In den letzten Tagen des Jahres 1999 saßen fünf jungen Männer im noblen Berliner Hotel Adlon beisammen. Drei davon waren die damals wenig bekannten Autoren Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht und Eckhart Nickel. Die anderen beiden waren der Gesellschaftsreporter Alexander von Schönburg und der Kolumnist Joachim Bessing. Man trug feinen Zwirn, schlürfte Champagner und schwadronierte über Stil, Musik und Langeweile. Ihre teils unterhaltsame, teils provozierend belanglose Konversation veröffentlichte das selbsternannte „popkulturelle Quintett“ anschließend unter dem Titel „Tristesse Royale“ im Ullstein Verlag. Es sollte ein „Sittenbild“ ihrer Generation sein.
Das provokant ausgestellte Dandytum der „faselnden Fünf“ ging dem etablierten Feuilleton gehörig auf die Nerven. Das war wohl auch der Sinn der Sache. „Das Gewicht der Welt verdunstet im angestrengten Insider-Jargon, und übrig bleibt die pure Oberfläche der Warenwelt“, schimpften Henryk M. Broder und Reinhard Mohr im Magazin „Der SPIEGEL“.
Aus heutiger Warte muss man die fünf Autoren für ihre geschickte Selbstinszenierung bewundern. Die Zusammenkunft im Adlon wurde zum Gründungsmythos der Popliteratur. Mochten die Kritiker ruhig meckern, die Bücher der Popliteraten verkauften sich wie geschnitten Brot. Lesungen waren plötzlich hip. Besonders von Stuckrad-Barre wurde wie ein Rockstar gefeiert. Und genauso benahm er sich auch.
Sein Buch Soloalbum, das kurz zuvor erschienen war, wird heute als Paradebeispiel für die deutsche Popliteratur der Neunzigerjahre angeführt. Ein Ich-Erzähler Anfang Zwanzig trauert darin seiner Ex hinterher. Selbstironisch bis -mitleidig ergeht er sich in Betrachtungen der Liebe und seines ereignisarmen Lebens. Dabei streut der Autor Songtitel und Werbezitate ein; ein Verfahren, das als „Sampling“ bezeichnet wurde. Wortgewandt – und oft derbe – urteilt der Erzähler dabei über seine Zeitgenossen und popkulturelle Phänomene. Die Handlung? Spielte kaum eine Rolle.
Unter der Oberfläche aus Zynismus und Lifestyle-Fixierung gähnte ein Abgrund, in den von Stuckrad-Barre im realen Leben mit Anlauf hineinstürzte. Er kokste und soff, litt unter Realitätsverlust und Depressionen. Genussvoll schlachteten die Medien seinen Absturz aus. Wie sehr er an sich selbst und seiner nur scheinbaren Coolness litt, hat der Autor Jahre später in seiner schonungslosen Autobiographie Panikherz aufgeschrieben.
Präziser noch als Stuckrad-Barre fing der Schweizer Christian Kracht das Lebensgefühl der Neunzigerjahre in seinem Debüt „Faserland“ ein. Auf der Suche nach Sinn reist darin ein namenloser Ich-Erzähler von Sylt nach Zürich, von einer dekadenten Party zur nächsten. Das Buch endet mitten im Satz mit einer Szene, die als Suizid des Erzählers interpretiert wurde.
Der Roman wurde nach anfänglichen Verrissen als „Startschuss für einen literarischen Modernisierungsschub, den man Pop nannte“ (so der Literaturkritiker Richard Kämmerling) begriffen. Zum Label „Pop“ hatte der Autor selbst ein mindestens ambivalentes Verhältnis. Es ging Kracht eben nicht um Lifestyle, Musik und Marken. Unter der lustig-bunten Oberfläche verzweifelte in „Faserland“ ein Mensch an einer schnelllebigen, sinnentleerten und abgestumpften Welt.
Krachts 2021 erschienener Roman Eurotrash knüpft dort an, wo „Faserland“ 25 Jahre zuvor endete. Derselbe Erzähler schildert den letzten Roadtrip mit seiner tablettensüchtigen, psychisch kranken und dementen Mutter. Dabei kommen Erinnerungen an Missbrauch und Erniedrigung ebenso zur Sprache wie die Verbrechen des Nazi-Großvaters. Wieder steht der materielle Luxus im krassen Kontrast zur seelischen Verwahrlosung der Protagonisten. Dabei vermischt der Erzähler Fakten und Fiktionen derart geschickt, dass sich dazwischen unmöglich eine Grenze ziehen lässt.
2001: Das Ende vom Ende der Geschichte
Keiner der Rezensenten bezeichnete „Eurotrash“ noch als Popliteratur. Die war ein kurzlebiges Phänomen, das sich mit den Anschlägen aufs World Trade Center vom 11. September 2001 überholt hatte – darin waren sich die meisten einig. Die Geschichte hatte bewiesen, dass sie keineswegs an ihr Ende gelangt war, wie es Francis Fukuyamas in seiner Zeitanalyse „The End of History and the Last Man” geschrieben hatte. Statt in einem postideologischen, postpolitischen Zeitalter sahen sich die saturierten Bundesbürger plötzlich mit islamistischem Terror, Krieg und Krisen konfrontiert.
Die sprachlichen Verfahren jedoch, die typisch für die Popliteratur sind – der flapsig-ironische Ton, die gelangweilten Posen, das Sampling von Musikzitaten, der starke Gegenwartsbezug – finden sich auch noch in späteren Werken. Wir kommen, das vielbeachtete Debüt der Journalistin und Moderatorin Ronja von Rönne, wurde 15 Jahre nach Nine Eleven veröffentlicht, ähnelt aber in vielerlei Hinsicht den Popromanen der Neunzigerjahre.
Was ist Popliteratur?
Der Begriff Popliteratur bezeichnet Romane, die ab Mitte der Neunzigerjahre in Deutschland erschienen. In einer jugendlichen, alltagsnahen Sprache bildeten sie die Lebenswirklichkeit der damals 20- bis 30-Jährigen ab. Im Poproman berichtet häufig ein Ich-Erzähler im Präsens. Typische Themen sind Drogenkonsum, Partys und (gescheiterte) Beziehungen, Einsamkeit und Oberflächlichkeit. Die Erzähler pflegen einen hedonistischen Lebensstil und leiden an einem diffusen Gefühl von Leere, Langeweile und Übersättigung.
In Deutschland wurden vor allem Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht, Elke Naters, Alexa Hennig von Lange, Feridun Zaimoglu und Benjamin Lebert als Popliteraten bezeichnet. Literaturwissenschaftler rechneten außerdem Judith Hermann, Thomas Brussig, Sibylle Berg, Andreas Mand, Takis Würger sowie Rainald Goetz, Andreas Neumeister und Thomas Meinecke der Popliteratur zu. Der Brite Nick Hornby gilt als wichtigster internationaler Vertreter.
Die Romane der Beatniks werden oft als stilistische Vorläufer der deutschen Popliteratur genannt. Sie erschienen Ende der Fünfzigerjahre in Amerika. Dazu gehören „On The Road“ von Jack Kerouac und „Naked Lunch“ von William S. Burroughs. Etwa zehn Jahre später verhalfen die beiden Schriftsteller und Herausgeber Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla den amerikanischen Popliteraten in Deutschland zu größerer Bekanntheit. Damit provozierten sie die Literaturszene, die seit der Nachkriegszeit von der Gruppe 47 um Günther Grass, Martin Walser, und Peter Handke dominiert wurde.
Heute gilt die Popliteratur als Phänomen der Neunzigerjahre. Mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 begann eine neue Zeit der politischen Krisen, die eine blasiert-gelangweilte Haltung der Welt gegenüber unmöglich machte. In der Rückschau erscheint der Poproman als rührend-naives Zeugnis einer weitestgehend sorglosen, unschuldigen Zeit.
Wenn doch nur etwas passieren würde, hofften die Meisten. Und sehnten sich nach der Jahrtausendwende. So lange nur nicht auffallen, sitzen und rauchen, die Neunzigerjahre waren das Jahrzehnt der Angstfreiheit.
Sybille Berg: Als die Leute noch Leute waren
Deutsche Popromane aus den Neunzigerjahren
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