Der Vorleser, Bernhard Schlinks berühmtestes Buch, wurde in mehr als 50 Sprachen übersetzt und verfilmt. Das Buch gehört in Deutschland zur Schullektüre. Die amerikanische Übersetzung hat es als erstes deutsches Buch auf Platz 1 der "New York Times”-Bestsellerliste geschafft. Allerdings ist der Roman umstritten. Hier erfährst du, warum.
Im Rahmen der Reihe Audible Essentials fassen wir die unserer Meinung nach wichtigsten Bücher im deutschsprachigen Audible-Katalog zusammen und präsentieren unsere Bewertung, sowie Hintergrundinformationen zu den einzelnen Büchern. So könnt ihr aus einer von uns kuratierten Sammlung euer nächstes Hörbuch auswählen.
Audible Essentials: Die wichtigsten deutschen Audible-Bücher
Auf einen Blick: Was anderen an "Der Vorleser" gefällt – und was nicht
Der Roman wurde im In- und Ausland größtenteils wohlwollend aufgenommen. Positiv wurden Schlinks präziser Stil, seine direkte Erzählweise und der außergewöhnliche Blickwinkel auf das Thema Vergangenheitsbewältigung bewertet.
Strukturiert: Der Roman ist klar in drei Teile gegliedert, wobei jeder Teil einen bestimmten Abschnitt der Ereignisse schildert.
Gut verständlich: Der narrative Stil ist detailliert und dennoch leicht zu verfolgen.
Spannend: Hinweise, die oberflächlich erscheinen mögen, sind geschickt über das Buch verteilt und tauchen wieder auf, wenn sich die wichtigste Wendung der Geschichte abzeichnet.
Tiefgründig: Das Buch wirft philosophische oder sogar existenzielle Fragen auf.
Was andere an "Der Vorleser" kritisieren
Neben dem Lob hat Bernhard Schlink scharfe Kritik für sein bekanntestes Buch einstecken müssen.
Vereinfachend: Der Oxford-Professor und Germanist Jeremy Adler hat den Roman im "Times Literary Supplement" vom 22. März 2002 als Beispiel für "Kulturpornographie" genannt. Der Roman vereinfache die Geschichte und zwinge seine Leser, sich mit den Tätern zu identifizieren.
Kitschig: In einer vernichtenden Kritik für die "Süddeutsche Zeitung" hat der Kritiker Willi Winkler den Roman als "Holo-Kitsch" bezeichnet.
Unglaubwürdig: Die späte Läuterung der ehemaligen KZ-Aufseherin Hanna Schmitz, die kurz vor ihrem Tod wissenschaftliche Literatur über Konzentrationslager sowie Augenzeugenberichte von Opfern der NS-Diktatur liest, erscheint der Kritikerin Nora Bierich in einem Beitrag für "zeitgeschichte online" "nicht nur unglaubwürdig, sondern zynisch".
Klischeehaft: Der Kritiker Raphael Gross führt in der FAZ aus, warum das Buch seiner Ansicht nach "Klischees über Juden" zementiere.
Worum geht es eigentlich? "Der Vorleser" zusammengefasst
Im Deutschland der Nachkriegszeit verliebt sich der 15-jährige Michael Berg in die 36-jährige Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz. Sie kümmert sich um ihn, als er sich wegen einer Gelbsucht-Infektion auf dem Heimweg übergibt. Zwischen den beiden entwickelt sich eine intensive Affäre. An ihrem Innenleben oder ihrer Vergangenheit lässt Hanna Michael jedoch nicht teilhaben. Die Affäre findet ein jähes Ende, als Hanna ohne Vorwarnung wegzieht. Jahre später erkennt Michael, inzwischen Jurastudent, Hanna als Mitangeklagte in einem Kriegsverbrecherprozess wieder. Als Hannas Vergangenheit als KZ-Aufseherin aufgedeckt wird, muss sich Michael mit Schuldgefühlen auseinandersetzen.
Die Nachgeborenen und die Tätergeneration
Bernhard Schlink, der Rechtsphilosophie an der Universität Frankfurt lehrte, macht hier das Verhältnis seiner eigenen Generation zu den Taten der Generation seiner Eltern zum Inhalt. Dabei entscheidet er sich für einen ungewöhnlichen Blickwinkel: Durch die Liebesaffäre zwischen Hanna und Michael bekommen Fragen nach Schuld und Verantwortung einen private Dimension. Damit führe der Roman "den künstlichen Gegensatz zwischen Privatheit und Politik ad absurdum“, so Rainer Moritz in der Zeitung "Die Welt" (Ausgabe vom 15. Oktober 1999).
Charaktere von "Der Vorleser”
Michael Berg
Der 15-jährige Michael Berg wird als verträumt, fürsorglich und etwas naiv dargestellt. Er versucht er, seiner älteren Geliebten zu gefallen, ordent sich ihr unter und passt sich ihren Forderungen an. Seinen Eltern verheimlicht er die Beziehung. Als junger Erwachsener leidet Michael an der nicht bewältigten Abhängigkeitsbeziehung zu Hanna. Er wird als bindungsunfähig geschildert; seine Ehe scheitert. Die Erkenntnis, dass er eine Verbrecherin geliebt, stürzt ihn in ein moralisches Dilemma. Der ältere Michael Berg schließlich zeigt Schuldbewusstsein und Reflexionsfähigkeit.
Hanna Schmitz
Die anfangs 36-jährige Hanna Schmitz ist Straßenbahnschaffnerin. Sie wird als sturer und widersprüchlicher Charakter geschildert. Sie manipuliert Michael, indem sie beispielsweise verlangt, dass er sich für Situationen entschuldigt, die durch ihr eigenes Verschulden entstanden sind. Hanna verheimtlicht ihre Vergangenheit als KZ-Aufseherin sowie die Tatsache, dass sie Analphabetin ist. Ihre Reue und ihr später Versuch, Erlösung zu finden, entstehen eher aus Egoismus als aus Aufrichtigkeit. Ihr Suizid gegen Ende der Geschichte kann als Zeichen ihres Schuldbewusstsein interpretiert werden.
Über den Autor Bernhard Schlink
Bernhard Schlink wurde 1944 als Sohn eines Theologieprofessors und führenden Vertreters der Bekennenden Kirche in der Nähe von Bielefeld geboren. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Heidelberg und in Berlin begann er seine akademische Laufbahn als Wirtschaftlicher Assistent an verschiedenen Universitäten. Unter anderem arbeitete er mit Walter Popp zusammen, mit dem er später auch seinen ersten Krimi "Selbs Justiz" verfasste (später als "Der Tod kam als Freund" verfilmt). Der Band war der erste Teil der Trilogie um den Privatdetektiv Gerhard Selb, die Schlink mit den Bänden "Selbs Betrug" und "Selbs Mord" im Alleingang abschloss.
Zu diesem Zeitpunkt war er bereits zum Richter am Verfassungsgerichtshof Land Nordrhein-Westfalen ernannt worden. Schlinks Methode, ein Problem zu entfalten, bevor er es zu lösen versucht, spiegelt die typische juristische Herangehensweise wider. Die Trilogie enthielt bereits einige Elemente, die in "Der Vorleser" zu finden sind: Die Hauptfigur, Gerhard Selb, ist gezwungen, sich mit seiner eigenen Vergangenheit als Staatsanwalt während des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, während er Fälle aus der Gegenwart zu lösen versucht.
Trotz des internationalen literarischen Erfolgs arbeitete Schlink bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2009 weiterhin als Universitätsprofessor, Richter und Rechtsanwalt.
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Was andere über "Der Vorleser" sagen
Insgesamt gelingt es Bernhard Schlink, mit dem Roman "Der Vorleser" vor allem aufmerksam zu machen, und sensibilisiert den Einzelnen für die schwierige Frage nach Schuld und Verantwortung für die (eigene) Vergangenheit im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg.”
Meiner Meinung nach hat es Bernhard Schlink mit diesem Werk geschafft, das Thema des Nationalsozialismus in Deutschland und die dazugehörige Vergangenheitsbewältigung von einem völlig anderen Gesichtspunkt aus zu beleuchten.
Wer glaubt, Schlink wolle mit der Leseschwäche seiner Hanna die Ursache des Schreckens ein für alle Mal bestimmen, verrät mehr über seine eigene Lese- und Urteilspraxis als über die Haltung des Autors. Dieser Roman ist aufklärerisch: Er entlarvt den (vor-)urteilenden Leser.
Bernhard Schlink: "Ich wollte über meine Generation schreiben. Ich habe kein Holocaust-Buch geschrieben - dass ich es getan hätte, ist noch eine krasse Fehldeutung. Ich habe ein Buch über meine Generation im Verhältnis zur Elterngeneration und zu dem, was die Elterngeneration gemacht hat, geschrieben.”
Ausgewählte Audible Bewertungen
★★★★★ "Die alte Frage nach Schuld oder Verständnis bleibt im Kopf, die Täterin bekommt hier ein Gesicht und es ist Schlinks Schluss-Szene zu verdanken, dass man nicht ins Wanken kommt und sich für "schuldig" entscheidet. Aber die bohrende Frage nach dem "was wäre wenn...." bleibt offen und ist heute genauso brisant wie vor 70 Jahren.”
Audible-Hörer:in Leseratte
★★★★☆ "Bernhard Schlink kann unglaublich gut Bilder sprechen lassen und damit Stimmung erzeugen. Es ist fast, als wäre man dort. Selbst das Treppenhaus, in dem Hanna wohnt, erinnert an die faschistische Zeit. Man darf dieses Buch also nicht grob und oberflächlich lesen, als wäre es eine Liebesgeschichte mit "etwas Geschichte".
Audible-Hörerin Mona
★★★☆☆ "Es ist eine durchaus gute (aber nicht großartig) erzählte Geschichte, auch wie sie in den historischen Kontext eingebaut wird und das Thema Analphabetismus aufgreift. Allerdings wird doch sehr erstaunlich positiv mit dem Thema Kindesmißbrauch umgegangen.”
Audible-Hörer Felix
FAQ zu "Der Vorleser"
Ist "Der Vorleser" autobiografisch?
Obwohl der Roman aus der Sicht des Ich-Erzählers geschrieben ist und die Charaktere in die Realität eintauchen, die dem Aufbringen des Autors nahe kommt, handelt die Geschichte von einer fiktiven Figur namens Michael Berg, der seine eigene Lebensgeschichte erzählt .
Wer hat "Der Vorleser" geschrieben?
"Der Vorleser" ist der erste Nicht-Krimi-Roman des deutschen Autors Bernhard Schlink aus dem Jahr 1995.
Warum ist "Der Vorleser" so umstritten?
Zahlreiche Intellektuelle kritisieren das Buch, weil es die Leser dazu auffordert, Mitgefühl für eine reuelose Mörderin zu empfinden. Einige Kritiker gingen so weit, dem Autor "Kulturpornografie", Kitsch und Verharmlosung der Nazi-Gräueltaten vorzuwerfen.
Was macht das Buch "Der Vorleser” so berühmt?
Bernhard Schlinks Buch wurde in mehr als 50 Sprachen übersetzt und auch verfilmt. Während das Buch in Deutschland inzwischen zur Schullektüre gehört, hat es die amerikanische Übersetzung in den USA als erstes deutsches Buch auf Platz 1 der "New York Times”-Bestsellerliste geschafft.
Wo spielt "Der Vorleser”?
Verschiedene geographische Details im Roman lassen auf Heidelberg als Schauplatz des Romans "Der Vorleser” schließen, wobei der Ort nicht explizit benannt wird.
Ist "Der Vorleser” eine wahre Geschichte?
Der Autor Bernhard Schlink hat immer angegeben, dass die Figuren nicht auf real existierenden Personen basieren, dennoch sind Gemeinsamkeiten in Biografien von Personen dieser Zeit offensichtlich.
Schon gewusst? Interessante Fakten rund um "Der Vorleser"
"Der Vorleser" spielt in den späten 50er Jahren, als der Autor selbst in einem ähnlichen Alter gewesen wäre wie Michael, die Hauptfigur, die wie der Autor ein Jurastudium absolviert. Schlinks Eltern waren Theologen, so dass Schlink vermutlich häufig mit Gedanken rund Schuld, Erlösung und Vergebung konfrontiert war. Sein Vater war eine führende Persönlichkeit der regimekritischen Bekennenden Kirche. Auch wenn dies nicht zwangsläufig darauf schließen lässt, dass "Der Vorleser” in irgendeiner Weise autobiografisch ist, so spricht der Roman doch Themen an, die den Autor sein ganzes Leben lang begleitet haben dürften.
Die Rezeption der Nachfolgeprozesse
Die so genannten Nachfolgeprozesse, insbesondere die Auschwitz-Prozesse, fanden in einem ganz anderen internationalen Kontext statt als die berühmteren Nürnberger Prozesse. Einerseits hatte sich die internationale Anti-Nazi-Koalition gespalten, was zu einem sich ständig verschärfenden Kalten Krieg führte. Andererseits schwand der ursprüngliche Impuls, die NS-Täter zu bestrafen, langsam zugunsten eines zunehmenden Wunsches nach Wiederaufbau, nicht zuletzt aufgrund der Truman-Doktrin, welche die amerikanischen Verbündeten gegen die "rote Gefahr" stärken wollte. Dennoch stießen die Prozesse auf großes Interesse in der Bevölkerung. Da die Gerichte den Vorsatz der Angeklagten beweisen mussten und die Messlatte hoch angesetzt war, lautete eine gängige Verteidigungslinie der Angeklagten, dass sie nur Befehle befolgt hätten. Dieser Ansatz wird im Buch aufgenommen.
Parallelen zwischen der Figur Hanna Schmitz und der realen KZ-Aufseherin Ilse Koch
Einer der Hauptvorwürfe in Hannas Prozess betrifft die sogenannten "Selektionen" im Lager: Jeden Monat wurden Frauen nach Auschwitz geschickt, um dort getötet zu werden. Das Konzentrationslager Auschwitz wurde 1940 im besetzten Polen eröffnet und war mit mehr als 40 Außenlagern das größte. Etwa 1,3 Millionen Menschen wurden nach Auschwitz geschickt, davon 1,1 Millionen Juden, von denen 960.000 dort ermordet wurden. Es wurde auch vermutet, dass Hannas Figur auf der KZ-Aufseherin Ilse Koch basiert, die den Spitznamen "Die Hexe von Buchenwald" trug, doch hat sich Schlink dazu nicht ausgesprochen. Ähnlich wie Hanna beging Koch Selbstmord, nachdem sie zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden war.
Die Verfilmung des Romans mit Ralph Fiennes und Kate Winslet
Die Verfilmung des Roman unter der Regie von Stephen Daldry kam 2008 in die Kinos, mit Ralph Fiennes in der Rolle des erwachsenen Michael und Kate Winslet in der Rolle der Hanna. Winslet erhielt für ihre Darstellung einen Oscar. Die Dreharbeiten für die Stadtszenen fanden in Görlitz statt, auch weil die Stadt noch über ein voll funktionsfähiges Straßenbahnnetz verfügt. Einige der Straßenbahnwaggons mussten von weit her herbeigeschafft werden. Der Verkehr in der Innenstadt kam während der drei Drehtage praktisch zum Stillstand.
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