken speziell mit Blick auf Weiblichkeit und das Thema „zur Frau werden“ auf. So schreibt sie in Die Jahre:

Für Mädchen war die Scham eine ständige Bedrohung. Wie man sich kleidete und schminkte war immer „zu irgendwas“. Zu kurz, zu lang, zu tief ausgeschnitten, zu eng, zu durchsichtig et cetera. Wie hoch die Absätze waren, mit wem man seine Zeit verbrachte, wann man aus dem Haus ging, wann man zurückkam, ob man rote Flecken im Schlüpfer hatte. Man stand unentwegt unter Überwachung der Gesellschaft.

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Auch wie Sprache und Macht zusammenhängen beziehungsweise wie sich Machtverhältnisse mit Hilfe von Sprache reproduzieren, ein Haupt-Sujet in Foucaults Schriften, verdeutlicht Ernaux immer wieder eindrucksvoll.

So wird die fast 18-jährige Annie in „Erinnerungen eines Mädchens“ von anderen jungen Frauen nach ihrer ersten – von einem erheblichen Machtunterschied und einem Mangel an Konsens geprägten – sexuellen Erfahrung ausgegrenzt, verspottet und auf soziale Unterschiede aufmerksam gemacht. Ein Erlebnis, das laut Foucault wohl der Reproduktion der bestehenden sozialen Ordnung dienen soll – und das die Autorin 50 Jahre lang verfolgt.

Jedenfalls ruft sie Monique C. zu: „Aber wir sind doch Freundinnen, oder?“ Und Monique C. antwortet gehässig, voller Abscheu: „Was? Nein! Wo haben wir denn zusammen Schweine gehütet?“ Ich lasse die Szene immer wieder vor meinem geistigen Auge ablaufen und das Entsetzen darüber, wie schlecht ich mich gefühlt habe.

Es sind Aussagen wie diese, die das Klassenbewusstsein der Autorin immer weiter schärfen und sich in präzisen, aufzählungsartigen Beschreibungen manifestieren, die an das Habitus-Theorie des Soziologen Pierre Bourdieu erinnern.

Ethnografische Betrachtung der „feinen Unterschiede“: Annie Ernaux und der Habitus

In „Die feinen Unterschiede“ beschreibt der Soziologe Pierre Bourdieu, wie der Besitz verschiedener Kapitalformen – dazu zählen kulturelles, soziales, ökonomisches und symbolisches Kapital – unsere Position im sozialen Raum beeinflusst. Und welche Position wir im sozialen Raum einnehmen, zeigt sich in Form eines ganz bestimmten Habitus – an unserer Haltung, unserem Aussehen, unserer Sicht auf die Welt und unserem Geschmack.

Angelehnt an Bourdieus 1979 erschienenes Hauptwerk beschreibt Ernaux ihr eigenes, katholisch-bäuerlich geprägtes Herkunftsmilieu, aus dem sie ausbrechen möchte, minutiös und ethnografisch. So schreibt sie in Die Jahre: „Sich die Lippen mit einem Stück Brot abwischen, (…) alles mit ruppigen Bewegungen tun, (…) als Mann ständig etwas Schweres auf den Schultern tragen. Im eigenen Bett sterben. Nicht nach den Sternen greifen.“

Doch auch vom ersehnten Wunschmilieu der intellektuell-kreativen Eliten, in das Ernaux eintauchen will, hat sie eine klare Vorstellung. Sie verbindet den sozialen Aufstieg sowohl eng mit dem Besitz bestimmter Konsumgüter wie „einen Bauerntisch (…), der beim Antiquitätenhändler stolze 1.000 Franc“ kostet als auch mit bestimmten Verhaltensweisen und Gesprächsthemen.

(…) humanistische Psychologie, Yoga, sanfte Geburt. (…) Man fragte sich, ob es utopisch war, nur zwei Stunden am Tag zu arbeiten und ob Frauen für eine Gleichheit mit den Männern kämpfen sollten oder für eine Gleichheit in der Differenz. (…) Man diskutierte, (…) wie man sich ausdrücken konnte – durch töpfern, weben, Gitarre spielen, Theater spielen, schreiben. (…) Jeder betätigte sich künstlerisch oder hatte es zumindest vor.

Den sozialen Aufstieg selbst sieht sie als Weg aus der „Verstrickung einer bemitleidenswerten Weiblichkeit“, die auf Reproduktion ausgelegt ist und laut Ernaux das Ende jeglicher Kreativität und individuellen Ausdrucksform bedeutet. Sie schreibt: „Die Rolle der Mutter und die der Intellektuellen sind für sie unvereinbar.“ Das Studium dient vor allem dazu, sich aus dem eigenen Herkunftsmilieu zu lösen.

Ernaux‘ Werk behandelt sowohl ihren Wunsch und ihre Bemühungen sozial aufzusteigen als auch die mit dem Aufstieg verbundenen Schamgefühle und Unsicherheiten – Themen, die in Zeiten immer größerer sozialer Unterschiede relevanter denn je sind.

Das Werk von Annie Ernaux: Diese Romane sind auf Deutsch als Hörbuch erschienen

1974 ist das erste Werk von Annie Ernaux, „Les armoires vides“ (deutsch: „Die leeren Schränke“) erschienen. Viele ihrer Romane – darunter „Das Ereignis“, „Die Scham“ und Der Platz – wurden ins Deutsche übersetzt. Einige davon sind auch als deutsches Hörbuch verfügbar.

Der Platz
Die Jahre
Erinnerung eines Mädchens

Andere Werke von Annie Ernaux findest du bei Audible auf Englisch oder im französischen Original.

Hier geht es zu allen Hörbüchern von Annie Ernaux!

Annie Ernaux: Alle Romane im Überblick

Originaltitel

Deutscher Titel

Veröffentlichung

Als deutsches Hörbuch verfügbar

Les armoires vides

Die leeren Schränke

1974

Ce qu’ils disent ou rien

1977

La femme gelée

1981

La place

Der Platz

1983

ja

Une femme

Eine Frau

1987

Passion simple

Eine vollkommene Leidenschaft. Die Geschichte einer erotischen Faszination

1991

Journal du dehors

1993

La honte

Die Scham

1997

Je ne suis pas sortie de ma nuit

1997

L’événement

Das Ereignis

2000

Se perdre

Sich verlieren

2001

L’occupation

2002

Les années

Die Jahre

2008

ja

L’écriture comme un couteau

2011

Retour à Yvetot

2013

Regarde les lumières

mon amour

2014

Mémoire de fille

Erinnerung eines Mädchens

2016

ja

Le jeune homme

2022

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