Als meine Tochter 5 Jahre alt war, wollte sie in ihrem Malbuch nur die blonden Disney-Prinzessinnen ausmalen. Die anderen fand sie „nicht hübsch“. Für ein Gespräch über Rassismus kam sie mir damals noch zu klein vor. Was wäre eine angemessene Reaktion gewesen?
Zunächst einmal ist die Wahrnehmung Ihrer Tochter eine, die viele Kinder erleben. Somit würde ich für diese Situation nicht den Begriff Rassismus verwenden. Ihre Tochter hat gelernt, dass blondes Haar mit Schönheit assoziiert wird. Das ist etwas, das ich in meinem Buch thematisiere: Wir nehmen Unterschiede wahr, aber wir lernen erst durch Kommentare oder Botschaften in Büchern und Geschichten eine Bewertung dazu. Alle Kinder nehmen diese Bewertungen permanent auf: Wie sieht ein Junge typischerweise aus, wie ein Mädchen? Was wird als hübsch, was als weniger hübsch bezeichnet? Diesen Lernprozess können Sie beeinflussen, indem Sie Ihrem Kind etwa bewusst Vielfalt an Herkünften, Religionen, Hautfarben, sozioökonomischen Lebensverhältnissen zeigen, ohne die Bewertung „besser“ oder „schlechter“. Wie wir Vorurteile untereinander abbauen und Gemeinsamkeiten betonen - darum geht es in meinem Buch.
Die Vielfalt von Schönheit zeigen – wie mache ich das konkret?
Etwa, indem Sie Ihrem Kind nicht nur eine blonde Barbie zum Spielen geben, sondern genauso selbstverständlich auch eine schwarzhaarige mit Locken. Man kann bei Kinderbüchern darauf achten, dass Geschichten Schwarzsein nicht mit Hilfsbedürftigkeit verbinden oder dass verschiedene Religionszugehörigkeiten sichtbar werden. Sachliche Gespräche mit den Kindern und Kommentare zu ihren Äußerungen sind dabei zentral. Auch durch unsere Äußerungen über andere Menschen können wir dafür sorgen, dass Zugehörigkeit mit unterschiedlichen Merkmalen, Hautfarben, Haarfarben verbunden wird.
Reden ist in diesem Alter also noch nicht das Entscheidende?
Nein, Gespräche sind zentral. Wenn Ihre Tochter Ihnen zum Beispiel sagt, nur blonde Frauen seien schön, dann zeigen Sie ihr doch Bilder aus der Vogue, Werbung von H&M oder Bilder von Sängerinnen wie Beyoncé. Ihre Lebenswelt ist offensichtlich zu einseitig gewesen, damit sich Ihre Tochter ein vollständiges Bild machen konnte. Das können Sie als Eltern ändern.
Eltern geben sich oft der Illusion hin, Kinder seien „unschuldig“ und „vorurteilsfrei“. Sie zeigen in Ihrem Buch auf, dass das nicht stimmt. Ab wann beginnen Kinder, Vorurteile zu entwickeln?
Schon im Kindergartenalter. So wie Kinder lernen, in bestimmten Situationen mit Messer und Gabel zu essen, lernen sie, wie Merkmale mit Bewertungsmustern verwoben sind. Welche Merkmale mit Macht und Akzeptanz verbunden sind und welche weniger, was im Sozialen erwartet und was kommentiert wird. Dazu gehören auch Vorurteile und Rollenbilder. Das heißt, die Kinder sehen zwar zum Beispiel die unterschiedlichen Hautfarben – aber erst durch die Kommentare, die sie hören, erlernen sie bestimmte Botschaften. Kinder mit dunkler Hautfarbe erleben, dass ihre Hautfarbe in Geschichten negativ bewertet wird oder gar nicht sichtbar ist. Sie erleben Ausgrenzungen und werden zu Anderen gemacht, angefasst und abgewertet. Genauso lernen Kinder, dass im Rollstuhl zu sitzen nicht unbedingt mit Zugehörigkeit verbunden ist. Oder dass es ungewöhnlich ist, eine andere Sprache zu sprechen. Wenn etwa die Kindergärtnerin zu einem türkischen Kind sagt: „Hier wird nur Deutsch gesprochen“, dann bekommen die Kinder mit, dass alle Sprachen außer Deutsch abgewertet werden.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass das Leugnen von Unterschieden im Sinne von „Alle Menschen sind gleich“ im Miteinander nicht dazu führt, dass Rassismus verschwindet. Können Sie kurz erklären, wie Sie das meinen?
Nach der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gab es seitens einiger weiß positionierter Antirassisten den Ansatz „Ich sehe deine Hautfarbe nicht“, also die sogenannte Farbenblindheit. Das hilft aber nicht weiter. Denn dann beachtet man auch nicht, dass die Person unter Umständen Diskriminierung erlebt. Menschen sind unterschiedlich und diese Unterschiedlichkeit ist etwas völlig Normales. Das ist ein anderer Ansatz. Hierbei erkenne ich an, dass eine Person zum Beispiel nicht Weihnachten, sondern Ramadan feiert – aber ich bewerte das nicht. Nach dem Diversity-Ansatz, den ich in meinem Buch vorstelle, sagt man zum Beispiel bezogen auf Religion: Die unterschiedlichen Religionen haben alle ihre Berechtigung. Indem ich mir bewusst mache, wie schnell Vorurteile entstehen, kann ich verhindern, dass ich Vorurteile an mein Kind weitergebe.
Viele Erwachsene – ich schließe mich da ein – halten sich generell für tolerant und aufgeschlossen, haben aber „blinde Flecken“. Sie sind sich also ihrer Vorurteile gegenüber manchen Bevölkerungsgruppen nicht bewusst. Wie spüre ich meine blinden Flecken auf?
Ich lade alle am Anfang meines Buchs dazu ein, sich ihrer eigenen Vielfaltsdimension bewusst zu werden: Wie lese ich andere Menschen und wie lesen mich andere Menschen? Welche Herkunft habe ich und welche Erfahrungen mache ich auf dieser Basis? Welche Bildung habe ich, in welchen Kreisen bewege ich mich und wo nicht? Mit welchen Menschen habe ich keinen Kontakt? Dazu finden Sie einige Fragen in meinem Buch. Im zweiten Teil zähle ich einige Stigmata gegenüber Personen mit Behinderung, Armut oder Migrationshintergrund auf. Dagegen setze ich konkrete Fakten und Studien sowie Erfahrungswerte von Betroffenen. Die Idee ist, dass man seine eigene Position hinterfragt: Wie sehr stimmt das, was ich über bestimmte Menschen denke? Und zusätzlich: Was bedeutet es, mit dem Stigma „Migrationshintergrund“ in Deutschland zu leben?
Was kann ich außerdem tun, um Vorurteile abzubauen?
Hinterfragen Sie Ihre Vorurteile auf ihren Faktengehalt und erweitern Sie Ihr Wissen. Da ist essenziell. Zuschreibungen aus der Perspektive der Betroffenen zu verstehen, ebenso. Lernen Sie Menschen kennen! Wenn man gemeinsame Anliegen oder Interessen hat, bekommt man eine Verbindung zueinander. Das Merkmal „Religionszugehörigkeit“ – zum Beispiel – wird dann immer unwichtiger. Dieser interessante Effekt ist in der Vorurteilsforschung gut belegt. Kennt man jemanden persönlich, sieht man individuelle Charakterzüge. Die Zugehörigkeit tritt im selben Maße in den Hintergrund. Dieser Effekt tritt auch auf, wenn Kinder miteinander spielen: Die Hautfarbe spielt keine Rolle mehr, wenn man zusammen knetet oder malt.
Diskriminierung fängt schon im Kindergarten an. Was müsste hier geschehen, damit nicht schon kleine Kinder andere Kinder ausgrenzen oder ausgegrenzt werden?
Bildungsinstitutionen sind dazu angehalten, Vielfalt als Normalität zu zeigen und Kinder darauf vorzubereiten, mit Vielfalt umzugehen. Wenn ich als Elternteil mitbekomme, dass im Kindergarten meines Kindes nicht dieses Credo herrscht, würde ich das unbedingt am Elternabend thematisieren. Man kann seine Bedenken äußern oder einfach fragen: Wie wird verfahren, wenn ein Kind wegen seiner Hautfarbe ausgegrenzt wird? Anhand der Antworten bekommt man einen guten Eindruck, ob eine Sensibilität für diskriminierungsfreie Erziehung vorhanden ist. Man kann auch andere Eltern beim Abholen der Kinder ansprechen. So bekommt man schnell mit, ob es Ausgrenzungserfahrungen gibt und wie der Kindergarten oder die Schule reagiert. Wird das Thema weggeschoben, geht man offensiv damit um oder werden diskriminierende und rassistische Sprüche durchgewunken?
Wie kann ich mein Kind schützen und stärken, wenn es selbst zum Opfer diskriminierenden Verhaltens wird?
Für Eltern deren Kinder von Rassismus betroffen sind, habe ich ein eigenes Buch geschrieben, es heißt „Empowerment als Erziehungsaufgabe“. Es vermittelt Wissen und Strategien, die man dem betroffenen Kind mitgeben kann. An erster Stelle steht, die Erfahrung des Kindes ernst zu nehmen. Es ist schlimm genug, dass in der Gesellschaft Diskriminierungen und Beleidigungen heruntergespielt werden. Wenn die Eltern das auch noch tun, macht es das Kind noch hilfloser. Durch Verletzungen und Herabwürdigungen verinnerlichen Kinder sonst schon in jungen Jahren, dass sie weniger wert sind. Eltern können Schutzräume anbieten, in denen das Kind zu einer Mehrheit und nicht zu einer Minderheit gehört. Diese Erfahrung verändert das Grundgefühl des Kindes. Weiter kann man Vorbilder anbieten und das Selbstbewusstsein des Kindes aufbauen, indem man seine Interessen und Stärken fördert.
Was können Bücher und Spielzeug hier leisten?
Bücher sind sehr wichtig. Ich habe eine ganze Reihe von diversitätssensiblen Geschichten, die Vielfalt zeigen: Papa ist weiß, Mama ist schwarz. Kinder fühlen sich repräsentiert, wenn sie solche Geschichten hören. Wenn man nämlich nicht repräsentiert wird, wirft das Fragen nach der Zugehörigkeit auf. Kinderbücher sollten zeigen, dass wir alle zugehörig sind. Denn alle Menschen haben die gleiche Würde – das ist die Botschaft, die es in der Erziehung braucht.
Was ist die Ubuntu-Philosophie, auf die Sie in Ihrem Buch mehrfach anspielen?
Es ist eine alte Philosophie, die in afrikanischen Ländern weit verbreitet ist. Nelson Mandela oder Desmond Tutu haben nach der Ubuntu-Lehre gelebt. Ubuntu bedeutet: Ich kann nur Mensch sein, wenn du es kannst. In diesem Satz steckt auch, dass ich nur Respekt verlangen kann, wenn ich bereit bin, dir Respekt entgegenzubringen. Wenn ich einer Person in Kategorien begegne, bin ich ihr gegenüber respektlos. Wir sind eine Gemeinschaft der Menschen. Ich habe lange nach einer Grundeinstellung gesucht, die das wiedergibt, was ich unter Erziehung zu Vielfalt verstehe. Diese betont menschliche Herangehensweise an Gemeinschaft ist das, was mir an der Ubuntu-Lehre sehr gefällt.