Obzwar schon 2011 erschienen, zwei Jahre nach „Die Känguru-Chroniken“, wirkt „Das Känguru-Manifest“ in den heutigen Zeiten weltweit staatlich verordneter Selbstisolation aktueller denn je. Im Alltag erleben wir derzeit hautnah, wie sich Grundtugenden des Kapitalismus beängstigend schnell selbst aushebeln und in Schieflage geraten, ganz ohne Zutun des Asozialen Netzwerks.
Gestern noch: Home-Office in den guten alten konservativen Arbeitsstrukturen der meisten Unternehmen unmöglich (wo kämen wir denn da hin, wenn alle zu Hause rumfaulenzen statt pünktlich bei der Stechuhr zu stehen), heute: unabdingbar und staatlich verordnet. Verkehrte Welt. Ganz genau wie am Anfang vom „Känguru-Manifest“: plötzlich macht das Känguru all das, wofür Marc-Uwe Kling eigentlich in Teil 1 der Chroniken zuständig war, nämlich den ganzen Tag nicht aus dem Schlafanzug kommen, faul in der Hängematte dösen und Not-to-do-Listen erstellen.
Ein schönes Bild als Parallele zu unserem neuen Alltag zu Hause: Plötzlich sind wir alle weltweit (!) auf uns selbst zurückgeworfen und stellen uns die Frage, WIE und vor allem: WARUM NUR??! – wir es morgens aus dem Bett schaffen sollen. Telefonkonferenz mit dem Team vom Marketing? Kein Problem: Jackett über den Schlafanzug, fertig. Alles unterhalb der (Schreib-) tischplatte sieht eh keine/r, Zähneputzen muss man dafür erst recht nicht und für die fettigen Haare gibt’s ne fesche Kappe. Ganz zu schweigen davon, dass der völlige Shutdown der Weltwirtschaft dafür sorgt, dass die Leute im Home-Office eigentlich gar nichts zu tun haben, außer irgendwie ihre Arbeitszeit verwalten, zwischen dem morgendlichen gemeinsamen Yoga via Google Hangouts und vor der nachmittäglichen Cocktail-Hour über Zoom & Co. Verabredungen, mit denen man meint, Struktur in eine völlig plan- und strukturlose Zeit zu bekommen. Da könnte das Känguru, respektive Marc-Uwe, durchaus als Vorbild herhalten: Lang lebe die Anarchie!
Lasst uns Petitionen schreiben, gehen wir für unser Recht auf Unproduktivität auf die Barrikaden! Wozu überhaupt Struktur: ergeben wir uns doch endlich alle der glänzenden Verführung absoluter Strukturlosigkeit. Lasst uns nur noch ein einziges Wissen weitergeben, nämlich dass wir nichts wissen! Ist es nicht herrlich, ab und zu auch einfach mal Verantwortung abzugeben? Jetzt ist der richtige Zeitpunkt dafür. Legen wir uns in die Hängematte, geben vor Paul Lafargues „Das Recht auf Faulheit“ zu lesen und dösen dabei ein! Und vielleicht, in 6 Wochen, wenn wir dann wieder aufwachen, schütteln wir uns und alles ist wieder beim Alten ... Nun ja. So in der Art.
Man könnte also meinen, Autor Marc-Uwe Kling verfüge über geradezu prophetische Qualitäten – was nicht zuletzt den zahlreichen biblischen Motiven geschuldet ist, mit denen er augenzwinkernd seine Känguru-Satire zur Religion erhebt. Und manch ein Fan lebt ja auch danach: keinen Tag ohne das Känguru, wie zum Beispiel Audible-Redakteurin Blanka. Dabei vefolgt er einfach nur konsequent eine einzige Idee: was passiert, wenn sich ein kommunistisches Känguru und ein gemäßigt anarchistischer Kleinkünstler zu einer WG zusammentun?
Kamen „Die Känguru-Chroniken“ noch als mehr oder weniger zusammenhanglose Aneinanderreihung satirischer Erzählungen daher, kristallisiert sich nun in Teil zwei der Tetralogie, „Das Känguru-Manifest“, ein beginnender roter Faden heraus, der in Teil drei, „Die Känguru-Offenbarung“, schließlich in einer regelrechten Romanhandlung kulminiert. Im „Känguru-Manifest“ bevölkert nun ein Arsenal neuer und später wiederkehrender Figuren die Geschichten, so dass es überhaupt erst möglich wird, von so etwas wie Handlung zu sprechen. Zu ihnen gehören Marc-Uwes Lektor, Friedrich Wilhelm und Otto-Von, Jörg und Jörn Dwigs, das Asoziale Netzwerk und natürlich Gott bzw. Maria nebst ihrem Sohn Jesus. Einen Überblick über die Figurenvielfalt im Känguversum verschafft übrigens unser hilfreiches Känguru-Glossar.
Zum Handlungsverlauf: Weil das Känguru so viel Zeit zu Hause verbringt (sic!), fängt es einen Kleinkrieg mit dem neuen Nachbarn an, einem wortkargen und höchst suspekten Pinguin mit einer Vorliebe für Teewurst. Das Känguru hängt z. B. seinen Boxsack so auf, dass er bei bei jedem Schlag gegen die Wand zur Pinguinwohnung kracht, der Pinguin stellt im Gegenzug mehrere Wecker in Wandnähe, um das Känguru zu ärgern. Es wird schnell klar, dass der Pinguin einfach in allem der kosmische Antagonist des Kängurus ist.
Marc-Uwe und das Känguru treffen auch auf die Brüder Jörg und Jörn Dwigs, die Gründer der rechtspopulistischen Partei "Sicherheit und Verantwortung" (SV). Der SV gelingt bei den nächsten Wahlen der Einzug in die Berliner Stadtregierung. Unter Jörg Dwigs Ägide floriert das „Ministerium für Produktivität“, das mit seiner „Initiative für mehr Arbeit“ gegen die Arbeitslosenzahlen vorgehen will. Zu diesem Zweck teilt das Ministerium u. a. alle Migranten, darunter auch das Känguru (das ja bekanntermaßen einst aus Vietnam mit seiner Mama als Vertragsarbeiter in den sozialisitschen Bruderstaat DDR einreiste) in die Kategorien produktiv oder unproduktiv ein. Klar, dass das Känguru in letzterer Kategorie landet. Und ganz klar ist dieser unheimlich effiziente Pinguinnachbar auch darin sein ganzes Gegenteil: der ist arbeitsam und superproduktiv. Schon aus Prinzip, aber auch aus Protest gründet das Känguru das Asoziale Netzwerk, welches gezielte Anti-Terror-Anschläge gegen „das System“ verübt.
„Es ist hohe Zeit, dass das Känguru seine Anschauungsweise, seine Zwecke, seine Tendenzen vor der ganzen Welt offen darlegt und dem Märchen vom Asozialismus ein Manifest des Kängurus entgegenstellt.“
(K II, DKM: Vorwort)
Auch dieser politische Erzählstrang erinnert plötzlich auf höchst unangenehme Weise an die aktuelle Situation: Beängstigend laut werden derzeit die Rufe nach dem „starken Mann an der Spitze“ und zwangsweise durchgesetzten Ausgangssperren für Unbelehrbare während Notstandsgesetze regieren und auch in der bunten Republik Deutschland scheinbare Grundfesten der Demokratie purzeln wie die Dominosteine: Handydatenauswertung, um Bewegungsprofile für Infizierte zu erstellen – check! Und wie nebenbei wird Ungarn zur per Dekret regierten Diktatur. Kapitalistische Weltverschlechterung, ganz ohne Pinguin – und definitiv ohne Plan. Auf der anderen Seite bekommen dank wegbrechender Einkommen bei Kulturschaffenden, in der Gastronomie und bei Selbstständigen jeder Couleur jetzt auch diejenigen mehr Gehör, die noch vor wenigen Wochen fest mit dem Stempel „utopisch“ versehen waren, mit der Forderung nach Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens. Alles scheint möglich, mancheine/r besingt nun eine Gesellschaft, die auf „Reset“ gesetzt wurde und glaubt, nach drei, sechs oder neun Wochen Stillstand habe der wuchernde Kapitalismus ausgedient und wir hätten die Chance auf einen faireren Neuanfang. Well ...
Bei all der Neuanfangshysterie leg ich mich jetzt besser mal wieder in meine Hängematte und arbeite an meiner Not-to-do-Liste. Auf Position 1 steht definitiv „Mich mit volkswirtschaftlichen Fragen beschäftigen“. Danach kommt gleich „Kein Klopapier kaufen“ (brauch ich nämlich dringend, deshalb die doppelte Verneinung, ist seit Wochen irgendwie ausverkauft). Und das Bad werde ich schon mal garantiert nicht putzen.