Leiden immer mehr Menschen in Deutschland an Ängsten und Panikattacken? Oder wird nur offener darüber gesprochen?
Wir sprechen definitiv heute offener über psychische Probleme. Unabhängig davon ist die Anzahl der Angststörungen – aber auch anderer psychischer Probleme, etwa Zwangsstörungen oder Depressionen – deutlich gestiegen. Dazu gibt es klare Zahlen. Laut einer Studie der Techniker Krankenkasse hat sich die Menge der verschriebenen Antidepressiva zwischen 2007 und 2017 mehr als verdoppelt.
Warum haben immer mehr Menschen psychische Erkrankungen?
Ein Grund ist die permanente Verfügbarkeit: Durch den Umgang mit digitalen Medien haben wir Dauerstress. Wir haben das Gefühl, wir müssten dauernd erreichbar sein, und alles müsste ganz schnell gehen. Ein anderer Grund ist, dass wir uns ständig mit anderen vergleichen. In den sozialen Medien folgen viele mehr dem Leben anderer als ihrem eigenen.
Sie haben ein erfolgreiches Buch gegen Angst geschrieben, „Panikattacken und andere Angststörungen loswerden.“ Kann es bei Panikattacken wirklich ausreichen, einen Ratgeber zu lesen?
Es wäre vermessen zu behaupten, dass ein Buch eine Therapie ersetzen kann. Aber es kann den Blick dafür schärfen, wodurch eine Angststörung ausgelöst wird. Viele Punkte werden bei Therapien oft übersehen. Etwa Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten, Schilddrüsenhormone oder das sogenannte Roemheld-Syndrom, bei dem übermäßige Gasansammlungen im Magen-Darm-Trakt Atemnot hervorrufen. Ich bekomme täglich Mails aus aller Welt von Menschen, die mithilfe des Buchs – oder des begleitenden Videokurses – ihre Angststörung überwunden haben. Das Buch ist hilfreich auch für Menschen, die keine Therapie machen können, weil sie weit abgelegen wohnen – oder weil sie nicht so lange auf einen Therapieplatz warten möchten.
Sie schreiben, das klassische Behandlungsmethoden wie die Exposition – bei der man sich der beängstigenden Situation aussetzt – die Beschwerden oft verschlimmern, anstatt zu helfen.
So pauschal ist das nicht richtig. In der frühen Phase einer Angststörung kann man seine Angst durch eine Expositionstherapie loswerden. Es gibt aber nach meiner Erfahrung angenehmere Methoden, die auch noch deutlich schneller wirken. Da man in Deutschland mittlerweile oft sechs Monate oder länger auf einen Therapieplatz warten muss, passiert es immer seltener, dass eine Angststörung in der Frühphase behandelt wird. Wenn die Angststörung schon fortgeschritten ist, kann die Exposition sie sogar verstärken.
Woran liegt das?
Wir wissen heute viel mehr über das Gehirn als damals, als diese Methoden entstanden sind. Alles, was regelmäßig mental bearbeitet wird und mit starken Emotionen hinterlegt ist, verstärkt sich im Gehirn. Das heißt, wenn die Angst während der Exposition zu groß ist, vergrößert diese Form der Therapie die Ängste. Wir haben hunderte von Patienten in unserer Berliner Praxis, die durch eine Expositionstherapie durchgegangen sind und wenige Monate später unter den gleichen oder sogar noch größeren Ängsten litten als zuvor. Ich würde immer Therapien bevorzugen, die ohne diese schmerzhafte Erfahrung auskommen.
Auch Atemübungen sind bei Angststörungen nicht hilfreich. Warum?
Atemübungen sind super, wenn man Stress reduzieren oder Achtsamkeit üben will. Aber Angstpatienten neigen dazu, normale Körperreaktionen zu überinterpretieren und als krankhaft zu bewerten. Dazu gehört eine schnellere Atmung. Es ist vollkommen normal, dass wir schneller atmen, wenn wir Stress oder Angst haben. Einfach, weil wir mehr Sauerstoff brauchen, damit alles funktioniert. Angstpatienten fokussieren sich aber darauf und machen daraus ein Krankheitssymptom. Wenn ich jetzt jemandem den Rat gebe, bei aufkommender Angst auf die Atmung zu achten, verstärke ich, was ich eigentlich loswerden will.
Wie macht ein Angstpatient sich selbst Angst?
Als Erstes plant er sein Scheitern, indem er sich ausmalt, was im schlimmsten Fall passiert. Etwa, dass er gleich umkippt oder einen Unfall auf der Autobahn baut. Das können Angstpatienten ganz hervorragend: Einen Film vor dem inneren Auge ablaufen lassen und sich ganz darauf fokussieren.
Was sollte der Patient stattdessen tun?
Das Gegenteil. Sich vorstellen, wie er auf der Autobahn fährt, entspannt am Urlaubsort ankommt und erst einmal einen guten Kaffee trinkt. Was sein Gehirn wieder lernen muss, ist, eine positive Situation zu planen – etwa mit der Zoomtechnik. Die geht so: Ich stelle mir intensiv ein schönes Gegenbild zu meinem inneren Panik-Film vor. Ich lasse das alte Bild kleiner und kleiner werden, bis es zu einem Punkt wird und sich auflöst. Dann lasse ich wie ein Pop-Up das neue Bild erscheinen. In unserem Beispiel also, wie ich entspannt ankomme und barfuß den Strand entlanglaufe. Diesen Prozess wiederhole ich drei-, viermal. Das Gehirn merkt sich diesen Automatismus und fängt an, von allein das neue Bild zu erzeugen. So funktioniert das vereinfacht gesagt – im Buch gibt es eine ausführlichere Anleitung. Dabei werden in meinem Gehirn andere Neurotransmitter ausgeschüttet: nicht mehr Adrenalin und Histamin, sondern Dopamin und Serotonin.
Das klingt so einfach.
Ist es auch. Wir haben es an tausenden von Patienten ausprobiert. Weil es so gut funktioniert hat, wollte ich diese Methode mit der Welt teilen. Deswegen ist das Buch so erfolgreich geworden: weil es den Leuten hilft. Ich habe dieses Buch ja zunächst als Selbstpublisher herausgebracht. Innerhalb von sechs Wochen war es in den Top-100 der Amazon-Liste.
Sie schreiben, nicht die Angst sei das eigentliche Problem, sondern das Grübeln. Warum?
Angst ist eigentlich nichts Schlechtes. Sie schützt uns vor Gefahr, ist also ein Liebesdienst der Psyche. Wenn wir zu lange nicht auf unser Bauchgefühl hören, kann eine Angstattacke ein wohlwollender Weckruf sein. Sie sagt uns: Es gibt etwas in deinem Leben, dass du ändern müsstest. Vielleicht sollte man sich aus einer Beziehung verabschieden, die einem nicht mehr guttut oder sich einen neuen Job suchen. Menschen sind Weltmeister darin, sich Sachen schönzureden, die längst nicht mehr schön sind.
Was passiert, wenn ich diesen Weckruf nicht wahrnehme?
Dann fange ich an, über die Symptome zu grübeln: Was stimmt nicht mit mir, droht ein Herzinfarkt, habe ich einen Gehirntumor? Wenn ich diese Dinge denke und mit starken Emotionen verbinde, wird dieser Prozess vom Bewusstsein ins Kleinhirn verlagert und damit unbewusst weiterverarbeitet. Ich baue mir einen Automatismus, der Angst auslöst. Deswegen ist Grübeln einer der Hauptgründe, warum Menschen wiederkehrende Panikattacken kriegen.
Wie kann ich das Grübeln stoppen?
Eine meiner Lieblingstechniken: Drehen Sie das Gedankenkarussell um. Es gibt einen Grund, warum wir von „kreisenden Gedanken“ sprechen. Wenn sie sich drauf konzentrieren, können die meisten Menschen wahrnehmen, wie herum es sich im Kopf dreht. Das kann eine Scheibe sein, die sich nach links oder rechts dreht, eine Walze, die vorwärts oder rückwärts läuft, oder eine Spirale, die sich nach oben oder unten schraubt. Sobald ich erkenne, wie herum es in meinem Kopf kreist und mir eine genau entgegengesetzte Drehbewegung vorstelle, ist das für mein Gehirn ein sogenannter Musterunterbrecher. Der Trick ist so effizient, dass er in Sekunden wirkt.
Aus Angst vor der Angst verlassen manche Menschen kaum mehr das Haus. Was kann helfen?
Die Angst vor der Angst, die Phobophobie, ist ein unterbewusst antrainiertes Verhalten. Wenn ich zu lange Angst habe, gehe ich immer mehr in ein Vermeidungsverhalten. Bezogen auf das Beispiel von vorhin fährt ein Betroffener erst nicht mehr Autobahn, dann nicht mehr Landstraße, schließlich überhaupt nicht mehr. Dann sprechen wir von einer generalisierten Angststörung. Das Gehirn ist dann perfekt darauf trainiert, Worst-case-Szenarien zu planen. Was es nicht mehr kann, ist, Best-case-Szenarien zu planen. Die schnellste Methode, solche Szenarien wieder zu erlernen, ist die 10-Satz-Methode.
Bei der 10-Satz-Methode stellt man sich intensiv eine schöne Situation vor und konzentriert sich dabei nacheinander auf einen seiner fünf Sinne. Warum funktioniert das?
Früher dachte man, für die Erinnerung ist nur der Frontallappen zuständig. Seit diesem Jahr gibt es endlich handfeste Studien, die zeigen, dass das gesamte Gehirn an Erinnerung beteiligt ist. Deswegen ist es sinnvoll, durch die fünf Sinneskanäle neue, bessere Versionen des eigenen Lebens in verschiedenen Bereichen des Gehirns zu verankern. So lernt es, statt der Angstversionen andere Vorstellungen vom eigenen Leben zu erzeugen. Die Methode ist unglaublich effizient. Das ist auch Arbeit, da muss man schon 20 Minuten am Abend investieren. Aber nach wenigen Wochen ist der Erfolg augenscheinlich.
Sehr viele Menschen – die keine Angstpatienten sind – fürchten sich vor einer Ausweitung des Ukrainekrieges, vor einem Atomschlag, vor dem Klimawandel, Corona, der Inflation und mehr. Kann Ihre Methode da ebenfalls helfen?
Die 10-Satz-Methode ist keine Medizin, die ich nehme, wenn ich krank bin. Sie ist eher ein Lifestyle. Ich habe jahrelang Menschen beobachtet, die schlimme Sachen erlebt haben, denen es aber gut geht. Wohingegen andere, die nicht mal ein Zehntel davon erlebt hatten, Angststörungen entwickelt haben. Ich habe festgestellt, dass diese Menschen ihre Erlebnisse anders im Gehirn verarbeiten. Daraus ist dieser Art Lifestyle entstanden. Trainiere ich eine bestimmte Art des Denkens, entwickele ich Resilienz. Ich kann keinen Einfluss auf das Weltgeschehen oder auf die pandemische Lage nehmen. Was ich kann, ist, eine Psychohygiene zu entwickeln, die meine Widerstandskraft stärkt. Dann bleibe ich auch unter Stress intelligent.
Was sollte man sich abgewöhnen?
Zweckpessimismus. Aus Sicht der Neuroplastizität trainiere ich mein Gehirn durch Zweckpessimismus darauf, immer mehr Mist und Bedrohung wahrzunehmen. Gleichzeitig werde ich blind für die Chancen im Leben. Ich hatte einen Patienten, der hatte so Angst vor dem Krieg, dass er anfing, Benzin, Bargeld und Lebensmittel zu bunkern. Dafür gab er irrsinnig viel Geld aus. Der Witz ist: Der Mann ist selbständiger Programmierer und kann von überall nur mit seinem Laptop arbeiten. Die Angst aber hat ihn so fokussiert gemacht, dass er die offensichtlichste Option nicht gesehen hat. Nachdem wir gesprochen hatten, sitzt er jetzt auf Madeira, guckt aufs Meer und arbeitet von dort aus. So wie das Gehirn vernetzt ist, so arbeitet es. Trainiere ich mein Gehirn darauf, jede Gefahr wahrzunehmen, wird es eine perfekte Gefahrensuchmaschine. Auch wenn 99,9 Prozent dieser Gefahren mich nie wirklich bedrohen.
Einfach wegzugehen ist nicht für jeden eine Option. Wer Kinder oder einen festen Job hat, kann nicht so leicht umziehen.
So würde auch ein Angstpatient reagieren: „Bei mir geht es aber nicht.“ Die erste Frage wäre dann: „Bist du in deinem Job überhaupt noch glücklich?“ Dann kommt oft: „Eigentlich nicht, aber in der jetzigen Situation will ich mir auch keinen anderen Job suchen. Dann frage ich: „Warum denn nicht gerade in der jetzigen Situation?“ So viele machen irgendwann eine Ausbildung und ziehen ihren Beruf dann für den Rest ihres Lebens durch. Irgendwann macht der Job keinen Spaß mehr. Dann erzählen mir Leute mit Mitte 40: „Ich kann ja jetzt nichts Neues mehr machen.“ Dabei war nie einfacher als heute, sich weiterzubilden mit den digitalen Medien und Online-Kursen. Viele Menschen schränken sich schon im Denken ein.
Nicht nur Ratgeber können dabei helfen, besser mit Angst umzugehen. Auch Romane können vielleicht Mut machen, sich beängstigenden Situationen zu stellen. Haben Sie damit Erfahrungen gemacht?
Ich empfehle tatsächlich gerne Hörbücher. Besonders Patienten, die Angst vor dem Autofahren haben. Der Trick ist, sich ein Hörbuch zu suchen, es sich zu Hause anzuhören und an einer Stelle zu unterbrechen, die richtig spannend ist. Dann setzt man sich ins Auto, fährt eine kleine Strecke und hört dabei weiter. Autofahren ist ein komplett unterbewusster Prozess, wenn man es erst einmal kann. Nur die Angst holt das Autofahren wieder ins Bewusstsein. Wenn man dem Gehirn jetzt besseres Futter gibt, etwa durch ein spannendes Hörbuch, dann kann man auf einmal wieder problemlos fahren. Ich persönlich bin ein großer Fan von Andreas Eschbach. „Eine Billion Dollar“, „Teufelsgold“ oder „Herr aller Dinge“. Oder von Dan Millman „Der Pfad des friedvollen Kriegers“.
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* Bildrechte: Katja Kuhl.