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Fräuleinwunder, heute

Fräuleinwunder, heute

Wahrscheinlich meinte er es gut, vielleicht auch ironisch. Trotzdem hatte Volker Hage den Sturm der Entrüstung verdient, der in jenem Frühling 1999 über ihn hinwegfegte. Der Spiegel-Kritiker hatte in einem Artikel geschrieben: 

„Ist es Zufall, dass die weiblichen Debütanten zumeist weniger verzagt und umstandskrämerisch als ihre männlichen Kollegen daherkommen - ohne die erzähltechnischen Absicherungsstrategien, die doch längst geläufig und in diesem Jahrhundert beliebig verfügbar sind? Das literarische Fräuleinwunder ist jedenfalls augenfällig.“

(Volker Hage: Ganz schön abgedreht. In: Der Spiegel. 22. März 1999)

Es war wohl Hages Glück, dass Facebook erst fünf Jahre später erfunden wurde. So beschränkte sich der darauffolgende Shitstorm auf die traditionellen Medien. Bis heute ist die Entrüstung nicht ganz abgeebbt. „Fräuleinwunder“ – ja, geht’s noch? Als wäre es ein Wunder, dass Frauen schreiben können! Mal ganz abgesehen von dem herablassenden Diminutiv und seiner sexistischen Konnotation. Alle Autorinnen, die so etikettiert wurden, rückten umgehend von dem Begriff ab. Allein: Er war in der Welt – und wird bis heute verwendet. Zuletzt 2019 für die österreichische Autorin Vea Kaiser, die daraufhin entnervt vorschlug, Literatur von jungen Männern künftig als „Burschiwunder“ zu bezeichnen. 

Auch wenn es Hages Intention war, die so bezeichneten Autorinnen zu würdigen, war das Lob vergiftet. Und: Das Label klebte fortan zäh wie Kaugummi an ihnen. Längst ist es selbst in der Literaturwissenschaft etabliert. Dr. Leonard Herrmann, der an der Universität Leipzig lehrt und sich intensiv mit dem Phänomen auseinandergesetzt hat, sagt dazu: „Unser Unglück ist, dass wir keinen besseren Begriff haben. Wir verwenden ihn in Anführungszeichen, aber wir verwenden ihn. Die Wahrnehmung von Literatur funktioniert eben nicht ohne Kriterien und Kategorien.“  

Sommerhaus, später

Eine Autorin steht wie keine andere für das Phänomen „Fräuleinwunder“: Judith Hermann. Praktisch über Nacht wurde aus der damals 28-Jährigen, die lediglich ein schmales Bändchen mit Kurzgeschichten veröffentlicht hatte, der Shooting-Star der deutschen Literaturszene. Die plötzliche Aufmerksamkeit hatte sie Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki zu verdanken. Er prophezeite im „Literarischen Quartett“ mit ungewöhnlichem Pathos: „Wir haben eine neue Autorin bekommen, eine hervorragende Autorin. Ihr Erfolg wird groß sein.“ Der Kritiker Hellmuth Karasek vernahm den „Sound einer neuen Generation“. 

Und dieser Sound war weiblich – denn Judith Hermann war nicht allein. Neben ihr debütierten Karen DuveSybille BergAlexa Hennig von LangeMariana LekyJuli ZehJulia Franck und weitere Autorinnen mit aufsehenerregenden Romanen. Warum diese allesamt großartigen, aber doch sehr unterschiedlichen Schriftstellerinnen gemeinsam in die Schublade „Fräuleinwunder“ gesteckt wurden, bleibt allerdings ein Rätsel. Haben sie doch außer ihrem Geschlecht und ihrem ungefähren Alter nicht viel gemeinsam.

Vorgebliche Leichtigkeit

Oder doch? Wie erklärt sich der damalige plötzliche Erfolg? Dr. Leonhard Herrmann glaubt: „Diese Autorinnen brachten eine ganz starke Gegenwartsbezogenheit in die Literatur. Das war etwas Neues: Geschichten, die sich auf den ersten Blick überhaupt nicht von der Lebenswirklichkeit der Leser unterschieden haben. Ich sage bewusst auf den ersten Blick, weil ich glaube, dass sich hinter dieser Schreibweise sehr ernstzunehmende poetische und intellektuelle Projekte verbergen. Die Leichtigkeit ist vorgeblich.“

Die Aufregung um das „Fräuleinwunder“ jedenfalls tat dem Literaturbetrieb gut. Lesungen waren auf einmal cool, Autoren wurden fast wie Popstars gefeiert. Übrigens nicht nur dank des „Fräuleinwunders“: Auch die „Popliteraten“ machten von sich reden, allen voran Christian Kracht. Beide Phänomene sind eng verwandt. „In den Neunziger und Nuller Jahren war man medial präsent, hat ein Buch geschrieben und war dann noch präsenter. Sven Regner hat in einer Band gespielt, andere waren DJ; Benjamin von Stuckrad-Barre war sowieso überall.“ Alexa Hennig von Lange modelte und moderierte bei Viva, um sich ihr Schreiben zu finanzieren.

Auch wenn die Vermischung von Literatur-, Medien- und Popbetrieb nicht von jedem gerne gesehen wurde: Die Verjüngungskur war überfällig. „Wenn man sich anschaut, wer den Literaturdiskurs der späten 80er und frühen 90er Jahre bestimmt hat, waren das im weitesten Sinne Nachkriegsautoren: Peter Handke, Martin Walser, Günther Grass. Die waren über einen langen Zeitraum präsent und haben einen gewissen Ermüdungseffekt erzeugt“, so Leonhard Herrmann. 

Die Neunzigerjahre: Das Ende der Geschichte?

Seit den späten Neunzigern sind mehr als zwanzig Jahre vergangen. Der damalige Zeitgeist mit seiner Fixierung auf Alltägliches und Oberflächliches, mit seinem Gefühl von Stillstand und Geschichtslosigkeit ist heute schon wieder erklärungsbedürftig. Denn 1992 wähnte man sich tatsächlich „am Ende der Geschichte“ angekommen, wie es Francis Fukuyamas in seinem Buch „The End of History and the Last Man” formulierte: in einem post-politischen Zeitalter ohne globale Konflikte. Wie Fukuyama glaubten viele Menschen, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis der westliche Lebensstil sich weltweit unangefochten durchgesetzt hätte. Aus dieser Wahrnehmung heraus entstand ein Gefühl der Übersättigung, der diffusen Orientierungslosigkeit und des Werteverlusts. Diese Stimmung fassten die Pop-Literaten und die „Fräuleinwunder“-Autorinnen in Worte.

Über Menschen

Womit auch deutlich wird, wie unpassend das Etikett besonders in Bezug auf Juli Zeh und Jenny Erpenbeck ist. Denn schon nach ihren Debüts machten beide Autorinnen deutlich, dass sie über mehr als private Befindlichkeiten schreiben wollten.

„Was Juli Zeh und Jenny Erpenbeck gemeinsam haben, ist ein politisches Schreiben. Bei Juli Zeh ist das vom Selbstverständnis her kontinuierlich Teil ihres Schaffens. Das ist vom Begriff „Fräuleinwunder“ aber nicht gedeckt. Die Faszination, die dieses Phänomen ausmachte, war gerade das Apolitische“, so Leonhard Herrmann. Nur den Gegenwartsbezug hätten beide Autorinnen mit dem „Fräuleinwunder“ gemeinsam. 

2001: Das Ende vom Ende der Geschichte

Das neue Jahrtausend bewies dann sehr schnell, dass die Geschichte keineswegs zu Ende war – und dass Francis Fukuyama sich gründlich geirrt hatte. Mit ihrem Angriff vom 11. September 2001 führten die Terroristen dem globalen Westen überdeutlich vor Augen, dass es noch längst keine ausgemachte Sache ist, wessen Lebensstil sich durchsetzen wird. Mit dem Ennui der Popliteraten und der „Befindlichkeitsliteratur“ der späten Neunziger war es damit vorbei – endgültig. Andere Themen, andere Autoren drängten in den Fokus der Aufmerksamkeit. 

Heute wird gerade von Literatur wieder erwartet, dass sie Position bezieht. „Fragen von Race, Class, Gender, von Diversität, Gleichberechtigung, Partizipation spielen in der aktuellen Literatur eine große Rolle. Mit dem Siegeszug des Populismus geht apolitisches Schreiben nicht mehr“, stellt Leonhard Herrmann fest. So ist es wohl nicht überraschend, dass von den Autorinnen, die Volker Hage in seinen Spiegel-Artikel nennt, heute nur noch wenige präsent sind. Nadine Barth, Susanna Gran und Tanja Langer haben nach ihren Debüt-Romanen andere Wege eingeschlagen. Zoë Jenny und Birgit Vanderbeke schrieben zwar weiter, konnten an ihren frühen Erfolg aber nicht mehr anknüpfen.

Macht

Karen Duve ist die einzige der von Hage erwähnten Autorinnen, die mit ihren Büchern weiterhin sehr erfolgreich ist – wohl auch, weil sie mit „Anständig essen“, ihrer satirischen Dystopie „Macht“ und ihrem Essay „Warum die Sache schiefgeht“ dezidiert politische Themen aufgriff. Wie auch (die im Artikel nicht erwähnte) Sibylle Berg, die formal zwar Elemente des Pop in ihre Texte integrierte, mit ihren bissigen Romanen und Kolumnen jedoch eng am Puls der Zeit blieb. So erschrieben sich diese Autorinnen schnell den Respekt und die Anerkennung, die das Label „Fräuleinwunder“ vermissen lässt – und wurden als eigenständige Stimmen wahrgenommen.

Judith Hermann dagegen schrieb unbeirrt im Stil ihrer ersten Kurzgeschichten weiter. Ob in  „Nichts als Gespenster“, „Alice“ oder „Lettipark“: Die Welt mit ihren Katastrophen und Aufregungen dringt in den kleinen Kosmos ihrer Protagonisten kaum ein. Dafür musste die Autorin in den letzten Jahren auch Schelte einstecken – einen zur Masche verkommenen „Fototapetenminimalismus“ warf ihr etwa 2016 ein Kritiker der „Welt“ vor. 

Erst ihr aktueller Roman „Daheim“ wurde wieder (fast) durchgehend positiv aufgenommen und 2021 sogar für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Vielleicht, weil er mit Massentierhaltung und Klimawandel gesellschaftspolitische und ökologische Fragen streift. Vielleicht aber auch, weil der lakonische, „gute alte Hermann-Sound“ (Tobias Rüther in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung) in einer ungewissen, krisengeschüttelten Zeit auf einmal wieder wunderbar tröstlich klingt.

Daheim

Zurück in die Vergangenheit

Denn mittlerweile gibt es längst wieder einen auffälligen Gegentrend: Viele der Autoren und Autorinnen, die in den neunziger und nuller Jahren mit einem radikalen Gegenwartsbezug Furore machten, haben sich mittlerweile vom Zeitgeschehen ab- und Persönlichkeiten der Vergangenheit zugewandt. Alexa Hennig von Lange hat nach langer Abstinenz vom Literaturbetrieb einen fesselnden Roman über Johanna die Wahnsinnige geschrieben, Karen Duve mit „Fräulein nettes kurzer Sommer“ ein scharfzüngiges Porträt über die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff. 

Die Wahnsinnige

Es ist ein Trend, den Daniel Kehlmann mit seinem fantasievollem Doppel-Porträt „Die Vermessung der Welt“ in Gang setzte. Er zeichnet sich dadurch aus „dass man gegenwärtige Schreibweisen nutzt, um sich mit Persönlichkeiten aus der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Aber nicht als objektivierbare Biographie, sondern als eigenes intellektuelles Projekt“, wie es Dr. Herrmann beschreibt.

Auch Jenny Erpenbeck reflektiert in ihrem aktuellen Roman „Kairos“ die (jüngste) Vergangenheit – in diesem Fall die letzten Monate der DDR. „Man bekommt keinen dauerhaften Eintrag in die Literaturgeschichte, indem man immer dasselbe macht. Es muss schon eine Form der Innovation her“, resümiert Dr. Herrmann. Die Geschichte vom „Fräuleinwunder“ mag auserzählt sein – doch ihre Protagonistinnen haben noch viel zu sagen.

Kairos

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