Seine Eltern riefen ihn schlicht „Boy“. Schließlich hatte Roald Dahls Mutter außer ihm noch vier Mädchen zur Welt gebracht. Bis zu ihrem Tod unterschrieb der spätere Autor die wöchentlichen Briefe an seine Mutter mit „Love, Boy“. Es sollten mehr als 600 werden.
Diese Mutter wurde bald zum alleinigen Fixstern seiner Kinderjahre. Denn schon 1920 starb Roald Dahls Vater an einer Lungenentzündung – und wohl auch an einem gebrochenen Herzen. Nur einen Monat zuvor hatten die Eltern Dahls siebenjährige Schwester Astri begraben müssen. Die 35-jährige Sofie, eine gebürtige Norwegerin, blieb allein mit vier eigenen sowie zwei Stiefkindern aus der ersten Ehe ihres Mannes in Wales zurück, wo die Familie lebte.
Um dem Wunsch des Verstorbenen nachzukommen, schickte Sofie den kleinen Roald mit acht Jahren auf ein englisches Internat. Dahls Vater war der Meinung gewesen, die englischen Schulen seien die besten der Welt. Tatsächlich wurde dort vor allem eiserne Disziplin gelehrt. „Nur Verbote, Verbote und strenge Regeln, denen man blindlings gehorchen musste. Und die ganze Zeit fürchteten wir den Rohrstock wie den Tod“ erinnert sich der Autor in seiner Autobiografie an die brutale Schulzeit.
Die Prügelstrafe galt im Internat als probates pädagogisches Mittel. Kinder wurden wegen minimaler Vergehen – liegengelassener Socken, Sprechen während der Hausaufgaben – mit dem Stock auf den nackten Po geschlagen. Immerhin lieferte das Personal dieser Lehranstalten reichlich Inspiration für Roald Dahls spätere Kindergeschichten: Diese wimmeln nur so von sadistischen, widerwärtigen Kinderhassern. Etwa die Schulleiterin Miss Trunchbull, die die kleine Mathilda und ihre Mitschüler an der Crunchem Hall tyrannisiert. Eine Neuverfilmung des Kinderbuchklassikers wird ab dem 25. Dezember 2022 bei Netflix zu sehen sein.
Doch es gab auch Schönes in Dahls Kindheit. So durften die Schüler des Gymnasiums in Repton neue Sorten der Schokoladenfabrik Cadbury testen. Ein Privileg, dem wir einen der fantasievollsten Klassiker der englischen Kinderliteratur verdanken, wie Dahl in seiner Biografie erzählt:
„Als ich fünfunddreißig Jahre später auf der Suche war nach einer spannenden Geschichte für mein zweites Kinderbuch, da habe ich mich an diese kleinen grauen Pappschachteln mit den neuerfundenen Schokoladensorten erinnert, und da hatte ich das Thema für mein Buch Charlie und die Schokoladenfabrik.“
(Roald Dahl: "Boy. Schönes und Schreckliches aus meiner Kinderzeit")
Bis heute liefert diese Geschichte so viel Stoff, dass Netflix aktuell gleich zwei Serien auf Basis des Buchs entwickeln lässt.
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Durch schriftstellerisches Talent fiel der Junge zu Gymnasialzeiten noch nicht auf. Im Gegenteil: In einem Zeugnis bescheinigte sein Englischlehrer dem damals 15-Jährigen „ein unbelehrbar konfuser Denker“ zu sein und schrieb über ihn: „Karger Wortschatz. Falsch konstruierte Sätze. Er erinnert mich an ein Kamel.“
Dennoch entdeckte Roald Dahl in Repton seine Liebe zur Literatur – wenn auch an einem reichlich prosaischen Ort oder besser: Örtchen. Ein älterer Schüler hatte ihn dazu verdonnert, ihm im ungeheizten Bad die Klobrille vorzuwärmen.
„Im Laufe meines ersten Winters in Repton habe ich beim Sitzen auf dem Boazers-Klo praktisch die Gesammelten Werke von Charles Dickens durchgelesen.“
(Roald Dahl: "Boy. Schönes und Schreckliches aus meiner Kinderzeit")
Als „Boazer“ bezeichnete Roald Dahl die Präfekten der Repton School; ältere Schüler, denen erzieherische Aufgaben übertragen wurden.
Roald Dahl: Pilot, Agent, Schriftsteller
Dahl war sportlich, gutaussehend und außerdem ein talentierter Fotograf. Mit gerade einmal achtzehn Jahren besaß er bereits mehrere internationale Auszeichnungen für seine Aufnahmen. Doch weil er vom Stillsitzen und Lernen erst mal genug hatte, verzichtete er auf ein Studium und begann stattdessen eine kaufmännische Ausbildung bei der Shell Oil Company.
Er träumte von exotischen Abenteuern – und bekam sie: Shell schickte ihn nach Tanganjija, ins heutige Tansania. Dahl lernte Suaheli, sah Löwen, Giraffen, Schlangen und Elefanten und verkaufte Shell-Öl an Diamantminen und Sisalplantagen. Dann brach der Zweite Weltkrieg aus.
Roald Dahl ließ sich zum Jagdflieger ausbilden und flog Einsätze über der Libyschen Wüste, in Ägypten und im Nahen Osten. Nach einer missglückten Notlandung, bei der er sich die Nase brach und nur knapp aus dem brennenden Flugzeug schleppen konnte, verbrachte er ein halbes Jahr in einem Krankenhaus in Alexandria. Kaum genesen, stieg er wieder ins Flugzeug, um über der griechischen Küste deutsche Bomber abzuschießen. Wie knapp er dabei mit dem Leben davon kam, davon erzählt er im zweiten Teil seiner Biografie „Going Solo“.
In Folge seines Flugzeugabsturzes litt Dahl unter chronischen Kopfschmerzen und wurde darum 1942 nach Washington versetzt. Dort arbeitete er offiziell als „Assistant Air Attaché“ – und inoffiziell als Agent des britischen Geheimdienstes. Seine Kriegserlebnisse sollten zum Stoff seines ersten Buchs werden, das er ironisch „A Piece of Cake“ nannte.
Sein zweites Buch, „The Gremlins“, ist ebenfalls von seinen Erlebnissen als Pilot bei der Royal Air Force inspiriert. Dort mussten die boshaften kleinen Fabelwesen als Erklärung für mechanische Probleme und Pannen herhalten. Viel später sollte Steven Spielberg auf Basis des Buchs einen erfolgreichen Film drehen, der allerdings wenig mit der ursprünglichen Geschichte zu tun hatte.
In den frühen 50er-Jahren schrieb Dahl Kurzgeschichten für Erwachsene, die für ihren makabren Humor geschätzt wurden. Doch erst mit der Geburt seiner Tochter Oliwia 1954 entdeckte der Autor sein wahres Talent. Der enthusiastische Vater beschloss, sich jeden Abend eine neue Geschichte für sein kleines Mädchen auszudenken. Seine überbordende Fantasie lieferte ihm reichlich Stoff. Und seine glamouröse Ehefrau, Hollywood-Star und Oscar-Preisträgerin Patricia Neal, gebar vier weitere Kinder, die allabendlich unterhalten werden wollten.
Roald Dahl, mittlerweile selbst Teil des Hollywood-Jetset, schrieb und schrieb: „James und der Riesenpfirsich“ (1961), „Charlie und die Schokoladenfabrik“ (1964), „Der Zauberfinger“ (1966), „Der fantastische Mr. Fox“ (1970), „Danny oder Die Fasanenjagd“ (1975), und, und, und. Die Ideen schienen ihm nie auszugehen.
Er wurde reich und berühmt. Mit seiner Familie zog er in ein exzentrisches Cottage, in dem er sich liebevoll um seine Frau kümmerte, die während ihrer fünften Schwangerschaft eine Reihe von Schlaganfällen erlitten hatte. Übrigens stammt auch das Drehbuch zum James-Bond-Film „Man lebt nur zweimal“ aus seiner Feder – mit dem Agentenleben kannte Dahl sich ja aus.
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Das 1982 erschienene Buch „Sophiechen und der Riese“ verfasste Roald Dahl für seine Enkeltochter Sophie, die nach ihrer Model-Karriere in die Fußstapfen ihres berühmten Großvaters getreten ist. Roald Dahl widmete „The BFG“ – so der englische Originaltitel – aber nicht seiner Enkelin, sondern seiner ältesten Tochter Olivia, die – genau wie Dahls Schwester 42 Jahre zuvor – im Alter von nur sieben Jahren starb.
Es ist eine Geschichte, in der Kinder von menschenfressenden Riesen gefangen werden, die Namen wie „Knochenknacker“, „Mädchenmanscher“ oder „Kinderkauer“ tragen. Kinder können sich wunderbar über solche Einfälle amüsieren. Erwachsene lesen aus den grausamen Passagen seiner Kinderbücher die traurige Erfahrung heraus, dass Kinder unerwartet aus dem Leben gerissen werden können. Wie andere berühmte Kinderbuchautoren seiner Generation auch war Dahl der Meinung, dass man Kindern schlimme Wahrheiten durchaus zumuten dürfe.
Roald Dahls Kindergeschichten: Alles außer harmlos
So fantastisch und lustig Roald Dahls Geschichten auch sind: harmlos sind sie nie. Sie werden mit der Zeit sogar immer schwarzhumoriger. „Kinder lieben Gewalt, sie sind von Natur aus aggressiv“, glaubte der Autor. Wie in alten Volksmärchen ist die Welt in Dahls Büchern klar in „Gut“ und „Böse“ eingeteilt. Seine Helden sind gewitzte und einfallsreiche Kinder, die am Ende über die gemeinen Erwachsenen triumphieren und fürstlich belohnt werden. Dafür ist ihnen im Zweifel (fast) jedes Mittel recht. Sein 1983 erschienenes Buch „Hexen hexen“ ist aus heutiger Sicht so böse und gruselig, dass es kaum noch als „kindgerecht“ bezeichnet werden kann.
„Dahls Kinderbuchklassiker leben vielleicht sogar explizit davon, dass sie etwas Maliziöses, Ruppiges, Wüstes, Unberechenbares haben.“
(Wieland Freund in der „Welt“ vom 13.9.2016)
Roald Dahl: Streitbar bis zum Schluss
Roald Dahl blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1990 ein streitbarer Geist und umstrittener Mensch. Er provozierte gerne und hatte keine Probleme damit, anzuecken. Auf den Vorwurf hin, er sei Antisemit, gab er offen zu: „I am certainly anti-Israel, and I have become anti-semitic.“ Erst 30 Jahre nach seinem Tod entschuldigten sich seine Hinterbliebenen in seinem Namen für die „vorurteilsbeladenen Bemerkungen“ die „in scharfem Kontrast“ stünden „zu dem Menschen, den wir kannten und zu den Werten, die den Kern von Roald Dahls Geschichten ausmachten“.
Wie auch immer man zu seiner Person stehen mag: Roald Dahls Kindergeschichten sind bis heute ein schier unerschöpflicher Fundus. Alle 2,6 Sekunden wird irgendwo auf der Welt eines seiner in 63 Sprachen übersetzten Bücher verkauft, hat mal ein Experte ausgerechnet. Sein kultureller Nachlass ging im September 2021 komplett in den Besitz von Netflix über – dem Streaming-Anbieter waren die Rechte an seinem Gesamtwerk mehr als 500 Millionen Pfund wert.
Neben den schon erwähnten Serienversionen von „Charlie und die Schokoladenfabrik" sowie der Musical-Version von „Matilda“ arbeitet der Streaming-Anbieter aktuell an einer Filmadaption der Kurzgeschichte „The Wonderful Story of Henry Sugar“.
Regie führt Wes Anderson, der 2009 bereits „Der fantastische Mr. Fox“ verfilmt hatte; die Hauptrolle spielt mit Benedict Cumberbatch einer der renommiertesten britischen Schauspieler. Eines scheint also sicher: Willy Wonka, Matilda oder den liebenswerten GuRie werden wir so schnell nicht vergessen.
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