Zur Abwechslung würzt Marc-Uwe Kling die Vorrede zu einer Känguruveröffentlichung einmal nicht mit Karl Marx, sondern mit einem anderen großen Idealisten der Weltliteratur – Miguel de Cervantes’ Don Quijote. Diese Analogie ist gar nicht einmal so weit hergeholt: Ist der menschliche Protagonist Marc-Uwe nicht auch so etwas wie ein „Ritter von der traurigen Gestalt“ mit seinem chronisch depressiven Phlegmatismus und den Migräneanfällen? Umso mehr in diesem dritten und letzten Teil der Känguru-Chroniken: Das Känguru ist weg. Verschwunden. Einfach abgeschoben. Das macht Marc-Uwe schwer zu schaffen, der seinen stets mit irrwitzigen Einfällen gesegneten Mitbewohner so stark vermisst, dass er anfängt, Selbstgespräche zu führen, um wenigstens eine entfernte Ahnung von Widerspruch zu erfahren. Seine Besuche beim Psychiater sind letztlich auch wenig zielführend, denn der scheint von Mal zu Mal noch irrer zu werden als er ohnehin schon ist und hat jetzt offenbar auch noch einen kleinen Crush auf Marc-Uwe entwickelt.
Und ist das Känguru nicht auch so etwas wie sein Sancho Panza, jetzt mal abgesehen davon, dass es nicht auf einem Esel reitet? (Ist das technisch überhaupt möglich? Können Kängurus rein physisch überhaupt auf Eseln reiten? Hmm.) Sancho Panza ist wahnsinnig verfressen – das Känguru auch (Schnapspralinen!). Und Sancho Panza kommt im historischen Roman um die Abenteuer des fahrenden Ritters die Rolle zu, diesen stets auf Diskrepanzen zwischen seinen eigenen Idealbildern und der Wirklichkeit hinzuweisen. – Check! Genau wie das Känguru!
Das sich dabei allerdings noch ein wenig Feingefühl von seinem literarischen Vorbild abschauen könnte. Dabei nimmt es, genau wie Sancho, die (nur scheinbar) naive Rolle des unbeteiligten Beobachters ein. Wie sich seine exotische Tierhaftigkeit zu seiner wichtigen Funktion als kulturkritischer Kommentator verhält, habe ich übrigens im Text Phänomenologie des Kängurus ausgeführt. Und last but not least: Immer wenn das Känguru die Klappe aufreißt, bezieht Marc-Uwe Prügel. Ganz klare Parallele. Naja, fast. Sancho Panza reitet seinen Herrn nicht dermaßen oft in die Scheiße, wie das Känguru das mit Marc-Uwe tut. Don Quijote ist für sein Unglück die meiste Zeit schon selbst verantwortlich. Aber irgendwo müssen ja auch kleine Abweichungen erlaubt sein, wo bliebe sonst die Spannung zwischen Original und Reprise ...
In Buch zwei der Quijoteschen Abenteuer hat sich der selbsternannte Ritter einen gewissen literarischen Ruhm erarbeitet. Und wie ist es mit Marc-Uwe: ganz klar genauso. Über den Verlauf der drei Känguru-Teile können wir den kometenhaften Aufstieg seiner Karriere vom Kleinkünstler zum Bestsellerautor mit Hollywoodanfrage verfolgen. Last but not Least: in „Die Känguru-Offenbarung“ begeben sich der Anti-Held mit Migränehintergrund und sein bebeutelter Sancho Panza auf eine Irrfahrt: zunächst nach Mecklenburg-Vorpommern und von da aus um die ganze Welt, immer mit der Nase an der Fährte des verschwundenen Pinguins – der ganz wie die schlangenköpfige Hydra mit ihren nachwachsenden Köpfen überall zu sein scheint.
Wenn sie meinen, den schwarzbefrackten Controller-Vogel-Freak endlich gefunden zu haben, hüpft hinter irgendeinem Busch ein anderer hervor und lockt sie erneut in die Irre. Besteht so ihr Anliegen nicht in gewisser Weise auch darin, Windmühlenflügel zu bekämpfen? Am Versuch, dem Kapitalismus mit Witz und Satire beizukommen, sind auch schon andere gescheitert.
Genau wie Cervantes hält Kling der herrschenden Norm aber zumindest einen frisch polierten Spiegel entgegen und legt einmal mehr den Finger in die Wunde, an der so mancher irre Wurmfortsatz der Gesellschaft krankt.
Ein anderes wichtiges literarisches Vorbild zeichnet sich im Titel ab: Die Offenbarung des Johannes, das letzte Buch des neuen Testaments. Kling setzt mit der „Känguru-Offenbarung“ einen Schlusspunkt hinter die Känguru-Erzählungen, es ist das offizielle Ende des dreiteiligen Zyklus. Vielleicht aber auch Ausgangspunkt für einen Neubeginn? Wer weiß das schon, außer dem Autor selbst. Die im Jahr 2018 nachgeschobene Veröffentlichung von „Die Känguru-Apokryphen“ beinhaltet ja eher ein Sammelsurium nichtdatierter Erzählungen aus dem Känguru-Kosmos, die keine fortlaufende Entwicklung beschreiben, sondern Stationen früherer Antiheldentaten. Interessant ist, dass die Offenbarung des Johannes zahlreiche alttestamentarische Motive der Apokalypse wieder aufgreift. Und so schlittert dieser dritte und letzte Teil der Känguru-Chroniken mäandernd und mehr oder weniger ungewollt in einen grandiosen Showdown hinein, in dem nichts anderes als das Ende der Welt in Form einer allumfassenden Pinguinherrschaft droht.
Alte Bekannte und falsch zugeordnete Zitate
Es gliedert sich ganz biblisch in zwei Teile: den ersten, noch etwas episodischer gehaltenen Teil, der durch den roten Faden der noch etwas ungeordneteren Suche nach dem Pinguin zusammengehalten wird. In ihm tauchen einige alte Bekannte wieder auf, wie Jörg Dwigs, Herta, der Psychiater, in einer ausführlicheren Rolle der Lektor und natürlich Wilhelm und Otto-Von. Es kommen neue skurrile Ideen und Figuren hinzu, so die Moderatorin Julia „Muhmuh“ Müller, Fantasy-Autor Wenzel R. R. Skowronek, der durch brüllend komische Passagen aus seinem Hauptwerk „Die Wunderhure“ vertreten ist, vom Känguru mit großer Leidenschaft gelesen und zitiert, und dazwischen gibt es jede Menge falsch zugeordneter Zitate.
Anders als die Urchristen hat das Känguru zu Beginn „keine Lust mehr, auf den Heiland zu warten“ (gemeint ist eigentlich der Polizist, der Mitglied des Asozialen Netzwerks ist und den Tarnnamen „Messias“ trägt) und rettet sich selbst aus der Abschiebehaft, in die es dank dem Ministerium für Produktivität zum Ende von „Das Känguru-Manifest“ geraten ist.
Im 2. Buch der Känguru-Offenbarung begeben sich Marc-Uwe und das Känguru auf die Jagd nach dem verschwundenen Pinguin, um seinen bösartig kapitalistischen Weltvernichtungsplan zu verhindern. Dabei wird endlich enthüllt, was es mit der Vietcong-Vergangenheit des Kängurus auf sich hat und ob das Känguru nicht doch ein dauerkiffendes Känguru namens Kevin in Australien kennt. Die hier schon romanhafte Züge aufweisende Erzählung (Wenzel R. R. Skowronek lässt grüßen?) endet mit einer hoffnungsfrohen Botschaft des Kängurus an seine zwölf Gefolgsleute (da ist er wieder, der biblische Bezug), die Menschheit mit der stärksten Waffe zu retten, die sie besitzt: Humor.
Vielleicht kein schlechter Ratschlag in einer Zeit, die postapokalyptische Endzeitszenarien Realität werden lässt. Das Känguru wusste offenbar schon 2014, dass unsere größte Hoffnung im Kampf gegen eine wesen- und gesichtslose Übermacht das Lachen ist. Auch Humor kann anstecken.