Was verstehen Sie unter Selbstfürsorge?
Selbstfürsorge bedeutet erst einmal nur, dass ich etwas dafür tue, damit es mir gut geht. Etwa indem ich dafür sorge, dass ich eine ausgeglichene Work-Life-Balance habe. Es bedeutet aber auch, dass ich nicht nur die Erwartungen von außen erfülle, sondern meinen eigenen Bedürfnissen nach Entspannung, Freizeit und Inspiration nachgehe.
Wieso ist der Begriff Selbstfürsorge plötzlich in aller Munde?
Ich denke, dass die Menschen sehr gestresst sind. Sehr viele richten ihr Leben nur nach äußeren Erwartungen aus. Das sind Menschen, die schon von Kindheit an recht angepasst sind und innere Glaubenssätze haben wie: „Wenn ich anerkannt werden will, muss ich etwas leisten und die Erwartungen der anderen erfüllen.“
Glauben Sie, dass die Corona-Pandemie das Bedürfnis nach mehr Selbstfürsorge noch mal verstärkt hat?
Das ist möglich, aber es gibt natürlich auch immer wieder Mode-Themen, die plötzlich auftauchen und über die dann gesprochen wird. Zuvor war es die Achtsamkeit, jetzt ist es Selbstfürsorge.
Warum ist Selbstfürsorge grundsätzlich wichtig?
Jeder muss mit seinen eigenen Ressourcen haushalten. Einerseits muss man sich natürlich anpassen und in der Gesellschaft funktionieren – denn das bedient unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Bindung. Auf der anderen Seite haben wir ein großes psychisches Grundbedürfnis nach Autonomie. Darunter fällt auch die Selbstfürsorge. Ich warte nicht wie ein Opfer darauf, dass etwas passiert, wodurch es mir plötzlich gut geht. Sondern ich nehme diese Aufgabe selbst in die Hand.
Wie kommt es, dass Menschen etwas so Elementares vernachlässigen?
Weil sie überangepasst sind. Weil sie ein Leben lang trainiert haben, mehr auf die Bedürfnisse anderer zu achten als auf die eigenen. Weil sie – ohne dass es ihnen bewusst ist – unheimlich damit beschäftigt sind, nicht auf Ablehnung zu stoßen. Das heißt, sie richten ihr Leben in der Vermeidung aus.
Was bedeutet das, „in der Vermeidung ausrichten“?
Wir haben nur zwei psychologische Bewegungsrichtungen: Annäherung und Vermeidung. Selbstfürsorge ist ein Annäherungsmotiv: Ich tue aktiv etwas dafür, dass es mir gut geht. Wenn ich mein Leben in der Vermeidung organisiere, dann gehöre ich zu den Menschen, die ihre Bedürfnisse gar nicht so gut spüren. Weil ich damit beschäftigt bin, die Bedürfnisse der anderen zu erahnen und zu erfüllen. Dann kann es leicht passieren, dass ich meine Grenzen nicht spüre und mich über meine persönliche Grenze hinweg verausgabe.
Sie sagen, das sei ein Verhalten, das viele schon in ihrer Kindheit verinnerlichen. Ist es möglich, daran als Erwachsener noch etwas zu verändern?
Ja, wenn man sich dessen bewusst wird. Wenn es den Eltern nicht gelingt, das Bedürfnis ihres Kindes nach Zugehörigkeit und Bindung auf der einen sowie das Bedürfnis nach Wachstum und Selbstständigkeit auf der anderen Seite hinreichend zu erfüllen – ja, dann übernimmt das Kind die Verantwortung dafür, dass die Beziehung zu den Eltern funktioniert. Dann lernt es von Kindesbeinen an, eigene Ansprüche und Bedürfnisse zu verleugnen, um seinen Eltern zu gefallen. Wenn man das nicht reflektiert, läuft man Gefahr, dieses Beziehungsmuster ins Erwachsenenleben mitzunehmen. Das ist immer auch die Vorlage für einen Burn-out. Menschen, die einen Burn-out erleiden, sind immer überangepasst.
Gibt es Selbstfürsorge-Übungen, mit denen ich mir diese Überangepasstheit abtrainieren kann?
Überangepasste haben meist kein gutes Selbstwertgefühl. Sie haben gelernt: So, wie ich wirklich bin, mit meinen Wünschen und meinem Willen, stoße ich nicht auf Anerkennung bei meinen Eltern. Darum haben sie innere Glaubenssätze wie: „Ich muss mich anstrengen, um zu gefallen.“ Oder: „Ich bin nicht wichtig.“ Diese Glaubenssätze sind die Sprache ihres Selbstwertgefühls. Das muss man sich bewusst machen. Im zweiten Schritt können Betroffene sich klarmachen, dass diese Glaubenssätze nicht zu ihnen gehören, sondern zu ihren Eltern. Diese Sätze sind also willkürlich.
Das klingt ein bisschen simpel: Die Eltern sind an allem schuld und sobald man das verstanden hat, geht es einem besser.
Viele Menschen reagieren sensibel, sobald es um die eigenen Eltern geht. In ihnen steckt noch immer eine tiefe kindliche Loyalität. Aber wenn ich wissen will, wie ich geprägt wurde, muss ich gucken, wie ich aufgewachsen bin. Das Gehirn formatiert sich nun mal in den Kinderjahren. In den ersten zwei Lebensjahren entwickelt sich mein Urvertrauen – oder eben mein Ur-Misstrauen. Die meisten Prägungen sind bereits gelaufen, bevor ich mich überhaupt erinnern kann.
Das ist eher eine schlechte Nachricht, oder?
Eigentlich ist das eine sehr gute Nachricht. Denn es bedeutet: Meine Glaubenssätze sagen nichts über meinen Wert aus. Das Problem ist ja, dass sich viele Menschen noch als Erwachsene mit diesen alten Botschaften identifizieren. Wenn ich auf einer tiefen Ebene begreife, dass diese Sätze nicht über mich etwas aussagen, sondern nur über meine Eltern, dann habe ich den ersten Schritt schon geschafft.
Was kann ich aktiv tun, um mein Selbstwertgefühl zu stärken?
Ich suche mir neue Glaubenssätze, die meiner heutigen Realität angemessen sind. Dann verbinde ich diese mit schönen Situationen in meinem Leben, in denen diese Glaubenssätze bereits wahr sind. Ich kann mir auch vorstellen, dass mein Lieblingsmensch mir diese neuen Glaubenssätze ins Ohr flüstert. Damit verknüpfe ich diese rationalen Sätze mit Emotionen. Unser Gehirn kann ja zwischen Vorstellungen und Wirklichkeit nicht so gut unterscheiden. Wie gut das im Negativen funktioniert, wissen wir alle. Ich muss mir nur irgendwelche Horrorszenarien ausmalen und schon ziehe ich mich selbst damit total runter. Diesen Mechanismus kann ich aber auch umgekehrt für mich nutzen. Gleichzeitig distanziere ich mich von meinen alten Glaubenssätzen. Immer, wenn ich mich dabei ertappe, dass ich wieder in meiner alten Matrix bin – ich spreche in diesem Zusammenhang auch vom inneren Schattenkind – schalte ich bewusst um in meine heutige Erwachsenenrealität und sage mir: Hey, das sind alte, willkürliche Prägungen, die nicht stimmen.
Was gibt es bei diesen neuen Glaubenssätzen zu beachten?
Die neuen Glaubenssätze müssen für mich stimmig sein. Wenn ich mein Leben lang geglaubt habe, dass ich hässlich bin, wird mir ein Glaubenssatz wie „Ich bin schön“ keinen Zentimeter weiterhelfen. Das kann ich mir nicht einreden. Aber ein Glaubenssatz wie „Ich bin schön genug“ – den kann ich annehmen.
Der strahlende Zwilling des Schattenkindes ist das Sonnenkind – wie kann ich dieses Sonnenkind in mir fördern?
Indem ich auf meine Stärken und Ressourcen gucke und auf alles, wofür ich dankbar sein kann. Bewusst wegkommen von der Defizit-Wahrnehmung: Daran scheitern viele Leute, weil sie unbewusst lieber am alten Selbstwert festhalten.
Warum tun sie das?
Weil sie als Kind immer wieder auf Ablehnung gestoßen sind. Das ist eine Enttäuschungsprophylaxe. Wenn ich lieber gleich glaube, dass ich nicht genüge, dann kann ich nicht mehr so auf die Schnauze fallen. Wenn ich anfange zu glauben, dass ich genüge, dass ich Dinge schaffen kann, dass ich mit anderen auf Augenhöhe bin – dann mache ich mich auch verletzbar. Die Motivation sich selbst zu schützen, ist höher als die zu glauben, dass ich ok bin. „Hochmut kommt vor dem Fall“ – ich bleibe lieber beim Alten und laufe damit nicht Gefahr, enttäuscht zu werden.
Burn-out ist ein hohes Risiko, gerade bei Managern und in sozialen Berufen …
… nicht nur dort. Das Risiko ist überall dort hoch, wo man ganz viel arbeitet und das Gefühl hat, dass letztendlich wenig dabei herauskommt. Aber es ist vor allem auch eine Persönlichkeitssache.
Was können gerade diese Risikogruppen machen, um einem Burn-out vorzubeugen?
Sie müssen üben, sich viel stärker selbst zu spüren. Das geht über Achtsamkeit. Indem man sich also regelmäßig fragt: Wie geht es mir? Man kann sich dafür auch einen Handywecker stellen. Zwanzigmal am Tag kurz innehalten: Wie geht es mir gerade? So lernt man, sich selbst zu spüren – auch dann, wenn andere Menschen anwesend sind. Denn die Überangepassten spüren sich am besten, wenn sie allein sind. So lernen sie, sich die Erlaubnis zu geben, auf ihre eigenen Bedürfnisse zu achten.
Zwanzigmal am Tag? Ist das nicht etwas übertrieben?
Nein, das dauert ja nur zwei Sekunden. Bei Menschen, die dieses Problem nicht haben, läuft das automatisch mit.
Eltern waren im letzten Jahr sehr gefordert, sie mussten Kinderbetreuung, Homeschooling und Homeoffice unter einen Hut bringen. Wie kann sich speziell diese Zielgruppe Energie zurückholen?
Viele Eltern sind komplett erschöpft. Sie haben versucht, dafür zu sorgen, dass trotzdem alles toll läuft – diese Ansprüche waren oft zu hoch, um noch realistisch zu sein. Ich glaube, jetzt muss es darum gehen, das Leben zu genießen, wo es nur geht. Sich einfach eine schöne Zeit machen, um die Akkus wieder aufzuladen.
Wie kann ich meinem Kind beibringen, dass es auch als Erwachsener gut für sich sorgt?
Das klappt ganz automatisch, wenn man seinem Kind genügend Zeit schenkt, es liebt und angemessen fördert. Konkret: Da sein in den ersten Lebensjahren – also möglichst nicht schon mit einem Jahr oder noch früher in die Kita geben. Fürsorge zeigen, damit das Kind spürt: Meine Eltern sind für mich da und freuen sich, dass es mich gibt. Zuverlässige Verfügbarkeit und Einfühlsamkeit sind die wichtigsten Kriterien für Erziehungskompetenz. Dann entwickelt das Kind ein gutes Selbstwertgefühl und kommt gar nicht auf die Idee, sich verbiegen oder verausgaben zu müssen, um anderen zu gefallen. In dem Maße, wie es Eltern gelingt, das Bindungsbedürfnis des Kindes zu erfüllen, wird das Kind ganz automatisch die Fähigkeit erwerben, für sich zu sorgen.
Es geht also nur darum, diesen natürlichen Prozess nicht zu sabotieren?
Genau.
Gibt es einen Punkt, an dem Selbstfürsorge aufhört und Egoismus anfängt?
Dieser Punkt ist schwierig zu definieren, das kann man eigentlich nur im Einzelfall machen. Es gibt Leute, die von morgens bis abends von ihren Bedürfnissen sprechen, das geht den Mitmenschen natürlich irgendwann auf die Nerven. Das passiert oft bei Menschen, die erst sehr angepasst waren und dann auf einem Seminar entdecken, dass sie ja auch einen Selbstwert haben. Die kippen dann ins andere Extrem. Natürlich ist es wichtig, dass ich kompromissfähig bin. Dafür gehe ich ab und zu in die Beobachterposition und frage mich: Ist das okay, was ich hier mache? Da kommen die meisten schon zu einem richtigen Ergebnis. Arbeit ist da nur ein Aspekt. Denn Menschen, die überangepasst sind, sind auch in ihrer Freizeit überangepasst und übernehmen auch dort die Verantwortung dafür, dass andere Menschen sich wohl mit ihnen fühlen.
Nehmen Sie aktuell einen gesellschaftlichen Wandel wahr, weg von der Leistungsgesellschaft, hin zu einem bewussteren Umgang mit Ressourcen – auch den eigenen?
Es gibt einen Wandel, was die persönliche Weiterentwicklung betrifft. Seit einigen Jahren interessieren sich immer mehr Menschen für Selbstreflektion, für Psychologie. Das ist eine positive Entwicklung.
Es heißt immer, wir wären so eine individualistische Gesellschaft. Widerspricht sich das nicht mit Ihrer Erfahrung, dass viele Menschen überangepasst sind?
Ich bin keine Soziologin, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Wir sind eine recht freie Gesellschaft, aber wo mehr Freiheit ist, ist auch mehr Einsamkeit und eine höhere Verantwortung des Einzelnen. Man muss persönlich für sich die richtigen Entscheidungen treffen, es wird einem nicht mehr von sozialen Normen abgenommen. Aber Sie können auch in einer Großfamilie kompromissbereit und trotzdem in der Lage sein, sich mit Ihren Bedürfnissen zu behaupten. Das hängt nicht so sehr von äußeren Faktoren ab.
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