„Im Jahr 1284 ließ sich zu Hameln ein wunderlicher Mann sehen. Er hatte einen Rock von vielfarbigem, buntem Tuch an, weshalb er Bundting soll geheißen haben, und gab sich für einen Rattenfänger aus, indem er versprach, gegen ein gewisses Geld die Stadt von allen Mäusen und Ratten zu befreien.“
- Brüder Grimm: Deutsche Sagen
So beginnt eine der faszinierendsten deutschen Sagen: Die Geschichte vom Rattenfänger von Hameln. Ein Mittelalter-Krimi, den geschätzt eine Milliarde Menschen auf der Welt kennen. Er besagt, dass am 26. Juni 1284 auf einen Schlag 130 Kinder aus der Stadt verschwanden. Ein um seinen Lohn geprellter Rattenfänger lockte sie aus Rache mit seinem Flötenspiel fort. Bis auf drei Kinder – darunter ein blindes und ein taubes – wurden sie nie wieder gesehen.
„Die Eltern liefen haufenweis vor alle Tore und suchten mit betrübtem Herzen ihre Kinder; die Mütter erhoben ein jämmerliches Schreien und Weinen. Von Stund an wurden Boten zu Wasser und Land an alle Orte herumgeschickt, zu erkundigen, ob man die Kinder oder auch nur etliche gesehen, aber alles vergeblich. Es waren im ganzen hundertunddreißig verloren.“
Die Trauer war so groß, dass die Bürger von Hameln eine neue Zeitrechnung einführten. So begann die Zeit „nach dem Verschwinden der Kinder“. Eltern läuft bei dieser Vorstellung bis heute ein kalter Schauer über den Rücken. Und Autoren, Filmemacher und bildende Künstler weltweit lassen sich bis heute von der dramatischen Geschichte inspirieren.
Zuletzt der britische Serien-Autor Anthony Khaseria: In seinem prominent besetzten Hörspiel-Debüt „Der Rattenfänger“, dessen zweite Staffel am 30. November 2023 erscheint, dient die alte Sage einem Kindesentführer als Vorlage für ein makabreres Rachespiel. Das jedenfalls glaubt die Hauptprotagonistin, Kommissarin Paula Beyer. „Ich dachte, wenn das heute passieren würde, gäbe es eine polizeiliche Untersuchung“, erinnert sich Anthony Khaseria an den Entstehungsprozess des Hörspiels. „Das führte dann zu der Idee, dass sich jemand auf den Mythos bezieht, um ein modernes Märchen zu erschaffen. Nur wäre es kein Märchen, sondern ein Albtraum.“
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Aktenzeichen „Rattenfänger“: So viel Wahrheit steckt in der Sage
Was ist dran an der alten Sage vom Rattenfänger? Verschwanden tatsächlich Ende des 13. Jahrhunderts 130 Kinder auf Nimmerwiedersehen aus der niedersächsischen Stadt? Claudia Höflich, Direktorin des Stadtmuseums in Hameln, ist davon überzeugt: „Ich glaube, dass tatsächlich etwas passiert ist. Wobei mit ‚Kindern‘ wohl eher junge Erwachsene gemeint waren. Die Quellenlage ist zwar dünn und beruht letztendlich auf mündlich überlieferten Merkversen. Aber es muss einen Auslöser gegeben haben. Ein frei erfundenes Märchen wäre sonst nicht über einen so langen Zeitraum von Generation zu Generation weitererzählt worden.“
Auch Forscher, die sich mit dem Thema befassen, glauben, dass die Bürger von Hameln im Jahr 1284 tatsächlich einen traumatischen Verlust erleiden mussten. Was allerdings mit den Hamelner Bürgern geschehen ist, darüber kursieren verschiedene Meinungen. Claudia Höflich schwankt zwischen zwei plausiblen Theorien. „Da ist einmal die Migrationstheorie. Demnach war der Rattenfänger ein sogenannter Lokator, der für einen Dienstherren neu erschlossene Ländereien besiedeln lassen wollte. Hameln war eine aufstrebende Stadt; es wurde eng in den Stadtmauern. Gut möglich, dass einige Bürger ihr Glück in Pommern oder in der Priegnitz versuchen wollten. Forscher haben hier Parallelen bei den Ortsnamen gefunden.“
Allerdings lässt die Migrationstheorie Fragen offen: „Auch wenn sie plausibel ist, muss man sich fragen, warum der Kontakt abbrach?“ Die zweite, ebenfalls nicht abwegige Theorie ist, dass etwas passierte, von dem die Obrigkeit oder die Kirche nicht wollte, dass es in den Chroniken festgeschrieben wurde. „Vielleicht gab es eine Ketzerbewegung, vielleicht ging es um politische Teilhabe. Es könnte jedenfalls sein, dass junge Aufständische aus der Stadt verbannt oder gar umgebracht wurden“, so Claudia Höflich.
In einem Punkt sind sich Forscher einig: Der Teil mit den Ratten ist nicht der historische Ursprung der Legende, sondern wurde erst im 16. Jahrhundert zu der schon länger kursierenden Sage vom Kinderauszug aus Hameln hinzugefügt. In den frühen Quellen wird der Rattenfänger stets als „Piper“ bezeichnet, also als Spielmann.
Von Krieg über Mord bis Migration: Was geschah am 26. Juni 1284 in Hameln?
Hier ist ein Überblick zu den gängigsten Theorien:
Die Kriegstheorie
Für die Kriegstheorie liefert ein alter Torstein das entscheidende Indiz, der heute im Museum Hameln zu sehen ist. Hier steht auf Latein eingemeißelt:
1556, NACHDEM VOR 272 JAHREN DER ZAUBERER 130 KINDLEIN VON DER STADT ENTFÜHRT HAT, IST DAS TOR GEGRÜNDET WORDEN.
Der Stein besteht aus zwei Teilen: Dem jüngeren von 1556 und einem älteren, auf dem die Jahreszahl 1531 eingemeißelt ist. Rechnet man davon ausgehend 272 Jahre zurück, kommt man auf das Jahr 1259. In diese Zeit fällt die für Hameln verlustreiche Schlacht bei Sedemünder. Möglicherweise sind die jungen Leute also nicht entführt worden, sondern im Krieg gestorben.
Die Mordtheorie
Der Coppenbrügger Heimatforscher Gernot Hüsam glaubt, dass sich junge Leute aus Hameln auf dem nahen Poppen- oder Koppenberg getroffen haben, um ausgelassene heidnische Feste zu feiern. Angeführt wurden sie möglicherweise von einem buntgekleideten Pfeifer. Den streng religiösen Grafen von Spiegelberg, die in der Nähe des Berges auf der Burg Coppenbrügge wohnten, war das wilde Treiben ein Dorn im Auge. Hüsams Annahme: Die Grafen ließen die Jugendlichen ermorden.
Als Hauptindiz für seine Theorie dient ihm die älteste bildliche Darstellung des Rattenfängers, ein Aquarell aus dem Jahr 1592. Das Bild zeigt, wie der Rattenfänger die Kinder aus der Stadt zu einem geheimnisvollen Berg führt, in dem sich eine Höhle öffnet. Drei im Zentrum der Darstellung abgebildete Hirsche weisen Hüsams Meinung nach auf die Grafen hin, die ebenfalls Hirsche im Wappen führten. Hüsam glaubt, dass der Rattenfänger und sein Gefolge dort in einer zugeschütteten Höhle liegen. Für diese Theorie spricht eine weitere Sage, die im Coppenbrügger Raum kursiert. In dieser werden die Grafen von Spiegelberg des Mordes bezichtigt.
Claudia Höflich vom Museum Hameln sagt hierzu: „Ich persönlich halte andere Theorien für wahrscheinlicher. Die Theorie mit der Höhle ist für mich nicht so schlüssig, weil es keine Anhaltspunkte gibt, dass die Jugendlichen nach Coppenbrügge gezogen wären. Die ursprüngliche Überlieferung besagt, sie wären zum Galgenberg gegangen. Der liegt aber direkt vor den Toren der Stadt. Allerdings gibt auch keinen Beleg dafür, dass es nicht so passiert ist.“
Die Ketzertheorie
Stefan Joost, forensischer Psychiater und Psychotherapeut, hat in einer unveröffentlichten Forschungsarbeit die Vermutung geäußert, es könne sich bei den verschwundenen „Kindern“ in Wahrheit um junge Bürger gehandelt haben, die sich gegen die Kirche aufgelehnt hatten. Zu Strafe wurden sie als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Dies könnte auf dem Koppenberg geschehen sein. In seiner Arbeit mit dem Titel „Der Rattenfänger – Fälschung, Allegorie oder Gleichnis?“ hat Joost den Wahrheitsgehalt von 15 Quellen aus der Zeit vom 13. bis zum 17. Jahrhundert überprüft. Dabei stellte der Forscher fest, dass die Quellen umso glaubhafter sind, je weiter weg sie sich vom Ort des Geschehens befinden. Möglicherweise gab es politische Akteure in Hameln, die ein Interesse daran hatten, die wahren Ereignisse zu verschleiern – etwa die Kirche.
Die Migrationstheorie
Die wohl wahrscheinlichste Erklärung lautet, dass die Hamelner im Zuge der Ostkolonisation die Stadt verlassen haben. Schließlich heißt es in der Überlieferung, dass die Entführten am anderen Ende des Hügels in Siebenbürgen (heute ein Teil Rumäniens) wieder zum Vorschein kamen.
Das 13. Jahrhundert war die Blütezeit der deutschen Ostkolonisation. Potenzielle Siedler wurden durch sogenannte Lokatoren angeworben, die bunte Kleidung trugen, um aufzufallen. Sie hatten einen Pfeifer oder Trommler bei sich und sprachen auf dem Marktplatz meist junge Leute an. Man schätzt, dass etwa eine von drei Millionen Einwohnern aus dem deutschsprachigen Gebiet auswanderten, besonders aus dem Rheinland und dem Weserberglandgebiet. Auch die Brüder Nikolaus und Herrmann von Spiegelberg beauftragten wohl Lokatoren, um neue Ländereien besiedeln zu lassen.
Die Spur von Nikolaus von Spiegelberg verliert sich am 8. Juli 1284 bei Stettin, also zwölf Tage nach dem Verschwinden der Kinder aus Hameln. Möglicherweise ertrank der Graf mit den abgeworbenen Siedlern aus Hameln bei einem Schiffsunglück auf der Ostsee in der Nähe des Ortes Kopahn. Hier starteten die Schiffe Richtung Ostpreußen. Auch so könnte die Inschrift „bi den Koppen verloren“ (sic) am Rattenfängerhaus gedeutet werden. Bewiesen werden konnte auch diese Theorie nicht.
„Der Berg bei Hameln, wo die Kinder verschwanden, heißt der Poppenberg, wo links und rechts zwei Steine in Kreuzform sind aufgerichtet worden. Einige sagen, die Kinder wären in eine Höhle geführt worden und in Siebenbürgen wieder herausgekommen.“
Brüder Grimm: Deutsche Sagen
Kinderfreund, Menschenfänger, Muse
Was auch immer damals geschah: Die Ereignisse aus dem Jahr 1284 wirken bis in die Gegenwart nach. So darf bis heute in der Bungelosenstraße, durch die der Rattenfänger mit seinen Opfern angeblich zog, keine Musik gespielt werden. An dieses Gebot halten sich die Hamelner noch immer. So erklärt sich auch der Name der Straße: Eine Bungel ist eine Trommel, bungelos bedeutet also „trommellos“.
Und: Der Stoff wird mehr als 700 Jahre nach den historischen Ereignissen immer noch in der Literatur, Kunst und Pop-Kultur aufgegriffen. Claudia Höflich wundert das nicht: „Der Rattenfänger bietet unglaublich viel Projektionsfläche. Er kann Kinderfreund und Menschenfänger sein. Er wird mit Tod und Verderben in Verbindung gebracht, kann aber auch ein unschuldiger Spielmann sein oder ein Kammerjäger, der um seinen Lohn betrogen wurde. Damit ist er eine dankbare Fläche, um ganz eigenständig kreativ anzuknüpfen.“ Hinzu kommen die moralischen Fragen, die die Legende aufwirft: „Nehme ich Ungerechtigkeit hin oder räche ich mich? Das ist ein universal verständliches moralisches Dilemma. Hier setzen viele künstlerische Auseinandersetzungen mit der Sage an.“
Anthony Khaseria, Autor des Audible Original Hörspiels „Der Rattenfänger“, sieht das genauso: „Wie viele volkstümliche Geschichten hat die Sage vom Rattenfänger ein universelles Thema, bei dem es um tiefsitzende menschliche Ängste geht: erstens die Angst vor Rache und zweitens die Angst vor dem Verlust der eigenen Kinder. Was die Sage vom Rattenfänger jedoch einzigartig macht, ist, dass sie in einer bestimmten Zeit und an einen bestimmten Ort verankert ist. Sie basiert auf einer wahren Begebenheit, die sich tatsächlich zugetragen hat. Das macht sie für mich viel mysteriöser – und gespenstischer.“
Dass die Akte Rattenfänger bis heute nicht geschlossen werden konnte, dürfte vielen Hamelnern ganz recht sein: Das Geheimnis um den wahren Hintergrund der Sage macht einen großen Teil ihrer Faszination aus. Die kleine Stadt profitiert von den zahlreichen Touristen, die der Rattenfänger bis heute nach Hameln lockt. Sie alle sind dem finsteren Thrill der unheimlichen Legende verfallen.
So geht es auch dem Autor Anthony Khaseria: „Deutsche Märchen sind unberechenbar, verrückt und superdüster. Und die Tatsache, dass sie nicht nur von Kindern handeln, sondern an sie gerichtet sind, macht sie noch unheimlicher. Ohne zu analytisch werden zu wollen, denke ich, dass der Grund, warum Thriller die Menschen ansprechen, in den spannenden Geschichten liegt, die uns als Kinder erzählt wurden. In gewisser Weise sind also Märchen, Mythen und Folklore die ursprünglichen Krimis.“
Wer sich weiter mit der Sage, ihrem historischen Hintergrund und ihrer vielfältigen Rezeption beschäftigen möchte, findet auf der Website „Piedpiper international“ umfangreiches Material. Der Webauftritt wird vom Museum Hameln betrieben.
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