Im November ist es 35 Jahre her, dass der Fall der Berliner Mauer das Ende des Kalten Krieges einläutete, und am 3. Oktober wird zum 34. Mal der „Tag der deutschen Einheit“ begangen. Aber gibt es die viel beschworene Einheit überhaupt? Aktuelle Debatten in Politik und Medien lassen anderes vermuten. Die nähere Betrachtung der Literatur aus und über Ostdeutschland ebenfalls.
Auf dem Buchmarkt wird derzeit ein zunehmendes Bedürfnis nach differenzierten Betrachtungen ostdeutscher Identität abseits von Stasi-, Flucht- und Widerstands-Narrativen laut. Nicht ohne Grund erfahren neue Erzählungen über die DDR gerade großen Zuspruch – allen voran Dirk Oschmanns Sachbuch-Bestseller Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. Oschmann gehört zu den Schreibenden der sogenannten Wendegeneration, also zu denjenigen, die noch in der DDR erwachsen geworden sind und den Mauerfall bewusst miterlebt haben.
Reife Stimmen aus dem Osten: Wichtige Bücher der Wendegeneration
Dass die Autorinnen und Autoren der Wendegeneration die einschneidenden Erfahrungen der deutschen Teilungsgeschichte verarbeiten, ist folgerichtig. Aber wie ist es mit jungen Leuten, die die DDR nur noch als kleine Kinder oder gar nicht mehr erlebt haben? Könnte denen das Ost-West-Thema nicht inzwischen egal sein? Das Gegenteil ist der Fall. Junge Schreibende aus Ostdeutschland setzen sich intensiv mit dem Erbe und den Nachwirkungen der DDR auseinander – mal assoziativ, mal investigativ, vor allem aber kreativ. Dadurch eröffnen sie neue Perspektiven und Diskussionsräume. Tauche ein in die Vielfalt junger Stimmen aus Ostdeutschland und lerne ihre Themen kennen.
Autor | Titel | Dauer | Bewertung |
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Ruth-Maria Thomas: Die schönste Version
Spätestens seit Die schönste Version im August auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis landete, ist Ruth-Maria Thomas‘ Einstieg als Romanschriftstellerin perfekt. Die BookTok-Community liebt die Autorin ohnehin schon, das Feuilleton ebenfalls. Thomas wurde 1993 geboren, wuchs in Cottbus auf und studierte am Literaturinstitut Leipzig. Ihre Arbeit als Autorin ist wesentlich beeinflusst von ihrem persönlichen Erleben des Frau-Seins in einer von Männern dominierten Gesellschaft. So schuf sie unter anderem den vielbeachteten SWR-Essay „toxic – Über häusliche Gewalt und verletzende Beziehungen“. Dieses Thema vertieft Thomas in Die schönste Version, indem sie es auf die Gesellschaftsstruktur einer ostdeutschen Kleinstadt anwendet und die Gewalt zu ihren Wurzeln zurückverfolgt.
Was es mit dem Titel auf sich hat, erfahren wir schon im Prolog. Der schildert einen flirrend erotischen Sommerabend, bei dem Ich-Erzählerin Jella und ihr Freund Yannick sich im silbernen Mondlicht einer Urlaubsnacht der Lust aufeinander hingeben. Es ist das perfekte Glück. Aber schon in diesem Moment denkt Jella: „Später, in der Erinnerung wird es noch schöner, noch silberfarbener sein als jetzt.“ Weil Erinnerungen rückblickend ja fast alles in der „schönsten Version“ erscheinen lassen.
Nach dem Prolog folgt ein Zeitsprung nach vorne und der harte Bruch. Der eigentliche Roman ist das schockierende Protokoll einer Gewaltbeziehung. Ausgehend von dem Moment, in dem Jella grün und blau geprügelt auf eine Polizeiwache flüchtet und Yannick wegen häuslicher Gewalt anzeigt, vollzieht sie Stück für Stück nach, wie es zu alledem kommen konnte. Dabei fällt ihr auf, dass Gewalt schon immer gegenwärtig war in ihrem Alltag und in der Kleinstadt am Rand des Tagebaugebiets, in der sie aufgewachsen ist. So erkennt Jella, dass die Gewalt eine Tradition hat, die auch die schönen Versionen ihrer Erinnerungen nicht wegdrängen können.
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Lukas Rietzschel: Mit der Faust in die Welt schlagen
Der 1994 im sächsischen Räckwitz geborene Autor Lukas Rietzschel wird in der Presse oft als „Osterklärer“ gehandelt. Gegen diese Zuschreibung wehrt er sich nicht, denn Rietzschel sieht die Tatsache, dass er die DDR nicht mehr selbst erlebt hat, als Chance. Während seine Eltern und Großeltern sich bei Ost-West-Debatten immer an ihrer eigenen Vergangenheit messen lassen müssten, könne er „befreiter“ über Deutschlands Osten reden, urteilen und schreiben, sagte er im Interview mit MDR Kultur. Das tut er, indem er Geschichten über seine sächsische Heimat vorlegt, die die DDR-Vergangenheit der Vorwende-Generationen als lebendigen Bestandteil des Alltags miterzählt.
Rietzschels Debütroman Mit der Faust in die Welt schlagen erschien 2018 und spielt Anfang der 2000er im ostsächsischen Neschwitz. Er erzählt die Radikalisierungsgeschichte der Brüder Tobi und Philipp. Das Erwachsenwerden der beiden ist von der Trennung der Eltern, dem Tod des geliebten Großvaters und einer wachsenden Perspektivlosigkeit des Umfelds überschattet. Da scheint die Kumpanei mit dem Neonazi Uwe Wenzel zunächst Halt zu versprechen. Sie ist aber auch der Beginn eines immer fataler werdenden Strudels aus Hass und Gewalt.
Die FAZ schrieb über Mit der Faust in die Welt schlagen, es sei der „Ost-Roman des Moments“. Auch Rietzschels 2021 erschienenes zweites Buch Raumfahrer spielt in Sachsen. Darin reflektiert er die deutsch-deutsche Geschichte unter anderem am Beispiel der Familienbiografie des Malers Georg Baselitz.
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Paula Irmschler: Superbusen
Paula Irmschler kam im Jahr des Mauerfalls in Dresden zur Welt und fing an zu schreiben, während sie in Chemnitz Politikwissenschaften studierte. Auf erste Erfolge als Kolumnistin, Journalistin und Podcasterin folgte 2020 das literarische Debüt Superbusen – eigentlich eher ein Literatur-gewordenes Lebensgefühl als ein herkömmlicher Roman. Vollgestopft mit lustigen Alltagsbeobachtungen und popkulturellen Referenzen erzählt Irmschler, wie Protagonistin Gisela in Chemnitz mit ihren drei Freundinnen die Zeitgeist-Punk-Band Superbusen gründet. Zwischen Demos, Partys und Konzerten lernt sie dann quasi zufällig die Weltsicht ihrer Eltern verstehen, die sie am Anfang des Buches so beschreibt: „Das sagen Eltern ständig. Es gibt nur ‚zu DDR-Zeiten‘ und ‚nach der Wende‘, und dann wird gnadenlos rausgepfeffert, was gut war und jetzt schlecht ist oder andersrum.“
Als Hörbuch macht Superbusen doppelt Spaß, weil der Schwung von Hörbuch-Königin Anna Thalbach dem ohnehin rasanten Text eine Extraportion Energie einhaucht. Paula Irmschler hat derweil im Frühjahr mit Alles immer wegen damals ihren zweiten Roman vorgelegt. Dort dienen die Konflikte zwischen Wendegeneration und dritter Generation Ost als Grundlage für eine liebenswerte Mutter-Tochter-Story – ein Lesevergnügen, bei dem Melancholie und Komik Hand in Hand gehen. Dieses Buch ist bislang allerdings noch nicht als Hörbuch erschienen.
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Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück
Als 2023 mit Die Möglichkeit von Glück Anne Rabes erster Roman erschien, war die 1986 in Wismar geborene Schriftstellerin bereits als Theaterautorin, Lyrikerin und Essayistin etabliert. Der Roman katapultierte sie schlagartig in die erste Reihe der jungen Literaturszene und brachte ihr unter anderem Nominierungen für den Deutschen Buchpreis und den „aspekte“-Literaturpreis ein. In Die Möglichkeit von Glück seziert Rabe mit einer Mischung aus innerem Dialog, akribischer Recherche und Erinnerungs-Kraftakt die Geschichte einer Familie, die so tief in der gewaltvollen deutschen Vergangenheit wurzelt, dass diese in der Gegenwart neue Blüten treibt.
So fragend und distanziert die Sprache dieses teils essayistisch angelegten Romans ist, so sehr geht Die Möglichkeit von Glück ans Eingemachte. Die Recherche von Ich-Erzählerin Stine bringt nicht nur unrühmliche Verstrickungen mit der DDR-Vergangenheit zum Vorschein, sondern gräbt weiter bis in die Nazizeit. Und dann sind da noch die Erinnerungen an die Gewalt, die Stine selbst durch ihre Mutter erleiden musste. Ein aufwühlendes Buch, das gleichermaßen den DDR-Alltag und die politischen Verwerfungen der bundesdeutschen Gegenwart greifbar macht.
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Aron Boks: Nackt in die DDR
Aron Boks machte sich als Slam-Poet, taz-Kolumnist und Autor eigenwilliger Romane wie Dieses Zimmer ist bereits besetzt und Miese Zeiten einen Namen. Eine Auseinandersetzung mit seiner ostdeutschen Identität war dabei maximal Nebensache. Aron ist zwar in Sachsen-Anhalt geboren und aufgewachsen, kam aber erst 1994 zur Welt und schreibt selbst: „dieses Ostdeutschland und DDR-Ding [ist] zwar irgendwie Teil meiner Familie, aber eben: kein Thema“. Das änderte sich, als Aron mit den Recherchen für ein Projekt anfing, aus dem dieses Buch hervorging, dessen Titel für sich spricht: Nackt in die DDR – Mein Urgroßonkel Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat.
Wir sitzen quasi mit am Tisch, wenn Aron Boks‘ Großmutter eines kalten Wintertags ein altmeisterlich anmutendes Gemälde anschleppt und erzählt, das hätte ihr Onkel Willi gemalt. Willi wer? Willi Sitte. Den Namen werden einige kennen. Sitte (1921-2013) war einer der einflussreichsten Künstler der DDR und wird auch als deren „Staatsmaler“ gehandelt. Für Aron war der Urgroßonkel bis zu besagtem Großmutterbesuch ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Das wollte er ändern. Er klapperte Sittes Wirkungsstätten ab, las Tagebücher, stellte Fragen.
Die Erkenntnisprozesse, die mit Boks’ Recherche einhergingen, protokolliert er in diesem Buch. Nackt in die DDR schreibt nicht nur die Geschichte seines Urgroßonkels und seiner Familie neu, sondern zeichnet auch ein Porträt des Kulturbetriebs der DDR. Nebenbei widerlegt Aron Boks ohne Groll, dafür in konsequent nahbarem Tonfall ein Missverständnis, dem er selbst in den ersten 25 Jahren seines Lebens verfallen war: „Wir sind glückliche Einheitsdeutsche“.
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Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe
Judith Schalansky wurde 1980 geboren und wuchs in einer Kleinstadt nahe Greifwald auf. Einige Erinnerungan an ihre frühen Jahre in der DDR verarbeitete sie in ihrem 2008 erschienenen Romandebüt Blau steht dir nicht. Der Durchbruch gelang Schalansky aber erst mit ihrem zweiten Roman Der Hals der Giraffe, der 2011 unter anderem für den Deutschen Buchpreis nominiert war. In dem ironisch als „Bildungsroman“ untertitelten Text erzählt die Autorin die gegenwärtige Geschichte der Mittfünfzigerin Inge Lohmark. Diese arbeitet als Biologielehrerin im vorpommerschen Hinterland und verheddert sich im Laufe des Romans in den Fallstricken ihres radikal darwinistischen Weltbilds.
Spiegel Kultur schrieb über Der Hals der Giraffe, es sei der „erste in Ostdeutschland spielende Roman, der fast völlig ohne die üblichen [...] DDR-Versatzstücke auskommt.“ Und tatsächlich wird die DDR-Vergangenheit der Protagonistin zwar in Rückblenden thematisiert, ist aber frei von gängigen Stasi- und Ostalgie-Narrativen. Was nichts daran ändert, dass die Sozialisierung in der DDR und die epochalen Veränderungen nach der Wende wesentlich zur gnadenlosen Sachlichkeit der Frau Lohmark beitragen. Zu hören, wie ihre versteinerten Ansichten nach und nach in sich zusammenfallen, ist berührend, komisch und befreiend – auch dank der kongenialen Interpretation von Sprecherin Dagmar Manzel.
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Hendrik Bolz: Nullerjahre
Bekanntheit erlangte Hendrik Bolz als Rapper. Unter dem ironischen Pseudonym „Testo“ bildet er eine Hälfte des Berliner Hip-Hop-Duos „Zugezogen Maskulin“, dessen sarkastische Kritik an Chauvinismus, Rassismus und Homophobie in der Rapszene zeitweise nicht nur deren Anhänger auf die Palme bringen. Wo Bolz‘ Sicht der Dinge herkommt, erzählt er in seiner Autobiografie Nullerjahre. Geboren 1988 in Leipzig und aufgewachsen in der Stralsunder Plattenbausiedlung Knieper West erlebt der Ich-Erzähler seine Jugend als ständigen Kampf im Zeichen brutaler Rituale toxischer Männlichkeit. Um da nicht unter die Räder zu kommen, helfen nur Freunde, Drogen und eine ordentliche Portion Galgenhumor.
Nullerjahre ist ein hartes, aber authentisches Stück autobiografischer Literatur, das als Hörbuch nicht zuletzt deshalb an Glaubwürdigkeit gewinnt, weil der Autor es selbst eingelesen hat. Die Ambivalenz des Texts bringt eine Triggerwarnung auf den Punkt, die Bolz seiner Lesung vorausschickt: „Dieses Buch berichtet aus einer Welt, von der man schwer erzählen kann, ohne den Rassismus, den Antisemitismus, die Misogynie, die Homophobie und die Gewalt sprachlich zu reproduzieren, die in ihr zentrale Ordnungsprinzipien waren.“
In einem Verlags-Interview zum Erscheinen des Buches charakterisierte Bolz Nullerjahre aber auch als wichtigen Beitrag über unterbelichtete Aspekte der Spätfolgen der Wende. So gebe der Text einen guten Einblick in ostdeutsche Befindlichkeiten und könne viele Dinge, die heute in Ostdeutschland passieren, miterklären.
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Matthias Jügler: Maifliegenzeit
Der 1984 in Halle/Saale geborene Matthias Jügler hat sich mit seinen letzten beiden Romanen als Spezialist für die dunklen Geheimnisse des DDR-Alltags positioniert. Ging es in Die Verlassenen darum, wie von der SED verantwortete Verbrechen sich auf spätere Generationen auswirken, thematisiert der aktuelle Roman Maifliegenzeit die Vortäuschung von Säuglingstoden im Auftrag der DDR-Regierung. Im April sorgte das Buch für einen kleinen Skandal, weil Jügler eine Lesung in Leipzig absagte, nachdem deren Veranstalter von ihm authentische Belege für die institutionalisierten Täuschungen forderte. Später erzählte Jügler, dass er entsprechende Fälle in Abstimmung mit der Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR recherchiert habe.
„Wo die Ungewissheit endet, beginnt das Träumen.“ Dieser Satz hängt wie eine obskure Prophezeiung über Jüglers Erzählung, um an deren Ende eine gleichermaßen verstörende wie befreiende Folgerichtigkeit zu bekommen. Vierzig Jahre nachdem Hans‘ erster Sohn Daniel zu DDR-Zeiten kurz nach der Geburt gestorben sein soll, bekommt Hans einen Anruf. Von Daniel. Als Vater und Sohn einander zum ersten Mal begegnen, treffen zwei Menschen aufeinander, deren Schicksale über Jahrzehnte von zwei sehr unterschiedlichen Lügen gezeichnet waren. Bei der zaghaften, von Misstrauen und Unglauben begleiteten Annäherung an die Wahrheit tun sich für beide Männer Abgründe auf, deren Schrecken nur die Flucht in die Natur lindern kann.
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Charlotte Gneuß: Gittersee
Ob Charlotte Gneuß als junge Stimme aus dem Osten durchgeht? Darüber wurde im letzten Jahr viel diskutiert, aber wir finden schon. Und sei es ehrenhalber. Gneuß‘ Eltern verließen die DDR kurz vor dem Mauerfall und zogen nach Ludwigsburg, wo Charlotte 1992 zur Welt kam und aufwuchs. Für ihre Ausbildung als Buchbinderin zog sie zurück nach Dresden, woher ihre Familie stammt. Danach studierte sie am Literaturinstitut Leipzig, heute lebt sie in Berlin. Ihr Debütroman Gittersee ist das Resultat einer intensiven Auseinandersetzung mit der Herkunft ihrer Familie und eine Zeitreise in die DDR der Siebzigerjahre. Ort der Handlung ist der titelgebende Dresdner Stadtteil Gittersee. Dort muss Ich-Erzählerin Karin damit klarkommen, dass erst ihr geliebter Freund Paul in den Westen abhaut, und dann der Stasi-Beamte Wickwalz ihr Avancen macht.
Nach dem Erscheinen im Spätsommer 2023 löste Gittersee einen Literaturskandal aus, weil Altmeister Ingo Schulze (Jahrgang 1962) für das Buch eine „Mängelliste“ erstellte, in der er historische Ungenauigkeiten in Wortwahl und Figurenzeichnung ankreidete. Nachdem die Öffentlichkeit Wind von der Liste bekommen hatte, folgte eine fragwürdige Debatte um kulturelle Aneignung und die Frage, ob Gneuß mit ihrer West-Sozialisation überhaupt das Recht habe, eine DDR-Geschichte zu erzählen. Das identitätspolitische Getöse änderte aber nichts daran, dass die Kritik Gittersee fast einhellig lobte. Eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis und die Auszeichnung mit dem „aspekte“-Literaturpreis sprechen für sich.
Letztendlich erzählt Gittersee eine universelle Coming-of-Age-Story mit krimihaften Elementen. Aus Liebe und Verunsicherung lässt sich die 16-jährige Karin von der Stasi einspannen und wird infolgedessen auf die harte Tour erwachsen – private und politische Fehltritte inklusive. Doch der Roman schwingt nie die Moralkeule. Vielmehr verhandelt er die große Frage nach der Vereinbarkeit von Unschuld und deutscher Identität im Rahmen einer Erzählung über jugendliche Sehnsucht, Liebe und Freundschaft. Die Brillanz des Textes zweifelte auch Ingo Schulze nicht an. Er soll die literarische Qualität von Gittersee im Zuge der Übermittlung seiner „Mängelliste“ sogar ausdrücklich gelobt haben.
„Gittersee“ in bester Gesellschaft: Check die komplette Longlist für den Buchpreis 2023
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