Märchen beschreiben oft extreme, lebensverändernde Situationen, in die der Protagonist oder die Protagonistin gerät. Am Ende steht in der Regel die Auflösung einer scheinbar ausweglosen und lebensgefährlichen Situation, ein Happy End, für das prototypisch die erlösende Formel „... und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ steht. Der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt, stets sind wundersame und zauberhafte Ereignisse Teil der Erzählung, die als gesetzt gelten: ein Kuss verwandelt Tiere in Prinzen und Prinzessinnen, Gegenstände haben Zauberkräfte und Hexen können fliegen. Kein Wunder, dass sie Krimiautorinnen und -autoren immer mal wieder zu phantasievollen Thrillerplots an der Grenze zum Mysterygenre inspirieren. Ein Paradebeispiel dafür ist die mehrfach preisgekrönte TV-Serie Grimm, die auch als Hörbuchreihe umgesetzt wurde.
Hörspielautor und -produzent Tommy Krappweis, der Erfolgsserien wie Ghostsitter und Die phantastischen Fälle des Rufus T. Feuerflieg für Audible schuf, nutzte – neben bekannteren Märchenmotiven – Elemente aus bayerischen Volkssagen für seine neue Original Hörspielserie Kohlrabenschwarz. Dabei gelingt ihm durch ein geschicktes Spiel mit mythischen Figuren und tiefverwurzeltem Aberglauben eine athmosphärisch dichte Thrillerhandlung, in der es Schlag auf Schlag geht. Die dramatische Handlung wird kongenial durch die urtypisch bayerisch-grantligen Ermittlerfiguren aufgelockert, die sich auch mal den einen oder anderen groben Spruch um die Ohren hauen. Im Rest der Republik wenig bekannt ist die in Folge eins auftauchende Figur des „Kraxelmanns“. Er hat Ähnlichkeiten zum Krampus, dem etwas brutaleren Begleiter des Nikolaus, der im Alpenraum sein Unwesen treibt. Beide – Krampus wie Kraxelmann – zeichnet vor allem eines aus: Unartigen Kinder droht ein schlimmes Schicksal. Wärend Krampus sie erst mal nur züchtigt oder in den Sack steckt, werden sie vom Kraxelmann und seiner Frau gar aufgefressen. Dagegen hilft wohl nur eins: brav sein, oder?
Wir haben zwei gefragt, die’s wissen müssen – oder sich zumindest sehr intensiv mit Märchen aus psychologischer Sicht beschäftigt haben. Es geht ihnen also nicht um die individuelle Psychologie von Figuren im Märchen, sondern um die Art, wie Märchen in die Gesellschaft zurückwirken. Ein Gespräch mit Professor Dr. Dieter Frey und der Promovierenden Nadja Bürgle von der Uni München über die Psychologie von Märchen.
Interview
Was kamen Sie darauf, sich mit der Psychologie von Märchen zu befassen?
Dieter Frey Inspiriert haben mich meine drei Kinder, denen ich täglich Märchen erzählt habe. Sie fanden Märchen faszinierend und fesselnd. Manchmal habe ich mir auch eigene Märchen ausgedacht oder verschiedene Märchen miteinander verbunden. Das führte oft zum Protest der Kinder, weil sie erkannt haben, dass hier Schneewittchen mit Der Wolf und die sieben Geißlein vermengt wurde.
Außerdem bieten Märchen Anknüpfungspunkte an die Psychologie. Forschungsgegenstand der Psychologie ist das Erleben und Verhalten von Menschen – davon handeln auch Märchen. Viele psychologische Phänomene wie Emotionen, Wahrnehmung, Aggressionen oder Stereotype tauchen in Märchen auf. Durch die Analyse von Märchen lassen sich die wichtigsten psychologischen Theorien und empirischen Erkenntnisse anhand von konkreten Beispielen transportieren. Genau das haben wir in unserem Buch Psychologie der Märchen getan.
Nadja Bürgle Märchen und ihre Lehren sind zeit- und grenzenlos. Die Werte und Tugenden, die Märchen propagieren, behalten ihre Gültigkeit über Generationen und Kulturen hinweg. Fragen über gut und böse, gerecht und ungerecht, ebenso wie Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit oder Liebe werden morgen oder in 100 Jahren nicht plötzlich „out“ sein.
Faszinierend finde ich außerdem, dass Menschen sich leicht mit Märchen identifizieren, darin Parallelen zu ihrer eigenen Lebensgeschichte entdecken. Egal, welchen Alters, welcher Nationalität, welchen Bildungsgrads etc. – jede und jeder kann sich in Märchen wiederfinden.
In der Hörspielreihe Kohlrabenschwarz tauchen einige rätselhafte Phänomene auf, die sich mit rationalen Erklärmustern nicht mehr deuten lassen. Wie rational sind eigentlich Märchen?
Dieter Frey Das Interessante an Märchen ist unter anderem, dass sie Konstrukte sind, die in der Realität nicht 1:1 existieren, die die Phantasie fordern. Natürlich kann man einem Wolf nicht Steine in den Bauch legen und ihn wieder zunähen. Aber dennoch versteht es jeder. Märchen sind keine Dokumentation der Realität, aber umfassen trotzdem Inhalte, die in der Vorstellungswelt der Erwachsenen und Kinder täglich vorkommen. Wer hat nicht schon einmal darüber nachgedacht, auf einer Leiter zum Mond hinaufzusteigen und dort spazieren zu gehen?
Nadja Bürgle Märchen bilden die Realität nicht wahrheitsgetreu ab, sondern konstruieren Wirklichkeiten. Manche dieser Wirklichkeiten besitzen eine gewisse Ähnlichkeit zu unserer Alltagsrealität. Andere wiederum eröffnen uns Traumwelten, die fernab unserer Alltagsrealität liegen. Allerdings bestehen immer Anknüpfungspunkte zwischen der Realität der Lesenden oder Zuhörenden und der Wirklichkeit im Märchen, sodass diese die erfundene Wirklichkeit verstehen und sich in sie hineinversetzen können.
In der Serie Kohlrabenschwarz taucht ein mysteriöses Märchenbuch auf, das scheinbar Unzusammenhängendes miteinander verknüpft. Haben Sie sich schon einmal mit der Frage befasst, welche Rolle Bücher in Erzählungen spielen?
Dieter Frey Bücher können eine entscheidende Rolle für den weiteren Verlauf spielen, weil sie Aufklärungscharakter haben. Oft enthält ein Buch Zusatzinformationen, die mit der eigenen Geschichte nichts zu tun haben, aber wenn man die Informationen kombiniert und über den Tellerrand hinausdenkt, kann ein größerer Zusammenhang entstehen. Bücher sind Chancen für Aufklärung.
Nadja Bürgle Bücher sind unter anderem Sinnbilder für Wissen und Weisheit, für Verstehen und Erkenntnis, für geistige und innere Ordnung. Das Märchenbuch in Kohlrabenschwarz knüpft an diese symbolische Bedeutung von Büchern an. Es hilft dabei, einzelne Puzzlestückchen zu einem logischen Gesamtbild zusammenzufügen. Plötzlich werden Zusammenhänge verstehbar, es entsteht eine logische Ordnung, das Ganze ergibt einen Sinn.
Gibt es Muster, die sich in Krimis in Bezug auf den Einsatz der Märchenmotive wiederholen?
Dieter Frey Es geht ja immer darum, dass das Böse zunächst sein Werk tut, was das Publikum irgendwo auch fasziniert. Dann kommt das Gute dazu und versucht, das Böse zu entlarven und möglichst unschädlich zu machen. Nichts anderes passiert ja auch in den meisten Märchen. Es geht um einen Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Gerecht und Ungerecht, zwischen Arm und Reich, zwischen Liebe und Hass, zwischen Annäherung und Vermeidung. Insofern lassen sich Märchen, zumindest als Medium einer Zeit, in der es noch kein Fernsehen gab, mit dem Tatort vergleichen, den viele Menschen heute am Sonntagabend sehen.
Märchen sind oft ungeniert brutal und am Ende bekommen die Bösen, was sie „verdienen“ – könnte das eine Parallele zum Thriller sein?
Dieter Frey Ja, der Aufbau von Märchen und Thrillern weist Parallelen auf. Allerdings ist Brutalität in Märchen weder exzessiv, noch dient sie gar dem Selbstzweck. Zum Beispiel kommt die Sprache in Märchen mit wenigen Adjektiven und Details aus, sodass grausame Episoden nicht unnötig ausgeschmückt werden.
Nadja Bürgle Der deutliche Kontrast zwischen Gut und Böse, ebenso wie das vereinfachende Schwarz-Weiß-Denken haben die Funktion, die Komplexität der Erzählung zu reduzieren und die zentralen Inhalte unmissverständlich herauszustellen. Dadurch wird sichergestellt, dass die Botschaft des Märchens, „die Moral von der Geschicht‘“ bei Lesenden und Zuhörenden ankommt. Die Darbietungsform von Märchen, die sich auf das Wesentliche beschränkt, ist hilfreich dabei, abstrakte Vorstellungen von Moral zu entwickeln und diese in alltägliches Verhalten zu übersetzen. Wie bereits erklärt, ist eine vertrauensvolle, einfühlsame Beziehung zwischen Märchenerzähler und den jungen Zuhörerinnen und Zuhörern dennoch die Voraussetzung dafür, dass die Botschaft von Märchen wirksam transportiert wird. Dann können Märchen Lösungen für Dilemmata oder Konflikte anbieten, die möglichen Folgen von bestimmtem Handeln aufzeigen und Orientierung bezüglich der Werte Richtig und Falsch bieten.
Gruselige Märchen transportieren einen bestimmten Moral- oder Verhaltenskodex. Wer vom rechten Weg abkommt (auch sinnbildlich), wird vom Wolf gefressen (Rotkäppchen), wer kleine Kinder frisst, kommt auch schon mal selbst in den Ofen (Hänsel und Gretel) und wer die eigene Stieftochter umbringen will, muss sich am Ende in eisernen Schuhen zu Tode tanzen (Schneewittchen). Sind Märchen Lehrstücke für gesellschaftlich akzeptables Verhalten?
Dieter Frey Ja, ich würde definitiv sagen, dass Märchen nach wie vor Lehrstücke für gesellschaftliches Verhalten und für die Einhaltung von Regeln und Normen sind. Auch deswegen haben sie sich über Jahrhunderte gehalten und werden auch noch in hunderten von Jahren aktuell sein. Es geht um den uralten Kampf zwischen Gut und Böse. Insofern bieten Märchen schöne Möglichkeiten, mit dem Kind darüber zu reden, was moralisch richtig und falsch ist. Der Erzähler ist deshalb immer gefordert, nicht nur die Geschichte zu erzählen, sondern auch die Feinadjustierung vorzunehmen: Welche Bedeutung hat das Märchen heute? Entdecken die Zuhörer bestimmte Episoden aus dem Märchen auch in der Familie, im Kindergarten, in der Verwandtschaft? Die Botschaft sollte immer mittransportiert werden.
Nadja Bürgle Die meisten Märchen stammen aus einer vergangenen Zeit, in der ganz andere gesellschaftliche Verhältnisse herrschten als heute. Dennoch sind die grundlegenden Werte, die Märchen vermitteln, auch heute noch aktuell und relevant. Nahezu aus jedem Märchen lassen sich Lehren für die Gegenwart ziehen. Ein Beispiel bietet das Märchen Sterntaler, das sich mit Hilfsbereitschaft, Mitgefühl und Altruismus auseinandersetzt. In Sterntaler schenkt ein Waisenmädchen anderen Bedürftigen sein letztes Hab und Gut, bis es selbst gar nichts mehr hat. Verhaltensweisen wie diese, welche die Situation einer bedürftigen Person verbessern, nennt man prosoziales Verhalten. Verhält sich eine Person prosozial, ohne dabei auf die eigenen Interessen zu achten, handelt sie altruistisch. Das Gegenteil von Altruismus, dem selbstlosen Interesse am Wohlergehen anderer, ist der Egoismus, das selbstbezogene Interesse am eigenen Wohlergehen. Das Märchen lädt Erzähler und Zuhörer dazu ein, über Fragen nachzudenken, wie zum Beispiel: Wann und warum helfe ich? Wie kann ich meine Stärken einsetzen, um anderen zu helfen? Inwieweit nehme ich Hilfe von anderen an?
Wenn man die Erzählung vom "Kraxelmann“ nimmt, die im Folge 1 von Kohlrabenschwarz eine größere Rolle spielt: was will uns denn dieses Volksmärchen eigentlich sagen? Haben Großmütter damit nicht ganze Generationen von Kindern komplett traumatisiert?
Dieter Frey Ja, es ist wie bereits beschrieben die Kunst, die Inhalte der Märchen auf die heutige Zeit zu übertragen. Das Märchen vom Kraxelmann will die Botschaft vermitteln, dass es wichtig ist, Regeln zu befolgen und eben nicht alles erlaubt ist. Selbstverständlich sollte man den Kindern nicht mit dem Gefressenwerden drohen. Allerdings ist es durchaus sinnvoll, den Kindern zu vermitteln, dass Regeln ihre Berechtigung haben und die Nichteinhaltung von Regeln negative Konsequenzen haben kann. Nicht vergessen werden sollte allerdings, dass es durchaus auch heute noch Länder gibt, in denen Kinder, Jugendliche und Erwachsene auf drastische Art und Weise bestraft werden, wenn Regeln nicht eingehalten werden. Gott sei Dank trifft das hier nicht zu. Dennoch gilt es, Regeln einzuhalten.
Nadja Bürgle Märchen sind Zeugnisse der Zeit, in der sie entstanden sind, und spiegeln die damals vorherrschenden gesellschaftlichen Werte und Normen wider. Während zum Beispiel die in Sterntaler vermittelten Werte wie Hilfsbereitschaft oder Mitgefühl damals wie heute gültig sind, zeugt das Märchen Kraxelmann von einem grundlegenden Wertewandel, insbesondere in der Kindererziehung. Zur Entstehungszeit des Märchens war Kindererziehung unter anderem durch autoritäre Praktiken, Gehorsam gegenüber den Eltern und körperliche Züchtigung geprägt. Heute dagegen überwiegt der demokratische Erziehungsstil, der auf einer offenen Kommunikation zwischen Eltern und Kind sowie der Selbstständigkeit des Kindes gründet. Anhand des Märchens vom Kraxelmann können zum Beispiel Veränderungen in Bezug auf den Stellenwert und die Bedeutung von Werten wie Gehorsam im Laufe der Zeit besprochen werden.
Professor Dr. Dieter Frey ist Sozialpsychologe in München. Er leitet dort das LMU Center for Leadership and People Management. Gemeinsam mit Studierenden der Wirtschafts-, Organisations- und Sozialpsychologie der LMU München, untersuchte er 41 Märchen in Bezug auf psychologische Phänomene. Die Analysen fanden Eingang in das Buch Psychologie der Märchen. Nadja Bürgle hat in diesem Zusammenhang Grimms Sterntaler und Charles Perraults Blaubart analysiert.
Nadja Bürgle (M. Sc. Psychologie) ist Mitarbeiterin am LMU Center for Leadership and People Management und Promotionsstipendiatin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. In ihrer Dissertation befasst sie sich mit dem Thema Lebenssinn.
Lesetipps:
Dieter Frey (Hrsg.): „Psychologie der Märchen“, Springer Verlag 2017
Dieter Frey (Hrsg.): „Psychologie der Rituale und Bräuche“, Springer Verlag 2018
Dieter Frey (Hrsg.): „Psychologie des Guten und Bösen“, Springer Verlag 2019