Ein Paar verschwindet auf eine kleine Insel. Eine junge Frau liegt im Krankenhaus und schreibt einen Brief. Ein Mann steigt in einen ausgetrockneten Brunnen, um dort über sein Leben nachzudenken.
Viel mehr passiert erstmal nicht – und doch lauscht man wie gebannt der merkwürdig-unspektakulären Geschichte, die sich nun entwickelt. Weltweit verfallen Leser und Hörer der fast hypnotischen Wirkung japanischer Romane: Obwohl wenig passiert, zieht die Erzählung sie völlig in den Bann.
Die Japanologin Elena Giannoulis, Professorin an der Freien Universität Berlin, entdeckte als 15-Jährige die japanische Literatur für sich. Das Werk „Kokoro“ von Natsume Soseki öffnete für sie ein Fenster in eine fremde und doch seltsam vertraute Welt. „Dieser Roman wirkte stimmungsvoll und zeitlos auf mich“, erinnert sie sich. „Es ging um den Versuch, trotz schmerzhafter Erinnerungen das Leben zu meistern. Das hat mir sehr gefallen. Diese Dichte, Bildhaftigkeit und geheimnisvolle Atmosphäre, die sich ohne viel Handlung entwickelt, kannte ich aus der westlichen Literatur nicht.“
Oft geht es in der japanischen Literatur um intime Beziehungen, wobei häufig aus der Ich-Perspektive erzählt wird. Etwa in Junichiro Tanizakis erotischem Meisterwerk „Der Schlüssel“, welches mittlerweile als moderner Klassiker gilt und vor kurzem neu übersetzt wurde. „Die Konzentration auf das Psychogramm dieser Hauptfigur und das subtile Beziehungsgeflecht zu seinem Umfeld macht diese Erzählung so intensiv“, findet Professorin Giannoulis.
Auch die melancholische Atmosphäre haben viele gegenwärtige japanische Romane gemeinsam. „Japanische Autoren wählen für ihre Geschichten oft von der Alltagsrealität abgekoppelte und nostalgische Orte – Antiquariate, Bibliotheken, einsame Inseln. Es sind Orte, an denen sich ein Individuum unabhängig von gesellschaftlichen Zwängen und Normvorstellungen entfalten kann.“
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Dorthin flüchten die Protagonisten vor den Anforderungen des Lebens. Und auch wir, Leser oder Zuhörer, finden im japanischen Roman einen Zufluchtsort vor den Zumutungen unseres Lebens. Etwa in den Geschichten von Yoko Ogawa: „An düster-geheimnisvollen Orten – mal ein Schwimmbad, mal ein altes Wohnheim – entwickelt sich eine Beziehung zwischen den Protagonisten. Dabei geht es um das, was Menschen im Inneren bewegt. Und auch die Erinnerung spielt fast immer eine wichtige Rolle.“
Gesellschaftliche Zwänge, das ist ein großes Thema in der japanischen Literatur. Auch Artikel und Reiseberichte über Japan schildern gerne den immensen sozialen Druck, der auf den Japanern – und insbesondere den Japanerinnen – lastet. Doch hier haben wir möglicherweise einen blinden Fleck, glaubt Professorin Elena Giannoulis. Denn: „Vieles ist hier nicht anders. Es gibt in Japan natürlich das Phänomen „Hikikomori“, bei dem junge Menschen sich in ihren Wohnungen einschließen. Dieses Thema war in der japanischen Literatur sehr wichtig in den letzten Jahren. Auch prekäre Bedingungen am Arbeitsplatz werden viel thematisiert. Aber wenn eine japanische Autorin darüber schreibt, welcher Druck auf ihr lastet, weil sie heiraten und Kinder bekommen soll, gleichzeitig aber arbeiten und gut funktionieren soll – dann ist uns diese Problematik in Deutschland doch nicht fremd.“
Überhaupt, so Professorin Giannoulis, seien japanische Romane eingängiger, als man vielleicht denken könnte. „Begriffe, die vor 40 Jahren noch unbekannt waren, muss man heute in einer globalisierten Welt nicht mehr erklären. Durch die große Verbreitung der japanischen Populärkultur sind uns viele Bezeichnungen vertraut.“
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Während sich Jugendliche aus Berlin oder Bottrop beim Cosplay in Anime-Helden verwandeln, Menschen rund um den Globus ihre Wohnung mit Marie Kondo entrümpeln und beim Waldbaden ihr Ikigai suchen, hat sich umgekehrt auch Japans Kultur der westlichen angenähert. Dies spiegelt sich auch sprachlich im japanischen Roman wieder, so Professorin Elena Giannoulis: „Der Schreibstil gleicht sich dem westlichen Stil an, besonders durch den Einfluss amerikanischer Gegenwartsliteratur. Aber auch dank Haruki Murakami, der als Übersetzer viele wichtige englischsprachige Werke ins Japanische übertragen hat. Dadurch wurde er selbst stark von der westlichen Satzstruktur beeinflusst. Die Sätze sind in japanischen Romanen heute nicht mehr so verschachtelt. Auch das Subjekt wird oft erwähnt – was früher nicht unbedingt der Fall war.“
Haruki Murakami. Ohne den weltweit beliebten Autor wäre die japanische Literatur in den deutschsprachigen Ländern wohl kaum so populär. Seit langem als Nobelpreis-Kandidat gehandelt, wandelt Murakami zwischen den Welten – und das in mehrfacher Hinsicht. Denn in vielen seiner Bücher trennt nur eine durchlässige Membran die Realität von einer magischen Parallelwelt. Die Protagonisten begegnen wie selbstverständlich Gestalten der japanischen Geisterwelt; sie verlieren sich in Tunneln, Träumen und dem eigenen Unterbewusstsein.
Es ist leicht, sich ebenso in Murakamis Geschichten zu verlieren. Umso mehr, wenn David Nathan mit seiner dunklen, ruhigen Stimme liest - die „Die Chroniken des Aufziehvogels“ zum Beispiel. Dieser frühe Geniestreich des Autors liegt seit wenigen Monaten in einer neuen Übersetzung von Ursula Gräfe vor. Diesmal wurde das Buch direkt aus dem Japanischen übertragen – ohne die massiven Kürzungen der aus dem Amerikanischen übersetzten Version von 1994.
Mit ihrer Neufassung entkräftet Ursula Gräfe einen Mythos, den auch Professorin Giannoulis gerne ausräumen würde: den von der angeblichen Unübersetzbarkeit des Japanischen. „Letztlich ist es eine Sprache wie jede andere auch, die man mit genügend Erfahrung und Sprachkenntnis auch übersetzen kann.“
Vom japanischen Traum: Selbsthilfe aus Japan
Drei Ereignisse sorgten in den neunziger Jahren für einen regelrechten Japan-Boom in Deutschland: 1990 lud die Frankfurter Buchmesse Japan als Ehrengast ein. 1994 bekam Kenzaburo Oe den Literaturnobelpreis. Und 2000 verzankten sich Sigrid Löffler und Marcel Reich-Ranicki derart über die Frage, ob Murakamis „Gefährliche Geliebte“ nun „hocherotisch“ sei oder nicht, dass Löffler aus der Sendung ausschied. Daraufhin stieg das Interesse an japanischer Literatur sprunghaft an.
Kritische Stimmen von japanische Autorinnen
Heute sind es vor allem die japanischen Autorinnen, die weltweit für Furore sorgen. Sie schlagen neue Töne an – und das bedeutet vor allem: kritischere. „Wild“, „radikal“, „direkt“: Solche Begriffe fallen in den Rezensionen aktueller Romane japanischer Schriftstellerinnen. Dass Frauen überhaupt schreiben – und international Beachtung finden – ist in dem patriarchalisch geprägten Land noch eine kleine Sensation. „Schweigen bedeutet Schönheit“ lautet dort ein Sprichwort. Immer mehr japanische Autorinnen aber wollen sich nicht mehr mundtot machen lassen und stellen in deutlichen Worten ihre Sicht der Dinge dar.
„Wenn man sich die Romane von Sayaka Murata, Mieko Kawakami oder Banana Yoshimoto anschaut, geht es zunehmend um Kritik am neoliberalen System. Außerdem gibt es eine Auseinandersetzung mit den Rollenbildern, die an Frauen in der japanischen Kultur herangetragen werden. Seit der Dreifachkatastrophe (Erdbeben, Tsunami und die Nuklearkatastrophe von Fukushima, Anm. d. Red.) in Japan werden in der Literatur auch wieder verstärkt Umweltprobleme und Armut reflektiert“, hat Professorin Elena Giannoulis beobachtet.
Eine Sonderposition nimmt die japanische Autorin Yoko Tawada ein, die in Berlin lebt und sowohl auf Deutsch, als auch auf Japanisch schreibt. Ihr Roman „Sendbo-o-te“, der bei Audible auf Englisch vorliegt, spielt in einem Japan, das nach einer großen Katastrophe alle Verbindungen zur Außenwelt kappt. Dabei gelingt der Autorin das Kunststück, inmitten eines postapokalyptischen Szenarios leicht, poetisch und sogar komisch zu erzählen.
„Sie ist eine besondere Autorin“, findet Professorin Elena Giannoulis und wünscht sich, dass noch mehr Leser und Hörer die Literatur dieser Vermittlerin zwischen den Kulturen für sich entdecken.
Japanische Krimis: Abgebrüht und raffiniert
Last but not least erfreuen sich auch Krimis aus Japan hierzulande wachsender Beliebtheit. Beeinflusst vom amerikanischen Hard-boiled-Krimi der 60er Jahre, bringen japanische Krimiautoren wie Seishi Yokomizo, Hideo Yokoyama, Kazuaki Takano oder Keigo Higashino frischen Wind ins Genre. In ihren raffinierten und komplexen Kriminalfällen stellen sie gerne einmal gängige Krimi-Regeln auf den Kopf. Sie lassen uns mit der Täterin sympathisieren oder nehmen die Auflösung des Falls vorweg – nur um dann systematisch Zweifel an der geschilderten Version der Dinge zu säen. Wie in Kotaro Isakas "Bullet Train", einem skurrilen, mit aberwitzigen Dialogen gespickten Hochgeschwindigkeits-Thriller. Ende Juli 2022 ist eine Verfilmung der Krimi-Komödie mit Starbesetzung ins Kino kommen.
Es ist der Winter 1937, und der Ort Okamura befindet sich in heller Aufruhr: Schon bald wird die renommierte Ichiyanagi-Famile ihren Sohn vermählen. Aber unter den Tratsch über das anstehende Fest mischt sich ein besorgniserregendes Gerücht: Ein maskierter Mann streift durch das Städtchen und fragt die Leute zu den Ichiyanagis aus. In der Hochzeitsnacht erwacht die Familie durch einen furchtbaren Schrei, auf den eine unheimliche Melodie folgt. Ja, der Tod ist nach Okamura gekommen und hat keine weitere Spur als ein blutiges Samurai-Schwert hinterlassen, das im reinen Schnee im Hof des Hauses steckt. Der Mord am frisch vermählten Paar gibt Rätsel auf, war doch das Schlafzimmer von innen verschlossen. Doch der private Ermittler Kosuke Kindaichi will den Fall unbedingt lösen.
Detektiv Kindaichi könnte man als die japanische Version von Sherlock Holmes bezeichnen, denn auch er löst seine Fälle gern mit strenger Logik und folgt dieser konsequent auch zu den unmöglichsten Schlussfolgerungen. Yokomizo gibt seiner Figur zudem eine Vorliebe für Krimilektüre mit, was den Detektiv für die Leser nahbarer machte und dem Autor die Gelegenheit gab, Referenzen auf seine eigenen Lieblingsbücher dieses Genres einzustreuen.
Maria Wiesner (FAZ, 22.11.2022)
Dass japanische Romane ganz nebenbei einen Einblick in die Alltagsrealität, die Gesellschaft und Denkweise Japans geben, ist ein Gewinn, findet Professorin Elena Giannoulis. „Die Themen sind international und zugänglich geworden. Man muss sich nicht unbedingt mit der japanischen Kultur auskennen, um einen Zugang zu japanischen Romanen zu bekommen.“ Dennoch: Ein bisschen Fremdheit bleibt immer. Aber eben das macht ja den besonderen Reiz japanischer Romane aus.
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