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Linus Giese im Interview: „Menschen sehen, wie sie sind“

Linus Giese im Interview: „Menschen sehen, wie sie sind“

„Trans* ist ein Überbegriff für alle Menschen, die sich nicht oder nur teilweise mit dem Geschlecht identifizieren, dass ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Das Sternchen hinter dem Begriff trans* ist eine Art Platzhalter und steht dafür, dass trans* Menschen ganz unterschiedliche Selbstbezeichnungen für sich nutzen. Trans*, Transgender, Transident oder auch Transsexuell“. So definiert Linus Giese den Begriff „trans*“ am Ende seines im Februar 2023 erschienenen Buches aus der Kategorie Sozialwissenschaften, das den Titel Lieber Jonas oder Der Wunsch nach Selbstbestimmung trägt.

Aber wer ist eigentlich Jonas, den Autor Linus Giese in Form eines Briefes adressiert? Auf diese Frage bekommen wir im Interview eine Antwort. Auch sprechen wir mit dem 37-Jährigen, der selbst trans* ist, unter anderem über die Themen Coming-out als trans*, Transition und darüber, wie cis Personen trans* Menschen den Alltag erleichtern können.

Ich bin Linus

In „Lieber Jonas“ schreibst du einen Brief an Jonas, einen jungen trans* Mann, der zu dir in den Buchladen kam. Er scheint bei dir einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben. Wer ist Jonas?

Jonas heißt in echt nicht Jonas, aber es gibt ihn wirklich. Ich hätte meinen Brief an ihn auch nicht so schreiben können, wie ich es gemacht habe, wenn es ihn nicht wirklich gäbe. Wir haben immer noch ab und an Kontakt bei Instagram. Ich verfolge seinen Weg weiter. Ich glaube, es geht ihm gut – zumindest das, was ich auf Instagram sehe, macht auf mich einen guten Eindruck.

Lieber Jonas oder Der Wunsch nach Selbstbestimmung

Warum hat dich der junge Mann so berührt?

Ich habe anderthalb Jahre in dem Buchladen, in dem die Begegnung stattgefunden hat, gearbeitet. In der Zeit, in der ich dort gearbeitet habe, sind immer wieder junge trans* Menschen dort vorbeigekommen, um sich mein erstes Buch Ich bin Linus signieren zu lassen oder ein Gespräch zu führen. Viele dieser Begegnungen sind mir im Gedächtnis geblieben. Jonas hat bei mir einen besonders bleibenden Eindruck hinterlassen, weil er mit seiner Mutter dagewesen ist.

Die beiden haben mir erzählt, dass sie am nächsten Tag zusammen zum Christopher Street Day gehen werden. Die Tatsache, dass Jonas diese Unterstützung von seiner Mutter bekommt, hat mich sehr berührt. Mich berühren junge trans* Menschen sowieso immer sehr, weil ich in ihnen viel von mir selbst wiedererkenne. Ich selbst hatte mein Coming-out ja erst mit 31. Wenn ich junge trans* Menschen sehe, denke ich immer: „Krass – wie toll muss es sein, wenn du schon so früh in deinem Leben weißt, wer du bist oder wer du sein möchtest“.

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Was war so besonders daran, dass Jonas seine Mutter dabeihatte?

Es ist nicht selbstverständlich, dass du als trans* Person von den Eltern unterstützt wirst. Ich kenne viele Geschichten von jungen Menschen, die den Kontakt zu den Eltern abbrechen mussten und die zuhause nicht auf ihrem Weg unterstützt werden. Es sollte selbstverständlich sein, dass Eltern ihr Kind unterstützen, aber in vielen Fällen ist das so leider nicht. Die Eltern haben oft Ängste oder wünschen sich, dass ihr Kind einen anderen Weg einschlägt.

Ich denke, für Eltern ist es oft nicht einfach, sich von der Vorstellung zu verabschieden, die sie von ihrem Kind hatten. Das ist eine Erfahrung, die ich selbst gemacht habe: Die Menschen, die mich am längsten kennen, hatten die größten Schwierigkeiten mit meinem Coming-out und dem Weg, den ich gegangen bin. Daher freue ich mich extrem über jedes trans* Kind, das Unterstützung von seinen Eltern bekommt. Unterstützung macht, denke ich, vieles leichter.

The Transgender Issue

Was wünschst du dir für Jonas‘ Zukunft?

Ich wünsche mir, dass vieles einfacher wird als es momentan noch ist, insbesondere mit Blick auf das Selbstbestimmungsgesetz. Für Jonas wünsche ich mir, dass er offiziell seinen Namen und seinen Geschlechtseintrag ändern kann. Angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen, auch in den USA, mache ich mir momentan viele Sorgen. Deshalb wünsche ich mir vor allem für Jonas, dass es noch mehr Akzeptanz und Selbstverständlichkeit geben wird.

Außerdem hoffe ich, dass es selbstverständlicher wird, dass wir uns von stereotypen Geschlechtervorstellungen verabschieden. Und dass Menschen noch mehr Freiheiten haben, um herauszufinden, wer sie wirklich sind. Diesen Wunsch hege ich nicht nur für Jonas, sondern für alle jungen Menschen. Es erfordert heutzutage nach wie vor viel Mut zu sagen: „Ich verwende andere Pronomen“. Oder: „Ich bin anders, als ihr lange Zeit gedacht habt“. Es gibt auch auf dem Arbeitsmarkt und im Gesundheitswesen viele Hürden für trans* Personen, die abgebaut werden müssen.

Ich hoffe, dass es selbstverständlicher wird, dass wir uns von stereotypen Geschlechtervorstellungen verabschieden. Und dass Menschen noch mehr Freiheiten haben, um herauszufinden, wer sie wirklich sind. (Linus Giese)

Transgender History, Second Edition

Für sich selbst einzustehen ist erfahrungsgemäß in jungen Jahren, wenn man innerlich noch nicht „gefestigt“ und unsicher ist, schwer. Für junge trans* Personen kann die Teenager-Zeit eine besonders stressige Zeit sein. Stimmst du zu?

Diese Zeit ist für alle Jugendlichen schwierig, aber trans* Menschen stehen in dieser Zeit vor besonderen Herausforderungen. Zum einen ist für viele junge trans* Menschen die Schule ein Stressfaktor. Welcher Name steht auf dem Zeugnis? Wie gehen meine Lehrer*innen und meine Mitschüler*innen damit um? Ich wünsche mir, dass junge trans* Menschen keine Angst mehr haben müssen, zu sagen, wer sie sind, und dass sie viel Unterstützung erfahren.

Zum anderen verändert sich in dieser Zeit auch der Körper. Ich persönlich wollte keine Periode bekommen. Ich wollte nicht, dass meine Brüste wachsen. Diese Veränderungen waren für mich total überfordernd. In Ich bin Linus schreibe ich auch darüber, dass zu dieser Zeit viel stärker zwischen Mädchen und Jungen unterschieden wurde. Ich berichte davon, dass ich von den anderen Mädchen geschminkt wurde, weil das plötzlich „dazugehörte“. Eigentlich wollte ich mich gar nicht schminken und ich wusste auch nicht, was mit mir passierte.

Ich hatte auch viele Wünsche – zum Beispiel wollte ich gerne kurze Haare haben –, habe mich aber einfach nicht getraut, sie zu äußern. Da war viel Scham und Angst in mir. Offenbar verfestigen sich schon sehr früh Vorstellungen von Geschlecht und Identität, aus denen man sich nur schwer wieder befreien kann. In dieser Zeit kann es für junge Menschen sehr schwer sein, bei sich selbst zu bleiben. Für mich war es sehr schwierig, diese Zeit durchzustehen.

Was rätst du insbesondere jungen trans* Menschen in dieser schwierigen Phase ihres Lebens?

Ich habe zwei Tipps. Zum einen: Schau nach Hilfe und Unterstützung. Als ich mein Coming-out hatte, habe ich mir Hilfe bei Beratungsstellen gesucht. Ich rate jungen trans* Personen: Bleibt nicht allein mit Fragen oder Schwierigkeiten. In vielen Städten gibt es Anlaufstellen, die unterstützen.

Zum anderen: Such dir Räume und Kontexte, in denen du andere trans* Menschen kennenlernen und Zeit mit ihnen verbringen kannst. Ich bin einer Wandergruppe für tin* – also trans*, inter und nicht-binären – Menschen beigetreten. Es ist wichtig, sich in Kontexten zu bewegen, in denen man sich nicht erklären oder rechtfertigen muss. Dort sind viele andere, die genauso sind wie du – oder zumindest in einer Hinsicht genauso wie du. So etwas kann einerseits entlastend und andererseits stärkend sein, um das, was schwierig ist, besser durchstehen zu können.

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Kann auch Literatur helfen, diese Zeit durchzustehen?

Bücher und Serien sind wichtig. Ich bin in den 90ern aufgewachsen. Lange Zeit habe ich mich in Büchern nicht gesehen und es hat lange gedauert, bis ich ein Buch mit trans* Charakteren in die Hand nehmen durfte und lesen konnte. Aber auch schwule oder lesbische Charaktere kamen lange Zeit gar nicht vor. Es ist toll, dass es mittlerweile in Serien und Büchern viel mehr Repräsentation gibt.

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Hast du das Gefühl, dass es mittlerweile mehr Vielfalt in der Darstellung von trans* Personen in den Medien gibt?

Mein Coming-out ist fast sechs Jahre her und ich habe das Gefühl, dass sich in diesen sechs Jahren viel im Diskurs verändert hat. Es gibt immer mehr Vielfalt in Serien und Büchern und es werden immer mehr unterschiedliche Geschichten erzählt. Der Begriff trans* selbst hat sich in den letzten Jahren geöffnet. Weil Begriffe wie „Geschlechtsumwandlung“ früher noch viel verbreiteter waren, gab es gefestigte Vorstellungen davon, wie Menschen sich von einem in das andere Geschlecht umwandeln. Heutzutage interpretieren wir den Begriff „trans*“ viel offener. Es ist mein Wunsch, dass wir das weiterhin tun.

Es gibt keine „Voraussetzungen“ oder „Bedingungen“ dafür, trans* zu sein. Und es gibt auch kein „richtiges“ oder „falsches“ trans* Sein. Vielfalt bedingt auch, dass nicht immer nur die gleichen trans* Menschen in der Öffentlichkeit gezeigt werden oder immer wieder das gleiche Narrativ erzählt wird, sondern dass es eine ganze Bandbreite an Repräsentation gibt. Repräsentation kann schwierig werden, wenn immer nur die gleichen Menschen gezeigt werden.

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Es gibt keine „Voraussetzungen“ oder „Bedingungen“ dafür, trans* zu sein. Und es gibt auch kein „richtiges“ oder „falsches“ trans* Sein. (Linus Giese)

Welche Rolle spielen soziale Netzwerke beim Empowerment?

Ich bin selbst nicht auf TikTok aktiv, aber konsumiere es gern. Ich finde es toll, dass es dort so viele junge trans* Personen gibt, die dort selbstbewusst auftreten. Zu merken, dass es auch online eine Community gibt, kann hilfreich sein.

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Was ist die klischeehafte Vorstellung einer Transition und was hältst du davon?

Wenn ich früher nach Bildern von trans* Männern gegoogelt habe, habe ich immer nur Bilder von weißen, schlanken, normschönen trans* Männern ohne Brüste ausgespuckt bekommen. Das kann schnell einen Druck auslösen, weil du denkst: „Ich muss mir auch meine Brüste entfernen lassen, wenn ich ein ‚richtiger‘ trans* Mann sein will.“ Deshalb ist es wichtig, dass in der Gesellschaft ankommt, dass es nicht „den einen“ trans* Menschen und „den einen“ trans* Lebenslauf gibt.

Trans* Menschen und Transitionen sind vielfältig und verlaufen unterschiedlich. Ich selbst hatte lange Zeit die Vorstellung, dass eine Transition sehr gradlinig verläuft – wohl auch aufgrund der sozialen Medien. Trans* Personen, die in den sozialen Medien sichtbar sind, sind das meistens deshalb, weil sie gerade ihr Coming-out hatten und ihre ersten Schritte gehen. Sie dokumentieren, wie sich zum Beispiel ihre Stimme im Rahmen einer Testosteronbehandlung verändert, und werden dafür gefeiert.

Sissy

Verlief deine eigene Transition gradlinig?

Ich bin lange Zeit selbst von Checkpunkt zu Checkpunkt gesprungen. Ich wusste: Ich will meinen Namen ändern, Testosteron und die OP. In den letzten anderthalb Jahren habe ich diesen gradlinigen Weg aber immer wieder verlassen und bin zum Beispiel von einer hochdosierten Testosteronspritze, die ich alle zwölf Wochen bekomme, auf ein Testosteron-Gel und eine „kleine Spritze“, die ich alle vier Wochen bekomme, umgestiegen. Beides wirkt ähnlich, aber langsamer. Ich wollte selbst stärker beeinflussen können, wie sich mein Körper verändert. Ich erlaube mir, einmal auf die Pausetaste zu drücken und ein bestimmtes Narrativ zu verlassen.

Warum war und ist das für dich wichtig?

Es ist wichtig, einen vorgezeichneten Weg immer wieder zu verlassen, ihn in Frage zu stellen und herauszufinden, was du von diesem Weg brauchst. Nimm dir dafür auch Zeit. Wenn ich eine Sache bereue, ist es die, dass ich mir am Anfang nicht genug Zeit genommen habe, um mir darüber klar zu werden, was ich mir eigentlich von der Spritze erwarte. Geh mit viel Bewusstsein in den Prozess. Und sei dir darüber bewusst: Das Testosteron allein macht die Arbeit nicht. Ich bin zusätzlich in Therapie, mache Körperarbeit und bringe mich immer wieder selbst in Situationen, die mich herausfordern.

Verändert sich der Blickwinkel auf die Transition im Laufe der Zeit?

Für mich hat sich die Euphorie, die in den ersten Jahren mit meiner Transition einherging, nach und nach in ein Gefühl der Selbstverständlichkeit gewandelt. Eine Frage, die mich beschäftigt: Wie fülle ich die Räume, die sich jetzt öffnen? Wie bekomme ich die Euphorie, die ich vier Jahre lang so zuverlässig gefühlt habe, wieder in meinem Leben?

Der „straighte“ Weg, den viele im Rahmen ihrer Transition gehen, überdeckt, dass es Eigenverantwortung braucht, um das Glücksgefühl aufrechtzuerhalten. Es ist wichtig, darüber zu sprechen, was uns über eine Transition hinaus glücklich und euphorisch macht und was uns erfüllt. Ich wünsche mir, dass ältere trans* Menschen, die schon länger auf ihrem Weg sind, mehr Repräsentation bekommen. Das fände ich sehr spannend.

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Wie stehst du zum Thema „Coming-out“?

Als ich mein Coming-out hatte, hatte ich das Gefühl, durch eine Barriere der Angst und Scham gehen zu müssen. Ich würde mir wünschen, dass anderen jungen Menschen das erspart bleibt – sie sollen sich nicht für etwas schämen, für das sie sich nicht schämen müssen. Ob das Thema Coming-out für trans* Personen irgendwann abgeschlossen ist, lässt sich nicht verallgemeinern. Es gibt trans* Personen, die sich entscheiden können, ob sie sich outen wollen. Das hängt neben der Frage, ob sie als Frau oder Mann „durchgehen“, auch davon ab, ob sie ihren Namens- und Personenstand ändern können.

Auch bei Ärzt*innenbesuchen oder aber auch beim Dating kann es immer wieder zu Situationen kommen, in denen sich trans* Personen für ein Coming-out entscheiden (müssen). Trotzdem muss niemand offenlegen, dass man trans* ist – es ist und bleibt eine individuelle Entscheidung, wie offen Menschen damit umgehen. Wie eine gradlinige Transition ist auch das Coming-out keine Checkbox, die trans* Personen abhaken müssen – auch wenn der Druck, das tun zu müssen, an bestimmten Tagen wie dem Trans Day of Visibility besonders groß sein kann.

Trans

Wie eine gradlinige Transition ist auch das Coming-out keine Checkbox, die trans* Personen abhaken müssen (Linus Giese)

Hat dich ein Buch beim Coming-out „begleitet“?

Bei meinem Coming-out habe ich Darling Days von iO Tillett Wright gelesen. Ich fand es sehr ermutigend, weil iO auch einen etwas verschlungenen Weg geht und keinen gradlinigen. Bei iO ist auch nicht von Anfang an „alles klar“, es werden auch nicht alle OPs gemacht und dann „ist iO ein Mann“.

Darling Days

Was hältst du vom Mythos des immer „positiv verlaufenden“ Coming-outs mit glücklichem Ende?

Wir sprechen oft von Coming-outs, in denen sich danach alles ins Positive auflöst – in denen sich danach alle in den Armen liegen und alles gut ist. Es gibt aber auch sehr viele Menschen, die sich eben bei ihren Eltern nicht outen können. Bei denen danach nichts gut ist. Die danach Angst haben müssen. Die Angst haben, sich am Arbeitsplatz zu outen. Diese Tatsache geht in öffentlichen Diskussionen um das Coming-out oft unter. Es kann sehr schwierig sein, sich zu outen, und es gibt viele Situationen, in denen sich Menschen aus guten Gründen dagegen entscheiden, sich zu outen. Das sollte mehr mitbedacht werden.

In „Ich bin Linus“ sprichst du auch das Thema „Diskriminierung innerhalb der Community“ an.

Ich kann verstehen, dass sich viele Menschen immer wieder die Frage stellen: „Bin ich trans* genug, obwohl ich ‚das und das‘ nicht mache?“. Ich wünsche mir, dass wir uns diese Frage nicht so oft stellen müssten und dass wir innerhalb der Community andere Menschen, die andere Entscheidungen treffen als wir selbst, nicht abwerten oder ausschließen. Es gibt definitiv Menschen in der Community, die andere abwerten und ausschließen, zum Beispiel wenn trans* Personen nicht alle OPs machen oder auch generell nicht-binäre Menschen. Ich fände eine größere Offenheit schön und weniger „Einlasskontrollen“.

Hast du auch schon Diskriminierung innerhalb der Community erlebt?

Als ich vor zwei Jahren meine OP zur Entfernung meiner Brüste hatte, lag ich mit zwei anderen trans* Männern auf dem Zimmer. Die beiden haben sich Brüste und Gebärmutter entfernen lassen. Ich habe mir „nur“ die Brüste entfernen lassen. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich rechtfertigen musste. Dass ich mich dafür rechtfertigen muss, warum ich nicht „die ganze OP“ machen und meine Gebärmutter noch behalten will.

Obwohl ich sonst mit der Tatsache, dass ich mir nur die Brüste entfernen lassen wollte, ganz selbstbewusst und offen umgehe, habe ich in dieser Situation auf einmal gesagt: „Ach, das mache ich später“. Ich hatte das Gefühl, dass sie eine bestimmte Erwartung haben, die ich nicht erfülle, weil ich irgendwie „anders“ bin. Ein anderer Fall: Ich habe mir vor drei Jahren zum ersten Mal meine Fingernägel lackiert. Davon habe ich ein Foto bei Instagram geteilt. Ein anderer trans* Mann hat dann geschrieben: „Du willst ein trans* Mann sein, aber lackierst dir die Fingernägel?!“.

Was rätst du trans* Personen, aber vielleicht auch anderen, die aufgrund ihrer Identität scheinbar keinen Anschluss in der Community finden und die sich allein fühlen?

Je offener Menschen über ihre Diskriminierungserfahrungen, auch innerhalb der Community, sprechen, desto schneller stellen sie fest, dass es anderen genauso geht. Obwohl es Jahre, viereinhalb genauer gesagt, gedauert hat, habe ich in den letzten Jahren festgestellt, dass ich schon andere Menschen finde, die mir ähnlich sind. Die sich auch die Fingernägel lackieren. Die auch nicht alle OPs machen wollen. Die auch „anders“ ticken oder genauso ticken wie ich. Die mit mir auf einer Gesprächsebene sind. Vorher war ich auch in anderen trans* Gruppen und hatte das Gefühl, dass ich gar nicht ins Gespräch komme. Menschen, denen es so geht, kann Lesen sicherlich helfen.

Es ist wichtig, sich nicht zurückzuziehen, sondern weiter dranzubleiben. Sich zu sagen: „Mit mir ist nichts falsch“. Sondern: „Ich finde irgendwann die Menschen, zu denen ich dann gehöre.“ (Linus Giese)

Was können cis Personen im alltäglichen Miteinander tun, um trans Personen im Alltag zu supporten?

Als ich mein Coming-out hatte, habe ich neu angefangen, in einem Buchladen zu arbeiten. Ich habe da noch keine Hormone genommen und obwohl ich immer gesagt habe, dass ich Linus heiße, haben mich viele als Frau gelesen. Das kann man Menschen zwar kaum vorwerfen. Oft ist es im Kontext Einzelhandel aber dazu gekommen, dass Leute gesagt haben: „Komm, lass uns das bei der Frau da vorne bezahlen“. Das hat mir immer einen Stich versetzt. Solche Situationen wären vermeidbar, wenn wir aufhören würden, Menschen ein bestimmtes Geschlecht aufgrund äußerlicher Merkmale zuzuweisen. Man könnte sagen: „Lass uns das zusammen an der Kasse bezahlen“ und nicht, während eine Person anwesend ist, ihr Geschlecht vermuten.

Solche Mikro-Aggressionen können viel auslösen bei Menschen, die darunter leiden. Wenn ich E-Mails mit „Linus Giese“ unterschreibe und mir dann Leute antworten: „Liebe Frau Giese“, denke ich mir immer, ob das jetzt wirklich sein muss. Ich wünsche mir, dass es normal wird, Menschen kein Geschlecht zuzuweisen, solange wir nicht wissen, welches Geschlecht sie haben. Das wäre für viele schon eine große Erleichterung, weil so die kleinen Momente, in denen wir uns schlecht fühlen, schon weniger werden würden.

In diesem Kontext finde ich es auch wichtig, darauf zu achten, wie wir über Menschen sprechen, wenn sie nicht dabei sind. Nutzen wir dann auch ihre gewünschten Pronomen oder achten wir dann nicht mehr darauf? Ich finde es total wichtig, dass wir nicht einfach nur Pronomen „auswendig lernen“, sondern Menschen wirklich sehen, wie sie sind. Diese Kleinigkeiten können alle versuchen, im Alltag umzusetzen.

Vielen Dank für deine Perspektive und die Denkanstöße, Linus, und alles Gute auf deinem weiteren Weg!

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Copyright Fotos: Birte Filmer

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