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Sebastian Fitzek Interview: „Ich beruhige mich durch das Schreiben“

Sebastian Fitzek Interview: „Ich beruhige mich durch das Schreiben“

Sebastian Fitzek Interview

Sebastian Fitzek ist als Meister des Psychothrillers bekannt, hat neben „Die Therapie“ auch Bestseller wie „Der Augensammler“ geschrieben. Im Interview verrät er, woher die Idee für sein neues Buch kommt und wie er beim Schreiben seine Ängste bearbeitet.

Die Idee für „Die Therapie“ kam dir, als du in einem Wartezimmer saßest. War die Inspiration für „Das Geschenk“ ein besonders schlechtes Weihnachtsgeschenk?

Nein! (lacht) Die Inspiration kam aber tatsächlich aus dem realen Leben: Ich stand an einer Kreuzung und es hielt ein Auto neben mir. Auf dem Rücksitz saß ein Kleinkind und das lächelte mich an. Ich habe die Theorie, dass Kinder mich anlächeln, weil ich so eine große Clownsnase habe. Kleinkinder haben ja in der Regel noch nicht „Es“ gesehen oder gelesen, also haben sie mit Clowns noch gute Assoziationen, da wird noch häufig gelächelt. Ich lächelte zurück, dachte mir aber dabei: Was wäre denn eigentlich, wenn dieses Kind weinen würde und älter wäre – vielleicht so alt, dass es schon schreien kann? Wenn dieses Kind einen Zettel an die Seitenscheibe drücken und ich darauf „Hilfe“ oder eine andere panische Botschaft lesen würde, bevor das Auto im Nebel oder im dichten Straßenverkehr von Berlin verschwindet? Wie würde ich dann reagieren? Das ist eine Thriller-Situation, und die hat mich beschäftigt.

Und von da an nahm die Geschichte ihren Lauf?

Ich traf Jahre später auf der Frankfurter Buchmesse Analphabeten. Anfangs dachte ich: „Was ist denn das für ein Widerspruch – Analphabeten auf der Buchmesse?“ Sie erzählten mir, dass sie auf der Buchmesse einen Stand haben, ehemalige Analphabeten sind und Betroffenen helfen, von denen es in Deutschland 6,2 Millionen gibt. Das sind statistisch gesehen ungefähr genauso viele, wie wöchentlich ein Buch in die Hand nehmen – eine unglaublich hohe Zahl. Funktionale Analphabeten, das sind Menschen, die nicht ohne weiteres einen längeren Absatz lesen können, die wahnsinnig viel Zeit brauchen, um etwas zu lesen, und die dadurch eine große Schwäche haben. Und dann wusste ich: Das ist natürlich eine ideale Romanfigur.

Wieso?

Diese Menschen sind in der Realität oftmals Helden. Aus Scham wollen sie nicht auffliegen, deswegen merken sie sich alles. Ein Kellner zum Beispiel, der merkt sich jedes Gericht – er kann sich ja nichts aufschreiben. Ich habe einen kennengelernt, der zeichnet sich kleine Bildchen zu den Tischen und den Bestellungen auf.

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Und das hat dich so fasziniert, dass du in deinem neuen Buch darüber schreiben wolltest?

Dieser Kellner ist das Vorbild für Milan Berg, den Analphabeten in „Das Geschenk“. Wie sieht ein Analphabet unsere Schriftwelt? Wie kommt er damit zurecht? Und was macht er dann, wenn er diesen Hilferuf an der Kreuzung auf einmal sieht und nicht weiß, was das Mädchen ihm sagen will? Das in unserer Schriftwelt deutlich zu machen, fand ich spannend. Von dieser Sekunde an wusste ich, das kann was werden. Und heraus kam das Buch „Das Geschenk“.

Wie hast du dich an die Recherche gemacht? Du hast dich ja mit vielen, auch ehemaligen, Analphabeten getroffen.

Ich hatte ja das große Glück, dass die mich kennenlernen wollten und gesagt haben, dass einige von ihnen meine Bücher nehmen, um mit ihnen Lesen zu lernen. Sie wollen eben nicht die herkömmlichen Lehrbücher lesen, sondern Psychothriller. Dann haben sie „Die Therapie“ im Unterricht durchgenommen. Das sind ja kurze Absätze, die sich anscheinend hervorragend als Schullektüre eignen.

Das hörst du sicher auch nicht alle Tage!

Ich habe mich echt gefreut. Ich hätte nie gedacht, dass meine Bücher einmal im Unterricht verwendet werden. (lacht)

Was haben deine Recherchen ergeben, welchen Problemen sich Analphabeten im Alltag stellen müssen?

So etwas wie Audible ist natürlich auch für Analphabeten ein hervorragendes Angebot, um nicht den Anschluss an Unterhaltung oder, wenn man an Sachbücher denkt, an Wissen zu verlieren. Ein großes Problem wird es allerdings sein, sich selbstständig einen Account anzulegen, weil man da wieder in der Schriftwelt gefangen ist. Das kann man sich ja nicht vorstellen, was alles verschriftlich ist: wenn man einen Pass beantragen will, die Speisekarte, wenn man an einem Fahrkartenautomaten steht … Das ist ja schon der Horror, wenn man da selbst steht und nicht zurechtkommt, während der nächste hinter einem drängelt. Das sind so die Probleme des Alltags.

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Stimmt, das kennt ja sicher jeder von uns: Man versucht in einer fremden Stadt, sich ein Ticket zu ziehen und hat keine Ahnung, was der Automat von einem will. Das kann selbst für Menschen, die lesen können, eine echte Herausforderung sein.

Genau, und Analphabeten wachsen über sich hinaus. Sie haben Strategien, mit denen sie das eben vertuschen. Sie sagen zum Beispiel: „Ich habe meine Lesebrille vergessen, können Sie mir das Formular für den Pass mal mitgeben?“ Die sind wirkliche Überlebensmeister.

Dieser Rechercheteil bei der Arbeit, ist das etwas, das dir besonderen Spaß macht oder schreibst du lieber?

Recherche heißt für mich immer, eine neue Welt kennenzulernen. In diesem Fall hat es mich ein bisschen an den „Augensammler“ erinnert: In der Zeit hatte ich mit vielen blinden Menschen zu tun. Und jetzt, für „Das Geschenk“, habe ich mich mit vielen Menschen beschäftigt, die nicht lesen und schreiben können. An erster Stelle habe ich Tim-Thilo Fellmer von der Alfa-Selbsthilfe kennengelernt. Er war Analphabet, hat lesen und schreiben gelernt und dann ein Buch darüber geschrieben, jetzt ist er Verleger. Solche Menschen durfte ich treffen und sie haben mir Geschichten erzählt, die mir dafür die Augen geöffnet haben, dass wir uns um diese Menschen viel zu wenig kümmern.

Die sich aber aus Scham nicht trauen zuzugeben, dass sie eine Schwäche haben.

Das ist auch ganz wichtig zu erkennen: das ist keine Krankheit oder eine Störung, das ist eine Schwäche. Aber tatsächlich wird es von der Öffentlichkeit häufig als Stigma wahrgenommen. Wobei das ja absurd ist: Ich geh auch nicht auf jemanden zu, stelle mich vor und sage „Du, ich habe einen ganz schlechten Orientierungssinn!“ oder „Ich kann nicht Kopfrechnen!“

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Mit welcher Schwäche müsstest du dich dann vorstellen?
Ich kann mir wirklich keine Namen und die Gesichter dazu merken. Das ist ein ganz großes Problem, wenn Leute mich schon fünf Mal begrüßt haben und ich nach den Namen suchen muss. Das ist mir immer unglaublich peinlich und am liebsten würde ich mich auch so vorstellen und direkt outen. Es wird jedoch erwartet und vorausgesetzt, dass man lesen kann. In Zeiten vom Taschenrechner setzt niemand mehr voraus, dass man im Erwachsenenalter noch Kopfrechnen kann, aber alle setzen voraus, dass man im Kopf Buchstaben zusammenfügen kann. Ein großes Problem!

Da hilft eben auch die Scham nicht, die viele Betroffene empfinden.

Viele Analphabeten sagen, wenn sie sich dann trauen Hilfe anzunehmen und zu lernen, dann haben sie häufig erlebt, dass die Reaktionen gar nicht so verletzend waren, dass es sehr viel Verständnis gab und sie eigentlich die ganze Zeit gegen ihren eigenen Dämon gekämpft haben. Wie so häufig im Leben steht man sich selbst im Weg, aber hier tatsächlich ganz besonders. Gerade deswegen sind Verbände wie Alpha-Selbsthilfe besonders wichtig, damit Aufklärung betrieben wird.

Du sagtest eben, dass ein Mensch aus dem echten Leben dir die Idee für den Protagonisten in „Das Geschenk“ gegeben hat. Lässt du dich oft von echten Menschen inspirieren?

Ja, aber immer nur ein Bruchteil. Ich vermeide es, eine Person eins zu eins als Vorbild zu nehmen. Ich erschaffe immer neue Charaktere. In dem Fall ist es so, dass es wirklich einen Kellner gibt, der Analphabet war.

Du suchst dir also eher bewusst aus, was dich konkret an einem Menschen interessiert?

Durch die des Kellners und andere Geschichten wurde mir klar, dass wir da Menschen haben, die an einem für sich empfundenen Mangel leiden, die gegen sich selbst kämpfen. Und das ist es doch eigentlich, was im Kern eine Heldenfigur ausmacht: gegen sich selbst zu kämpfen, um in der Realität bestehen zu können. Wenn diese Menschen dann auch noch mit etwas konfrontiert werden, was sie schaffen müssen, um über sich selbst hinauszuwachsen, dann hat man wirklich eine klassische Ausgangssituation für einen Thriller. So habe ich das zumindest empfunden.

Was braucht es außer einem interessanten Thema noch für dich für ein neues Buch?

In erster Linie braucht es Figuren. Ich kann erst anfangen zu schreiben, wenn ich weiß, wer handelt und in welcher Situation er steckt und wie er damit umgeht. Ich muss die Person kennen. Ich gehe ja mit dieser Figur auf eine ganz lange Reise und für mich ist immer die entscheidende Frage: Möchte ich, dass der oder diejenige ihr Ziel erreicht? Möchte ich miterleben, wie sie die Aufgabe bewältigt und sich dadurch auch verändert? Möchte ich mehr über die Welt dieser Person erfahren? Erst, wenn ich diese Fragen mit Ja beantworten kann, kann ich mich auf die Reise begeben. Alleine der Plot, die Abfolge von merkwürdigen und skurrilen Ereignissen, ergibt noch kein Buch. Es kommt immer in erster Linie auf die Figur an.

Wie muss eine Figur sein, mit der du dich gerne auf so eine Reise begibst?

Tatsächlich muss ich bei dieser Figur wissen, was sie will. Das klingt so einfach, aber eigentlich gibt es nichts Schwierigeres. Ich muss mir im Klaren sein über ihre Motivation und die Schwierigkeiten, die sie hat, dieser zu folgen, um am Ende das Ziel zu erreichen.

Auf dem Weg zu ebenjenem Ziel geht es bei dir oft ganz schön spannend und teilweise auch beängstigend zu. Bekommst du selbst manchmal Angst beim Schreiben?

Ich habe die Angst vorher. Ich habe Tagträume, ich habe Sorgen und Ängste und es gibt Situationen, die mich belasten. Das kann zum Beispiel etwas sein, das im privaten Umfeld passiert ist. In diesem Jahr haben sich zwei Bekannte von mir das Leben genommen. Das ist etwas, das natürlich extrem belastend ist. Da bin ich froh, für mich ein Ventil durch das Schreiben gefunden zu haben, um meine Sorgen vielleicht nicht zu verarbeiten, aber um sie zu bearbeiten.

Das Schreiben hilft dir also, dich mit solchen Ereignissen auseinanderzusetzen?

Ich beruhige mich durch das Schreiben. Ich gebe den Ängsten eine Form und kann sie dann sozusagen abheften. Sie sind nicht aus der Welt, sie sind nicht gelöst, aber sie sind strukturiert. Das hilft, das Gedankenkarussell zum Stillstand zu bringen.

Vielleicht keine schlechte Idee für alle, die viel Zeit mit Nachdenken verbringen.

Es gibt ja tatsächliche eine Schreibtherapie als anerkannte Therapieform. Das hilft vor allem Grüblern, die nachts wachliegen und nachdenken, Pro und Contra abwägen, Listen machen und nicht einschlafen können. Da soll man sich hinsetzen, vielleicht einen Brief an sich selbst schreiben und wirklich seine Beweggründe festlegen, sodass man hinter jedem Wort steht. Das hat den positiven Effekt, dass man dadurch müde wird, aufhört zu grübeln und irgendwann auch einschlafen kann. Und es hat den zweiten Effekt, dass man das Problem erst einmal wirklich kanalisiert hat. Man hat es in Form gebracht und jetzt ist es, wie gesagt, nicht gelöst, aber das Gedankenkarussell hört auf.

Wo schreibst du selbst am liebsten?

Mein kreativster Ort ist mein Schreibtisch. Ich brauche eine Umgebung, die schöner ist als das, was ich gerade beschreibe. Ich muss rausgucken in einen schönen Garten und brauche die Diskrepanz zwischen der schönen Natur und der grausigen Welt, die ich so langsam entstehen lasse. Ich kann aber natürlich auch irgendwo anders Texte überarbeiten.

Denkst du ständig über neue Ideen für Bücher nach oder ist da auch irgendwann mal Ruhe?

Nein, nein. Eine Idee kommt ja aus dem Nichts. Gläubige Menschen sagen, es ist eine göttliche Eingebung, andere sagen, es sind biochemische Reaktionen – ich weiß nicht, was davon stimmt, aber eine Idee kann man jederzeit haben. Wenn man auf der Suche nach Ideen ist, weil das eben der Job ist, dann findet man sie auch eher.

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