Über den Mut: Interview mit Ichiro Kishimi und Fumitake Koga

Über den Mut: Interview mit Ichiro Kishimi und Fumitake Koga

Herr Kishimi, Herr Koga, sind Sie in Ihrem eigenen Leben mutig?

Ichiro Kishimi*:* Bevor ich angefangen habe, die Psychologie Adlers zu studieren, habe ich nicht bemerkt, dass ich aus den verschiedensten Gründen versucht habe, meinen Lebensaufgaben auszuweichen. Ohne Adlers Einsichten hätte ich meine „Lebenslüge“ vielleicht gar nicht bemerkt. Seitdem ich allerdings in meiner Jugend Adler entdeckt habe, habe ich es aufgegeben, mir Ausreden zu überlegen, wieso ich meinen Lebensaufgaben ausweiche. Nun bin ich mutig genug, mein Leben nach der Lehre Adlers zu leben – allerdings mit dem Mut, unvollkommen zu sein.

Fumitake Koga*:* Ja, ich lebe mutig. Natürlich kommt es vor, dass ich Angst vor bestimmten Situationen habe. Wenn ich zum Beispiel morgen Bill Gates interviewen würde, dann wäre ich nervös und ängstlich. Ich würde mir wahrscheinlich Sorgen darüber machen, ob ich imstande wäre, ein gutes Interview zu führen und einen guten Artikel zu schreiben. Aber letztendlich würde ich ihm mutig gegenübertreten. Und das Gleiche gilt auch für verschiedene viele andere Dinge im Leben.

„Mut lernt man nicht.“

Fumitake Koga

Kann man lernen, keine Angst vor dem Leben zu haben und es zu wagen, glücklich zu sein?

Fumitake Koga: Die Psychologie von Alfred Adler geht davon aus, dass jeder Mensch Mut hat. Wenn eine Person nicht mutig sein kann, dann ist dies ein „Zustand, in dem der Mut gedämpft wurde". Aufgrund der Begegnung mit der Psychologie von Alfred Adler konnte ich meinen gebrochenen Mut wiederherstellen und mich so den Herausforderungen des Lebens stellen. Mut lernt man nicht. Unabhängig von Rasse, Geschlecht, Nationalität, Alter, Wissensstand, Können oder Talent hat jeder von uns Mut. Der Rest besteht dann einfach darin, ob man diesen Mut einsetzt oder nicht.

„Unabhängig von Rasse, Geschlecht, Nationalität, Alter, Wissensstand, Können oder Talent hat jeder von uns Mut.“

Fumitake Koga

Was war Ihre Motivation, „Du musst nicht von allen gemocht werden“ und „Du bist genug“ zu schreiben? Hatten Sie das Gefühl, dass ein großes Publikum von diesen Gesprächen profitieren würde?

Fumitake Koga: Alfred Adler war ein in Japan fast vollkommen unbekannter Psychologe, bis das Buch „Du musst nicht von allen gemocht werden: Vom Mut, sich nicht zu verbiegen" veröffentlicht wurde. Unsere große Motivation war es, möglichst vielen Menschen die in Vergessenheit geratenen Gedanken von Adler zu vermitteln.

Als „Vom Mut, sich nicht zu verbiegen" zum Bestseller wurde und der Bekanntheitsgrad von Adler in Japan zunahm, stieg auch die Zahl der Menschen, die Adlers Ideen missverstanden. Das häufigste Missverständnis bestand darin, dass Adler Menschen angeblich dazu ermutigte, durch den Abbruch zwischenmenschlicher Beziehungen frei zu werden. Das nächste Buch „Du bist genug: Vom Mut, glücklich zu sein" wurde daher als Fortsetzung zum großen Thema „Liebe" geschrieben, um solche Missverständnisse auszuräumen.

Würden Sie sagen, beide Bücher sind Selbsthilfebücher oder eher ein philosophisches Gespräch zur Anregung des Geistes? Oder vielleicht beides?

Fumitake Koga: Der Ursprung des Begriffs „Selbsthilfebücher" ist das Buch „Selbsthilfe", das 1859 von Samuel Smiles verfasst wurde. Die Worte „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott" im Vorwort dieses Buches haben wohl möglicherweise etwas mit Adlers Denken zu tun.

Ein Psychologe, der stark von Adler beeinflusst wurde, war Abraham Maslow (Humanistische Psychologie), dessen Ideen an den Begründer der Positiven Psychologie, Martin Seligman, weitergegeben wurden. Wenn die Bücher dieser Autoren und andere ähnliche Bücher als Selbsthilfebücher bezeichnet werden, dann darf man wohl auch „Vom Mut, sich nicht zu verbiegen" und „Vom Mut, glücklich zu sein" als Selbsthilfebücher bezeichnen. Wir haben diese beiden Bücher jedoch als vollkommen neue Philosophie-Bücher geschrieben. Es liegt an den Lesern zu entscheiden, ob es sich bei diesen Büchern um Philosophie-Bücher oder Selbsthilfebücher handelt.

Sie haben sich für ein bekanntes, aber heutzutage kaum mehr verwendetes philosophisches Format entschieden, um die Aufmerksamkeit Ihres Lesers zu gewinnen: den Dialog. Parmenides benutzte ihn, Platon benutzte ihn. Was waren Ihre Gründe, diese Methode zu verwenden?

Fumitake Koga: Als „Vom Mut, sich nicht zu verbiegen" veröffentlicht wurde, war die Psychologie Alfred Adlers für die meisten Japaner die erste Psychologie, mit der sie in Kontakt kamen. Menschen rebellieren immer, wenn sie auf eine ihnen unbekannte Idee stoßen. Sie hinterfragen diese Idee, suchen nach Fehlern und lehnen sie ab. Eines der Probleme, das wir beim Schreiben hatten, war die Beantwortung von Fragen und Einwänden vonseiten des Lesers. Die endgültige Form des Buchs war daher die Dialogform. Durch die Anwendung der Dialogform stellte ich einen „jungen Mann“ vor, der den Leser repräsentiert, der verschiedene Fragen stellt und im Namen des Lesers Einwände erhebt.

Kishimi war ursprünglich ein Philosoph, dessen Spezialgebiet die Philosophie Platos war. Und ich liebe ganz einfach ein Spätwerk von Mark Twain, „Was ist der Mensch?". Daher war es für uns ganz natürlich, den Dialogstil zu wählen.

Fast alle Fragen, die Leser in „Vom Mut, sich nicht zu verbiegen" und „Vom Mut, glücklich zu sein" haben, werden von dem „jungen Mann" gestellt. Und so reagiert ein „Philosoph" ruhig, wie ein Gentleman und manchmal auch streng auf die Fragen und Gegenargumente des „jungen Mannes". Und so wie der „junge Mann" am Ende der Geschichte Adlers Gedanken akzeptiert, so werden wahrscheinlich auch die Leser Adlers Gedanken akzeptieren. Ohne das Dialogformat könnten diese beiden Bücher nicht existieren.

Die dialogische Begegnung ist nicht nur eine philosophische. Sie ist auch eine Säule der Psychoanalyse. Wie würden Sie die komplexen Beziehungen zwischen der Psychoanalyse und der Philosophie beleuchten?

Ichiro Kishimi: Obwohl ich glaube, dass Adlers Psychologie nicht in die Kategorie der Psychoanalyse eingeordnet werden kann, ist es offensichtlich, dass das Sokrates‘ Gespräche mit den jungen Menschen, denen er im alten Athen begegnet, viel mit der Beratung, wie Adler sie unterstützt, gemeinsam haben. Sokrates und Adler begegneten allem, was ihre Gesprächspartner ihnen erzählten, frei von Vorurteilen oder Bewertungen.

Die Philosophie des Buches basiert auf den Ideen von Alfred Adler, der hierzulande relativ unbekannt ist. Warum ist Adler in Vergessenheit geraten? Vor allem angesichts der Tatsache, dass die Werke von Dale Carnegie so beliebt sind ...

Ichiro Kishimi: Ich denke, es hängt mit Adlers Umzug von Wien nach New York zusammen. Trotzdem wäre es falsch zu behaupten, dass seine Ideen mit dem Ableben ihres Begründers vollständig verschwunden sind. Viele von Adlers Gedanken sind Teil des heutigen gesunden Menschenverstandes.

In Deutschland sind Ihre Bücher ein großer Erfolg. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Ihr Buch die Menschen hierzulande so stark beeinflusst?

Ichiro Kishimi: Leider weiß ich nicht genau, warum das so ist. Bernard Grasset sagt, Genie sei die Fähigkeit, „eine neue Offensichtlichkeit“ zu schaffen. Ein Genie ist jemand, der die Fähigkeit hat, etwas zu entdecken und zu formulieren, das immer da war, das aber niemand bemerkt hat. Um aus dem Buch „The Discovery of the Unconscious“ von Henri Ellenberger zu zitieren: „Sobald das Genie es formuliert, scheint eine Sache so offensichtlich zu sein, dass sie sich schnell an das Allgemeinwissen anpasst und man vergisst, dass sie neu entdeckt wurde."

Wie werden Ihre Bücher in Ihrem Heimatland Japan wahrgenommen?

Ichiro Kishimi: Viele Leute, die unsere Bücher gelesen haben, sagen mir, dass sich ihr Leben komplett verändert hat, weil sie keine Angst mehr davor haben, nicht gemocht zu werden. Unsere Bücher werden auch oft weiterempfohlen. Das ist sicher einer der Gründe, warum sie in Japan Bestseller geworden sind.

Wie war Ihr Prozess der Arbeit an dem Buch? War es tatsächlich eine Frage-Antwort-Situation?

Fumitake Koga: Über viele Jahre hinweg besuchte ich Kishimi bei sich zu Hause und führte mit ihm viele Diskussionen. Ich stellte viele Fragen, brachte Gegenargumente vor und weigerte mich beharrlich, Zugeständnisse zu machen. Es war nicht so, dass die in diesem Buch beschriebenen Ereignisse auch genau so stattfanden. Beim Schreiben erinnerte ich mich jedoch immer wieder an die hitzigen Diskussionen, die ich mit Kishimi geführt hatte, und versuchte, diese „Leidenschaftlichkeit" einzufangen.

Letzte Frage: Wenn Sie in drei Sätzen zusammenfassen könnten, wie Sie den Wandel zu einem glücklichen Leben beginnen können …

Ichiro Kashimi: Erstens: Sag nicht „aber“, wenn du dich einer Aufgabe stellst. Zweitens: Lebe nicht nur im Bereich der Möglichkeit. Und drittens: Konzentriere dich vor allem auf das Hier und Jetzt.