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Interview mit Mira Ungewitter: „Gott ist Feministin“

Interview mit Mira Ungewitter: „Gott ist Feministin“

Mira Ungewitter kommt ursprünglich aus Köln und lebt seit sieben Jahren in Wien. Die 38-Jährige ist Pastorin der freikirchlichen projekt:gemeinde – eine Baptistengemeinde, die einer liberaleren Strömung zugeordnet werden kann. Neben ihrer Arbeit als Pfarrerin betreibt sie gemeinsam mit Freunden die Pop-up-Bar „Requisite“, in der Kunst- und Kulturveranstaltungen stattfinden. 2019 erschien ihr Buch „Roadtrip mit Gott: Leben ist Freiheit und jeden Tag ein Abenteuer“. Ende März 2023 wurde „Über Gott und die Welt: Begegnungen eines alten Agnostikers mit einer jungen Pastorin“ veröffentlicht.

Im Interview sprechen wir unter anderem über ihre Vorstellung einer progressiven Kirche, darüber, was sie unter Feminismus versteht – und natürlich über das Audible Original Gott ist Feministin.

Pastorin Mira Ungewitter über das Leben, Glauben und Feminismus

Schön, dass wir heute miteinander sprechen, Frau Ungewitter. Am 8. März ist Ihr Buch „Gott ist Feministin“ erschienen. Worum geht es da?

Der Titel Gott ist Feministin kam einfach so über mich. Das Buch ist eine Mischung aus Biografie und Sachbuch. Es lässt sich recht schwer in eine Kategorie pressen. Ich habe versucht, Identifikationsmöglichkeiten zu schaffen, indem ich biblische Frauengestalten und Erzählungen modern feministisch präsentiere. Ich bin nicht die Erste, die das tut – feministische Theologie gibt es schon seit Längerem. Aber sie bekommt jetzt langsam ein größeres Publikum.

In meinem Buch trifft mein eigenes Leben auf Popkultur. Ich schreibe über Britney Spears, Lady Gaga, queere Trauungen, die Abtreibung meiner Mutter. Es ist eine Mischung aus eigenem Leben, Glauben, biblischen Perspektiven – hoffentlich mit Humor und einer weltlichen Sicht. Leute, die das Buch vor der Veröffentlichung gehört haben, haben mir gesagt, dass es sie zum Lachen gebracht hat. Zum Weinen. Und zum Nachdenken.

Gott ist Feministin

Was bedeutet für Sie „Feminismus“?

Ich habe angefangen, mich selbst als Feministin zu bezeichnen, als ich Pastorin geworden bin und dann gemerkt habe, wie viel Gegenwind es in der Kirche immer noch gibt. In Österreich unterscheiden sich die Strukturen noch einmal von denen in Deutschland, in denen die protestantische Kirche als Landeskirche stärker ist und wo es akzeptiert ist, dass es Pastorinnen gibt. Österreich ist sehr katholisch. Gleichzeitig präsentiert sich auch ein Großteil der Freikirchen sehr konservativ, was vermeintlichen Rollenbilder angeht.

In den freikirchlichen Bünden in Österreich habe ich vielleicht eine bis drei Kolleginnen. Im ganzen Land schätze ich die Anzahl der Frauen im Amt auch nicht höher als 30 ein. Diese Ungerechtigkeit hat mich zu einer feministischen Perspektive geführt. Dazu kam, dass die sozialen Medien in den letzten Jahren der feministischen Bewegung Sichtbarkeit verschafft haben und eine Vernetzung möglich war. Feminismus ist für mich ein Streben nach Gleichheit. Ich schaue auf die Rechte von Frauen, möchte aber darüber hinaus auch die gleichen Bedingungen für alle Menschen schaffen.

Wie lässt sich Feminismus mit Ihrem Glauben vereinbaren?

Ich habe in Köln die Ursulinenschule, eine katholische Mädchenschule, besucht. Die katholische Kirche ist natürlich kein feministischer Vorreiter. Trotzdem hat mich diese Schulbildung enorm geprägt. Vor hunderten von Jahren haben Klosterschwestern gefordert, dass auch Mädchen Bildung erhalten müssten. So ist das Mädchenschulwesen entstanden. In meiner Schulzeit habe ich kaum geschlechterbedingte Ungerechtigkeit erlebt – oder meine zumindest, dass ich sie auf schulischer Ebene nicht wahrgenommen habe.

Das kam erst danach, als ich aus dieser kleinen, heilen Welt herausgetreten bin und mit Männern konfrontiert wurde, die mir ins Gesicht gesagt haben, dass sie nicht glauben, dass es Pastorinnen geben sollte. Die diese Aussagen untermauert haben mit Argumenten wie „Frauen sind zu emotional“. Das waren die Einschläge, die mich schockiert haben. Einfach, weil ich vorher so wenig Ungerechtigkeit erlebt habe in meinem eigenen Leben. Da wuchs in mir das Bedürfnis, mich mit Feminismus auseinanderzusetzen. In meinen Predigten und Texten konzentriere ich mich deshalb auf biblische Frauengestalten.

Zum Beispiel?

In Gott ist Feministin geht es zum Beispiel um Maria von Magdala, landläufig bekannt als Maria Magdalena. Sie müsste eigentlich als erste Apostelin gelten. Im christlichen Glauben sind Apostel diejenigen, die Christus nach der Auferstehung begegnen. Es zieht sich durch alle biblischen Texte, dass die ersten, die Jesus begegnet sind, Frauen waren. Dass man diese Tatsache komplett ignoriert und dann auch noch Maria Magdalena, eine der wichtigsten Jüngerinnen Jesu, im Mittelalter zu einer Prostituierten erklärt, macht mich wütend.

Unorthodox

Wieso finden Sie das problematisch?

Die Tatsache an sich ist nicht der Punkt. Wenn sie eine Prostituierte wäre, würde ich das feiern. Was mich stört ist, dass man einer Frau in einer Machtstellung sofort promiskuitives Verhalten unterstellt. Als ich mich vor Jahren angefangen habe, mich mit diesen Frauengestalten zu befassen, habe ich sowohl für meine Vorstellungen von Feminismus als auch für meinen Glauben „mehr Stoff“ gefunden.

Sie setzen sich für eine liberale und progressive Kirche ein. Was macht Ihrer Ansicht nach eine progressive Kirche aus?

Eine progressive Kirche hält nicht zwanghaft an alten Vorstellungen fest. Eine progressive Kirche versucht das reale Leben der Menschen wahrzunehmen und anzunehmen und kämpft nicht dagegen an. Sie versucht, den Glauben mit der jetzigen Welt und Wirklichkeit in Einklang zu bringen.

Wie unterscheidet sich das, was Sie in Ihrer Gemeinde predigen, von dem, was andere predigen?

Ich versuche, und das ist meine Hauptaufgabe als gläubige Person, Hilfe, Lösungen und Hoffnung anzubieten – trotz aller Umstände. Nicht zu negieren oder wegzuwischen und gleichzeitig nicht zu erstarren. Ein Hoffnungskonzept weiterzugeben. Ich habe Theologie studiert und Althebräisch und Griechisch gelernt. Das bedeutet für meine Predigten, dass ich mich intensiv und auf andere Art und Weise mit theologischen Texten auseinandersetzen kann.

Davon profitieren Menschen, die vielleicht schon einen Acht- oder Neun-Stunden-Arbeitstag hinter sich haben. Ich hoffe, dass ich es sonntags schaffe, auf gute und hoffnungsvolle Art und Weise die Botschaft alter Texte in die moderne Welt zu übertragen. Ich versuche, eine Brücke zu schlagen: Welche Probleme gab es schon damals, vor tausenden von Jahren? Was ist anders geworden? Dieser Blickwinkel und diese Haltung prägen meine Predigten.

Ist diese Art zu predigen einzigartig?

Ich habe viele Kolleginnen und Kollegen, die eine ähnliche Herangehensweise haben. Was ich nicht gut kann und auch nicht mache, sind moralistische Apelle. Ich predige keine konservative Sexualethik. Ich bin niemand, der denkt, dass es in einer komplexen Welt ausreicht, immer drei Punkte und sieben Hinweise parat zu haben „und dann wird schon irgendwie alles gut“. Ich denke, dass im Kirchen- und Gemeindeleben Wahrheit im Dialog liegt.

Menschen, und auch ich, sehnen sich nach einfachen Antworten – aber die Welt ist komplex. Und manchmal braucht es doch einfach mehr. (Mira Ungewitter)

Was denken Sie, warum sich viele Menschen heutzutage vom Glauben abwenden?

Wenden Menschen sich wirklich vom Glauben und Spiritualität oder von Kirchen ab? Natürlich gibt es viele Skandale. Und Kirchen haben aufgrund von Säkularisierung Macht und Mitglieder verloren. Dass Kirchen Macht verlieren, finde ich per se gar nicht schlimm. Ich kenne viele Kirchenmenschen, die sehnsüchtig in die Vergangenheit schauen und sagen, dass früher alles besser war. Da frage ich mich immer: „Welche Zeit meinen die denn?“.

Volle Kirchenbänke haben nicht automatisch bessere Gesellschaften produziert. Kirchen waren früher Orte, die das Sozialleben arrangiert haben. In den Kirchen saßen also nicht nur gläubige Leute. Menschen sind in die Kirche gegangen, weil sie Angst hatten, was passiert, wenn sie es nicht tun. Ich spüre ein großes Interesse und bekomme viele Fragen zu Gott, zu Glauben und zu Spiritualität. Schauen wir mal, wie es weitergeht.

Was raten sie Menschen, die sich vom Glauben abwenden? Ist es Ihrer Ansicht nach wichtig zu glauben?

Es ist sowohl schön als auch wichtig. Ich kenne Menschen, die dezidiert sagen, sie glauben nicht. Und das nicht nur aus einer Alltagslaune heraus, sondern weil sie sich aktiv für Atheismus einsetzen. Diese Leute glauben am Ende des Tages ja auch an etwas – und zwar an Atheismus. Viele setzen sich auch viel missionarischer dafür ein. Sich mit Glaubensfragen auseinanderzusetzen, mit Fragen der Religion, nach Gott und Spiritualität, nach etwas Größerem, in dem man selbst eine Rolle spielt, kann bereichernd sein.

Sie sind Baptistin. Wie wird Glauben im Baptismus normalerweise praktiziert?

Es gibt die großen Landeskirchen, zu der der Katholizismus und die Evangelischen Landeskirchen gehören. Innerhalb der großen Gruppierungen der Protestanten gibt es nochmal unterschiedliche Konfessionen, die man landesläufig als „Freikirchen“ bezeichnet. Das ist auch beim Baptismus der Fall. Grundsätzlich ist der Baptismus eine 400 Jahre alte christliche Konfession und eine der größten protestantischen Konfessionen weltweit.

Vielleicht verbinden einige Lesende den Baptismus mit den Vereinigten Staaten – und das ist durchaus korrekt. Der Baptismus ist dort sehr weit verbreitet. Viele bekannte Prominente sind oder waren Baptisten. Darunter unter anderem Johnny Cash, Britney Spears, Kamala Harris und allen voran Dr. Martin Luther King Jr.

Der Wahrheit verpflichtet

Die Landeskirchen sind sehr hierarchisch aufgebaut. Ist das auch im Baptismus der Fall?

Im Baptismus glauben wir, dass eine einzelne Kirchengemeinde theologische Schwerpunkte setzen darf. Das heißt: Wir sind nicht hierarchisch strukturiert und alle Gemeinden haben unterschiedliche Auffassungen. Zum Beispiel davon, wie man die Bibel interpretiert. Das führt zu einer großen Spannweite zwischen ultrakonservativen und progressiven Ortsgemeinden. Man spricht auch von zwei verschiedenen „Flügeln“ – dem progressiven und dem konservativen Flügel. In den USA sind extrem konservative, antifeministische baptistische Glaubensgemeinschaften zum Beispiel im Süden verbreitet.

Wie unterscheidet sich Ihre progressive Herangehensweise an den Glauben von der ultrakonservativer Baptisten?

Es gibt sehr viele Unterschiede, aber zwei große. Erstens interpretieren konservativere Flügel die Bibel sehr wörtlich. Sehr oft scheitern sie daran jedoch selbst, weil das nicht möglich ist. Die Strömung, aus der ich komme, sagt, dass man die Bibel entweder „wörtlich“ oder aber „ernst“ nehmen kann. Zweitens unterscheidet sich auch die Art, wie man mit Texten umgeht. Progressive Strömungen akzeptieren, dass Schriften in der Bibel unterschiedlich sind. Es ist kein Buch, das „in einem Guss“ geschrieben wurde, sondern besteht aus ganz unterschiedlichen Texten – auch etwas, das ich in Gott ist Feministin thematisiere.

Die Bandbreite reicht von poetischen Texten, Gleichnissen und Parabeln über Chroniken, bis hin zu historischen Inhalten. Der progressive Zweig des Protestantismus versucht, die Bibel historisch-kritisch auszulegen. „Kritisch“ bedeutet in dem Fall nicht, einen Text zu kritisieren, sondern ihn zu hinterfragen: Wann, wo und von wem wurde er geschrieben? Welche Aussagen sind in dem Text heute noch relevant? Oft stößt man in der Bibel auf Texte, die einen erst einmal zurückschrecken lassen, weil sie sich altbacken anhören. Wenn man sie im historischen Kontext ihres Entstehens vor 2.000 Jahren betrachtet, wird oft klar: „Dieser Gedanke war ein erster Schritt hin zu einer egalitären Denkweise“, oder ähnliches.

„Man kann die Bibel entweder „wörtlich“ oder aber „ernst“ nehmen.“ (Mira Ungewitter)

Sie verorten sich selbst im progressiven Flügel des baptistischen Glaubens. Warum haben Sie sich dazu entschieden, Ihren Glauben so zu leben, wie Sie es tun?

Nach dem Abitur war ich auf einem Ärzteschiff mit großer christlicher Trägerschaft. Es waren auch viele Leute aus den Vereinigten Staaten auf dem Schiff. Manchmal frage ich mich: Was wäre passiert, wenn ich mich da in einen sehr konservativen Amerikaner verliebt hätte und mit ihm in die USA gegangen wäre? Wäre mein freiheitsliebendes Gedankengut ein Problem gewesen?

Klar ist: In mir gab es schon immer diese innere, biografisch bedingte Spannung. Meine Mutter war sehr gläubig und mein Vater Agnostiker. Auf der einen Seite gab es die Frömmigkeit und den Glauben. Auf der anderen Seite einen Vater, der die Dinge ganz anders sieht. Aber auch Schnittpunkte zwischen den beiden Positionen. Dieses Hinterfragen, dieses Anzweifeln von Autoritäten war immer Teil meines Wesens.

The Autobiography of Martin Luther King, Jr.

Sie haben an der Universität Bonn Theologie studiert. Hat Ihre universitäre Bildung den Weg beeinflusst, für den sie sich entschieden haben?

Viele biografische Punkte haben meinen Weg beeinflusst, auch das Studium. Die universitäre Theologie ist eine Geisteswissenschaft, die von ganz unterschiedlichem Gedankengut beeinflusst wird. Viele sehr fromme Leute, die an die Uni gehen, erleben erst einmal einen Schockmoment, weil alles, was sie dachten zu glauben, in diesem Umfeld hinterfragt wird. In diesem Umfeld zu sein, war für mich sehr wichtig. Mein Glaube ist dadurch nicht angefochten worden, sondern in eine größere Wohnung gezogen. Mein Denken konnte durch die universitäre Theologie Glauben und Verstand noch enger zusammenbinden.

Wie war Ihre Zusammenarbeit mit Audible?

Sehr gut. Das Projekt sollte eigentlich schon früher starten. Von meiner Seite aus ist etwas Zeit vergangen, bis ich eine passende Lektorin gefunden habe. Auch war mein Beruf in den letzten anderthalb bis zwei Jahren sehr herausfordernd. Dazu kamen noch einige private Rückschläge. Deshalb war ich sehr dankbar für die Geduld und die Zugewandtheit und dass ich die Möglichkeit hatte, das Projekt noch einmal etwas nach hinten zu schieben.

Zwischendurch hatte ich Angst, dass ich eine Mail bekomme: „Wir haben eine Kollegin gefunden, zu der das Projekt besser passt – tut uns leid, Mira!“. Aber das waren meine eigenen Ängste, die nichts mit der Realität zu tun hatten. Ich fand auch schön, dass ich meine eigenen Ideen bezüglich Sprechern einbringen und zum Beispiel meine Freundin, Schauspielerin, Comedian und Synchronsprecherin Viktoria Klimmeck, Künstlername Viktoriablau, vorschlagen konnte.

Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg weiterhin, Frau Ungewitter!

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