Wenn Schurken im Dämmerlicht der Gaslaternen ihren ruchlosen Geschäften nachgehen und Detektive nur mit Lupe und Kombinationsgabe ausgefuchste Fälle lösen, sind wir mittendrin im viktorianischen Krimi. Das Sub-Genre boomt – mit Streaming-Serien und Filmen wie „Carnival Row“, „The Alienist“ oder der Jugendkrimi-Serie „Enola Holmes“; mehr aber noch in gedruckter Form und im Hörbuch. So sind allein in der „Baker Street Bibliothek“ eines kleinen Verlages mehr als zwanzig Krimis erschienen, die im viktorianischen Zeitalter angesiedelt sind. Darunter die beliebte Reihe rund um „Inspector Swanson“.
Die viktorianische Ära bietet offenbar grenzenlosen Erzählstoff – und wen wundert es, reden wir doch von einer Epoche enormer technischer und gesellschaftlicher Umwälzungen. Benannt wurde sie nach der langen Regentschaft von Königin Viktoria, die von 1837 bis 1901 an der Spitze des riesigen British Empire thronte.
In dieser Zeit, in der die Industrialisierung an Fahrt aufnahm und Wirtschaft und Handel florierten, nahm auch die moderne Polizeiarbeit ihren Anfang. Die Erfindung der Daktyloskopie machte es ab 1858 möglich, Personen anhand ihrer Fingerabdrücke zu identifizieren und so Täter zu überführen. Die ersten Kriminalpsychologen – noch als „Seelenärzte“ bezeichnet – erforschten die Motive Krimineller. Und Forensiker brachten mithilfe der Toxikologie und Ballistik Leichen zum Sprechen.
"In der Regel haben die Verbrechen auch etwas mit den gesellschaftlichen Moralvorstellungen zu tun, die sich in dieser Zeit ändern – womit nicht jeder gut umgehen konnte. Insofern sind die Bücher sehr aktuell, denn auch heute befinden wir uns in einer Epoche großer Umbrüche."
Sandra Thoms, Verlegerin (Dryas-Verlag)
Sherlock Holmes: Prototyp des Privatdetektivs
Diese rasanten Fortschritte schlagen sich in der Krimiliteratur der Zeit nieder. Dafür steht besonders ein Name: Sherlock Holmes. Mit seiner außergewöhnlichen Beobachtungsgabe und verblüffenden Kombinationsfähigkeit lässt der berühmtesten aller fiktiven Privatdetektive die Londoner Kriminalpolizei ein ums andere Mal alt aussehen. Viele viktorianischen Krimis sind unverhohlene Hommagen an den Mann mit dem Deerstalker-Hut und der Pfeife. Allein von den klassischen Sherlock-Holmes-Pastiches gibt es laut Wikipedia eindrucksvolle 265 Stück. Kurzgeschichten und Graphic Novels nicht mitgerechnet.
Ein Spiritist und seine rationale Schöpfung
Sherlock Holmes‘ analytische Arbeitsweise entsprach ganz dem Geist der Epoche. Wobei längst noch nicht ausgemacht war, wo genau die Grenze zwischen Wissenschaft und Aberglaube verläuft. Denn neben den empirischen Wissenschaften blühten von etwa 1850 bis 1890 auch der Spiritismus und der Okkultismus. London galt als Mekka der Geistergläubigen; Zehntausende waren davon überzeugt, dass man mithilfe eines „Mediums“ Kontakt zu Verstorbenen aufnehmen könne. Auch Arthur Conan Doyle. Seine unsterbliche Schöpfung fand für jedes Rätsel eine logische Erklärung. Doyle dagegen reiste in seinen späten Jahren um die Welt, um seinen Zuhörern zu versichern, dass Geister und Elfen sich auf Fotographien manifestieren.
Wer im England des 19. Jahrhundert lebte, konnte also mit beiden Beinen auf dem Boden der neuen Tatsachen stehen – und trotzdem am Abend an einer spiritistischen Séance teilnehmen. Vielleicht liegt es an diesen Widersprüchen, dass sich auch fantastische und mystische Elemente so geschmeidig in die Kulisse des viktorianischen Krimis einfügen. Steampunk-Romane gehen sogar noch einen Schritt weiter und mischen den Stil des 19. Jahrhunderts ungeniert mit moderner Technik im Retrolook.
Cosy Crime: Kuschel-Krimis aus dem viktorianischen England
Doyle trauerte nach dem Tod seines Sohnes, der im Ersten Weltkrieg fiel, wohl auch einer untergegangenen guten alten Zeit nach. Er glaubte an ein Jenseits, das im Wesentlichen so aussah, wie die behagliche bürgerliche Welt des viktorianischen Zeitalters – ohne Verbrechen und Morde, versteht sich.
Verständlich – schließlich lädt das viktorianische Zeitalter Literaturfreunde bis heute zu nostalgischer Träumerei ein. Eine gewählte Ausdrucksweise, hintersinniger Humor und Verbrecher mit ausgezeichneten Manieren beschwören besonders im viktorianischen Cosy Crime eine Zeit herauf, in der eine Verfolgungsjagd nie schneller war, als eine Pferdekutsche übers Kopfsteinpflaster holperte. Wie erholsam, denn so bleibt Lesern und Hörern genügend Zeit zum Miträtseln.
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Die dunkle Seite des viktorianischen Londons
Doch heutige Krimiautoren suchen sich im Dunstkreis der Baker Street auch düsterere Themen. Schließlich gab es neben den behaglichen Stuben der Oberschicht auch noch ein anderes London: ein finsteres, ungesundes, gefährliches. Zwei Drittel aller Briten gehörten im 19. Jahrhundert der sozialen Unterschichte an. Die eine Hälfte schuftete für mickrige Löhne und bis zur Erschöpfung auf Feldern, in Fabriken oder in reichen Haushalten. Die andere Hälfte schlug sich als Tagelöhner oder mit Jobs am Rande der Legalität durch.
"Aktuelle Krimis greifen die Sicht weniger privilegierter oder vom Gesetz her nicht gleichgestellter Personen auf. So ist Feminismus ein großes Thema oder die Geschichten queerer Personen oder von People of Color. Was wiederum zeigt, wie vielfältig und bunt unsere Welt schon immer war – und jetzt kommen diese Stimmen auch zum Tragen."
Sandra Thoms, Verlegerin (Dryas-Verlag)
Dieses andere London war ein stinkender Moloch. Die hygienischen Verhältnisse spotteten jeder Beschreibung, denn der Wohnungsbau konnte mit dem rasanten Bevölkerungswachstum der Zeit nicht Schritt halten. Ein idealer Nährboden nicht nur für Krankheiten, sondern auch für Verzweiflung und Kriminalität.
▶ Auch in diesen Krimis ist London Schauplatz schauriger Verbrechen.
Wer dieses andere, finstere London des viktorianischen Zeitalters heraufbeschwören möchte, braucht dafür nur einen Namen zu nennen: Jack the Ripper. Die Jagd nach dem berühmtesten Serienmörder der Geschichte löste schon zu seiner Zeit einen wahren Medienhype aus. Romane und Theaterstücke, Filme und sogar ein eigenes Museum widmen sich bis heute dem Unbekannten, der mindestens fünf Prostituierte bestialisch ermordete. Die Fahndung nach dem Phantom gilt als erster Versuch, einem Täter durch kriminologisches Profiling auf die Spur zu kommen.
Aufbruchsstimmung im British Empire
Elend und Glanz, Brutalität und Behaglichkeit – es sind diese Kontraste, die das viktorianische England als Kulisse für historische Krimis so attraktiv machen. Die Welt steht an der Schwelle zu einer neuen Epoche und dieser Wandel geht von Großbritannien aus. Als unangefochtene Herrscher der Weltmeere baut das British Empire die Macht über seine Kolonien immer weiter aus; auch mithilfe der neuen Technologien. London, die reichste und mächtigste Stadt des Erdballs, ist buchstäblich der Nabel der Welt. Die zusammengedampfte Essenz einer ganzen Epoche – hier wird sie sichtbar.
Immer gut für einen Gastauftritt: die Klassiker des 19. Jahrhunderts
All diese Entwicklungen faszinierten schon die Schriftsteller der damaligen Zeit. Viele von ihnen gehören bis heute zum klassischen Kanon und sind uns vertraut: Oscar Wilde und Bram Stoker, Edgar Allan Poe, Mary Shelly und Jules Verne, Herman Melville, Charles Dickens oder George Eliot.
So mancher von ihnen hat in den viktorianischen Krimis heutiger Autoren einen Gastauftritt. Der Autor David Morell – übrigens der Erfinder von „Rambo“ – hat dem Essayisten Thomas De Quincey sogar eine eigene Krimireihe gewidmet: Gemeinsam mit dem fiktiven Detective Shawn Ryan bildet der als Opiumesser bekannte Skandalautor ein unorthdoxes Ermittlerduo. Genügend Gründe also, dem guten alten Sherlock ein Päuschen zu gönnen und sich abseits der Baker Street nach neuem viktorianischen Krimistoff umzuhören.
Weitere viktorianische Krimis
Auch in diesen historischen Krimis bildet das England Queen Victorias den farbenprächtigen Hintergrund für spektakuläre Kriminalfälle.
Noch mehr viktorianischer Mash-Up
Neben den zahlreichen Sherlock Holmes Spin-Offs und Adaptionen gehören auch weitere Romanfiguren zum Literatur-Trend einer Wiederaufnahme der viktorianischen Ära.
Unter den kultigsten Romanfiguren des viktorianischen Univerums findet sich Phileas Fogg, der Protagonist des Jules Verne-Romans In achtzig Tagen um die Welt. In der Hörspielserie Jules Verne – Die neuen Abenteuer des Phileas Fogg begegnet der exzentrische englische Gentleman Figuren wie Dr. Jekyll und Mycroft Holmes.