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Wer die Niederlande verstehen will, muss hören

Wer die Niederlande verstehen will, muss hören

Die Niederlande sind für viele Dinge bekannt – Coffeeshops, das Rotlichtviertel von Amsterdam, nicht zu vergessen Goudakäse und Fahrräder. Auf kultureller Ebene haben sich die Holländer vor allem mit ihren großen Malern ins Weltkulturerbe eingeschrieben: Rembrandts „Nachtwache“ und van Goghs „Sonnenblumen“ kennt so ziemlich jeder, Mondrians abstrakte Farbmuster auch. Aber was ist mit Literatur? Gibt es Weltliteratur aus den Niederlanden, über die man das Land besser verstehen könnte?

Selbstverständlich gibt es die – und jetzt ist der richtige Moment, sie zu entdecken. Denn unter dem Motto „Alles außer flach!“ präsentieren sich die Niederlande und Flandern als Gastland auf der Leipziger Buchmesse 2024. Einige der Titel, die auf der Messe vorgestellt werden, liegen auch als Hörbücher vor. Wie stellen sie in aller Kürze vor und geben anschließend Tipps, welche Klassiker eine (Wieder-)Entdeckung wert sind.

Neue Stimmen: Aktuelle Literatur aus den Niederlanden

Über sie wird gesprochen: Diese Autorinnen und Autoren aus den Niederlanden sorgen zur Zeit für Furore – nicht nur in ihrer Heimat.

Aleksandra

Aleksandra ist 94 und sie hat einen Auftrag für ihre Enkelin: Lisa soll nach Luhansk in die Ost-Ukraine reisen, um das Grab ihres Onkels Kolja zu suchen. Der verschwand 2015 spurlos. Lisa wagt die gefährliche Reise und landet – in der Vergangenheit. In den Räumen eines magischen Palasts entfaltet sich vor ihren Augen das historische Panorama einer Region, die von Konflikten gebeutelt wurde und wird.

Lisa Weeda verwebt für ihren Debütroman die Geschichte der Ukraine mit der ihrer eigenen Familie und garniert das Ganze mit einer gehörigen Prise Fantastik. Gewagt? Ja – und gekonnt! Ihr Roman stand in den Niederlanden auf dem ersten Platz der Bestsellerliste und wurde mit Kritiker-Lob überschüttet. Mitreißend erzählt und voller Wärme.

Die Stimme

Die Psychoanalytikerin Zelda stellt eine Nanny ein. Die junge Frau, Amal, kommt aus Somalia – und sie hat eine außergewöhnliche Stimme. Zelda meldet sie bei einer Talentshow an, wo Amal brilliert. Doch dabei bleibt es nicht: Vor laufender Kamera nimmt Amal ihr Kopftuch ab. Ein Akt der Befreiung, der fatale Folgen hat.

Wie werden Menschen von den Traumata ihrer Elterngeneration geprägt? Das ist die Kernfrage, um die Jessica Durlachers komplexer und tiefgründiger Roman Die Stimme kreist. Wie die Autorin mit sprachlicher Eleganz und subtilem Witz über transgenerationale Traumata, religiösen Wahn und die Folgen von 9/11 schreibt, das hat Klasse.

Der Taucher

Das Team eines niederländischen Bergungsschiffs stößt überraschend auf ein seit 70 Jahren verschollenes Wrack. An seine Brüstung ist ein Taucher gekettet - knapp außerhalb seiner Reichweite hängen die Schlüssel für seine Handschellen. Wer war der Mann und warum musste er so grausam sterben? Die Polizei Cuxhaven schickt ihren besten Mann: Liewe Cupido, genannt „der Holländer“. Je tiefer er gräbt, desto mehr verstrickt er sich selbst in den Fall. Denn er kennt das Boot, dessen Mannschaft den Taucher gefunden hat, besser, als er zugeben möchte.

Nach „Der Holländer“ ist Der Taucher der zweite Fall für den knurrigen Ermittler Liewe Cupido. Ein intelligent konstruierter, atmosphärischer Küstenkrimi mit viel lakonischem Witz aus der Feder des niederländischen Autors Mathijs Deen.

Xerox

Xerox hat es geschafft: Die junge Frau hat sich hochgekämpft, als erste in ihrer Familie studiert und arbeitet nun in einem hippen Amsterdamer Start-up. Ihre Arbeit ist zwar eintönig und mies bezahlt, aber hey – so ist eben das System. Xerox setzt alles daran, sich nicht hinter ihre Maske blicken zu lassen. Doch unter der Oberfläche brodelt eine Riesenwut: auf ihre Familie, für die sie sich schämt. Auf ihren Bullshit-Job. Und auf die Phrasen ihrer Kollegen, die freundlich klingen und in Wirklichkeit voller Herablassung sind. Denn wahr ist eben auch: Wer einen Job und einen niederländischen Pass hat, gehört deswegen noch lange nicht dazu.

Die Journalistin und Theaterkritikerin Fien Veldman beleuchtet in ihrem Debüt die Absurditäten der modernen Arbeitswelt und die Ungerechtigkeiten einer nur scheinbar offenen Gesellschaft. Dabei hält sie elegant die Balance zwischen bissiger Gesellschaftskritik und feinem Humor.

Klassiker: Bücher aus den Niederlanden, die jeder kennen sollte

Der einzige Buchtitel, von dem vermutlich jeder schon gehört hat, ist „Het Achterhaus“, besser bekannt als Das Tagebuch der Anne Frank. Das Schicksal der jungen Anne Frank – geschrieben in einem Hinterhaus an der Prinsengracht in Amsterdam, wo sie sich als deutsche Jüdin vor den Nazis verstecken musste, bevor sie deportiert und im KZ ermordet wurde – bewegt seit Jahrzehnten Leserinnen und Leser auf der ganzen Welt. Und mit dem Buch in der Hand stehen täglich Scharen von Besuchern vorm Anne-Frank-Haus in Amsterdam, die jene Kammer sehen wollen, in der Anne ihr Tagebuch schrieb. Es ist eines der ergreifendsten Werke der Weltliteratur, das alle irgendwie mit den Niederlanden assoziieren, aber kaum als „holländisches“ Buch wahrnehmen, auch wenn es zuerst in niederländischer Sprache veröffentlicht wurde. Erst danach folgten die vielen (vielen!) Übersetzungen und Verfilmungen.

Tagebuch

Zum Leben von Anne Frank (1929-1945) hat Melisa Müller eine Biografie geschrieben, die von Katja Riemann eindringlich gelesen als Hörbuch vorliegt. Darin wird natürlich auch Annes Leben im Amsterdamer Hinterhaus an der Prinsengracht geschildert, ebenso die Entstehung des berühmten Tagebuchs, das nach wie vor ein wichtiges Dokument gegen das Vergessen des Nazi-Terrors ist.

Das Mädchen Anne Frank

Dieser Terror wütete auch in den Niederlanden und prägte die niederländische Literatur der Nachkriegszeit entscheidend. Er prägte bis in die allerjüngste Vergangenheit auch das Verhältnis vieler Niederländer zu den angeblich so humorlosen „Moffen“ (abwertender Slang-Ausdruck für „Deutsche“), die jeden Sommer wie Heuschrecken übers Land herfallen und an den Nordseestränden Urlaub machen – mit „besetzten“ Gebieten im Sand, die sie wie eine Burg verteidigen. So zumindest das Klischee, das noch in den späten 1990er-Jahren in Zeitungskarikaturen zu sehen war, etwa bei Heiko Sakurai in seinem Cartoon „Die Deutschen und ihre Kuhlen“.

Die Dunkelkammer des Damokles“ kann das Verständnis vom komplizierten Verhältnis der Niederländer zu den Deutschen und der deutschen Besetzung fundamental verändern. Hermans Roman aus dem Jahr 1958 erschien erst 2001 in einer deutschen Fassung von Waltraud Hüsmert. Es scheint fast, als hätte man sich vorher in Deutschland nicht mit dem furios erzählten Thriller um einen vermeintlichen Widerstandskämpfer aus Voorschoten (in der Nähe der Universitätsstadt Leiden) beschäftigen wollen – oder dürfen?

Das Buch beschreibt die schizophrene Situation von Hauptfigur Osewoudt, der während der Nazi-Besatzung der Niederlande zwischen 1940-1945 über den mysteriösen Dorbeck zur Untergrundbewegung kommt, mit der er viele Anschläge gegen die Gestapo ausführt. Nach dem Krieg wird Odewould verhaftet und als Kollaborateur angeklagt. Im Gerichtsverfahren wird seine Geschichte neu aufgerollt. Sein Problem: Niemand kann bezeugen, dass er das, was er vorgibt getan zu haben, wirklich getan hat. Als Zeuge ist vor allem Dorbeck nicht auffindbar, so als habe er nie existiert.

Das Buch ist unbequem, weswegen es in den Niederlanden beim Erscheinen einen Skandal auslöste. Denn es rüttelte am Selbstbild vieler Niederländer, dass sie alle im Widerstand gegen die Nazis gewesen seien. (Wie es der patriotische Paul-Verhoeven-Film „Soldaat van Oranje“ von 1977 suggeriert.) Dem steht die traurige Tatsache entgegen, dass in keinem anderen von den Nazis besetzten Gebiet Juden eine so geringe Überlebenschance hatten: 79 Prozent der niederländischen Juden kamen um, in Belgien und Norwegen waren es 40 Prozent, in Frankreich mit seiner kollaborierenden Vichy-Regierung 20 Prozent, im faschistischen Italien 15 Prozent, wie der Historiker Raul Hilberg vorrechnete. Warum war das so?

Wer in Amsterdam ins Jüdische Museum geht, kann dort die „Quittungen“ sehen, die Niederländer über den Geldbetrag bekamen, wenn sie Juden an die deutschen Besatzer „meldeten“. Und das taten viele, um sich etwas Geld dazu zu verdienen. Diese Aufarbeitung der eigenen Schuld – als „Handelsnation“, die im Zweifelsfall auch mit Menschenleben Geld zu machen bereit ist – hat in den Niederlanden erst in den letzten 20 Jahren an Fahrt aufgenommen. Paul Verhoevens Film „Zwartboek“ („Das schwarze Buch“) von 2006 ist da ein wichtiger Meilenstein, der die lang gehegte Widerstandslegende gegen den Strich bürstet.

Krone der Welt

Es gibt inzwischen etlichen wichtige Dokus, die regelmäßig im holländischen Fernsehen laufen, die diese Fragen detaillierter beleuchten – auch die Frage, warum über die „Kollaboration“ so vieler Niederländer auf Alltagsebene so lange geschwiegen wurde, während die „großen Fische“ mit gnadenloser Vehemenz aus der Gesellschaft ausgestoßen wurden. Als müssten sie für das büßen, was viele andere auch taten, nur nicht so sichtbar und gut dokumentiert.

Inzwischen wird auch die Schuldfrage im Kontext der einstigen Kolonialherrschaft in West-Indien neu gestellt und diskutiert, ob das sogenannte „Goldene Zeitalter“ von Rembrandt & Co. wirklich so golden war, wenn die Mehrzahl der damals lebenden Menschen unter brutaler Unterdrückung und Ausbeutung litt.

Willem Frederik Hermans war ein unbequemer Intellektueller, der immer wieder mit kritischen Kommentaren auf dieses Imageproblem von Außen- und Selbstwahrnehmung seiner Landsleute einging. Das führte zu so vielen Anfeindungen, dass Hermans in den 1970er-Jahren nach Paris ins Exil ging. Trotzdem wurde er mit Ehrungen überhäuft, unter anderem bekam er den „Prijs der Nederlandse Letteren“. Für ihn war das die bedeutendste Ehrung, weil sie von seinen Mitbürgern kam und seine Bedeutung endlich anerkannte. Zusammen mit Harry Mulisch und Gerard Reve gehört Hermans inzwischen offiziell zu den „Großen Drei“ der niederländischen Nachkriegsliteratur.

Während es von „Die Dunkelkammer des Damokles“ keine Hörbuchausgabe gibt, existieren mehrere internationale Verfilmungen, die allerdings die Brillanz und Ambivalenz des Buchs nicht mal annähernd einfangen.

Spaziergang durch Amsterdam

Auch Cees Nootebooms „Rituale“ von 1980 gehört zu den Klassikern aus den Niederlanden. Der Roman verhalf seinem Autor zum internationalen Durchbruch: mit einer existenzialistischen Geschichte über den Versuch der beiden Hauptfiguren, ihrem als sinnlos empfundenen Leben durch strikte Einhaltung verschiedener Rituale Halt zu geben. Letztlich führen die Rituale jedoch zum Tod eines der Protagonisten, den auch das Zubereiten einer asiatischen Teezeremonie nicht vor seinen Depressionen retten kann.

In der Beschreibung des Lebens von Intellektuellen im Amsterdamer Grachtengürtel der 1970er-Jahre reflektiert Nooteboom eine Welt, die es nicht mehr gibt, seit das Zentrum der Stadt zu einer Art Disneyland für Touristen geworden ist und kaum mehr Einheimische es sich leisten können, dort zu wohnen. Stattdessen ist das Zentrum heute ein Airbnb-Paradies, mit allen damit zusammenhängenden Konsequenzen.

Nooteboom wird in Deutschland eine größere Bedeutung innerhalb der niederländischen Literatur der Gegenwart beigemessen als in den Niederlanden selbst. So wurde er Anfang der 1990er-Jahre von Kritikern wie Marcel Reich-Ranicki und Rüdiger Safranski für den Literatur-Nobelpreis ins Gespräch gebracht, während er in dem zur gleichen Zeit entstandenen Standardwerk „Nederlandse Literatuur, een geschiedenis“ gerade mal in Nebensätzen Erwähnung findet. Der Literaturwissenschaftler Ralf Grüttemeier meint, dass dies weder durch eine grundsätzliche Überbewertung von Nootebooms Texten in Deutschland noch durch eine Unterbewertung in seiner Heimat zu erklären sei. Vielmehr spiele es eine Rolle, dass Nooteboom in seiner Heimat stets ein Außenseiter im Literaturbetrieb gewesen sei, während der Suhrkamp-Verlag ihn in Deutschland durch zahlreiche Lesungen einem breiten Publikum bekannt gemacht habe.

„Rituale“ gibt es leider nicht als Hörbuch, auch von anderen seiner wichtigen Werke – wie etwa den „Berliner Notizen“ – existiert bislang keine Audiofassung. Nur die Gedichte Nootebooms wurden aus Hörbuch veröffentlicht.

Bittersüß

Romane über Amsterdam

Der große Roman über Amsterdam und das Leben dort zwischen den 1960er- und 80er-Jahren ist der Weltbestseller „De ontdekking van de hemel“ von Harry Mulisch, besser bekannt als Die Entdeckung des Himmels. Auch wenn die „Entdeckung des Himmels“ am Schluss stark ins Esoterische und Fantasy-hafte abdriftet (mit einem Erlöser der Menschheit), wird im großen ersten Teil des Romans die intensive Freundschaft der beiden Männer Max Delius und Onno Quist geschildert, deren biographische Verzahnungen von zwei Engeln beeinflusst werden. Dabei wird mit viel Humor ein Leben zwischen Stadt und Land, Universität und Politik in den Niederlanden ausgebreitet. Eine Bromance, die einen echten Sog entwickelt.

2007 wurde „Die Entdeckung des Himmels“ im Rahmen einer Aktion der niederländischen Tageszeitung „NRC Handelsblad“ zum besten niederländischsprachigen Buch aller Zeiten gewählt. Der Regisseur Jeroen Krabbé verfilmte das Buch 2001 mit Stephen Fry in der Hauptrolle, der Film gilt als teuerste niederländische Filmproduktion überhaupt. Aber das Buch bleibt mit seiner Detailverliebtheit eine Klasse für sich. Als Hörbuch wurde es mit Udo Samel und anderen Stars auf Deutsch eingesprochen.

Die Entdeckung des Himmels

Die Perspektive marokkanischer Einwanderer

Ein komplett anderes Bild vom modernen Leben in Amsterdam zeichnet der marokkanisch-niederländische Autor Mano Bouzamour in seinem Debütroman „De belofte van Pisa“ (2013), auf Deutsch drei Jahre später als „Samir, genannt Sam“ erschienen. Darin beschreibt Bouzamour eine Jugend im Einwanderervierteln De Pijp in Amsterdam.

Auf einem gestohlenen Flügel spielt Samir morgens klassische Musik, beim Freitagsgebet in der Moschee kämpft er mit Fantasien von blonden, nackten Teufelinnen, im Geschichtsunterricht träumt er von Rache für Anne Frank. Am glücklichsten ist er jedoch, wenn er nachts mit seinem geliebten Bruder auf der Vespa durch die Stadt rauschen darf. So wächst Sam als Sohn marokkanischer Einwanderer heran, bis sein großer Bruder, der von Betrug und Diebstahl lebt, verhaftet wird und für sechs Jahre ins Gefängnis muss. Doch Sam verspricht ihm, allen Widerständen zum Trotz den Schulabschluss im bürgerlichen Elitegymnasium zu schaffen, und meistert ein Leben voller Kontraste mit viel Witz und Frechheit.

Das Buch löste bei Erscheinen einen Aufschrei innerhalb der marokkanischen Community aus. Bouzamour wurde bedroht, weil er ein vermeintlich „ehrrühriges“ Bild von marokkanischen Einwanderern gemalt und dabei auch den Islam lächerlich gemacht habe. Sogar seine eigene Familie verstieß ihn. Aber die holländische Öffentlichkeit und internationale Presse liebte das Buch von Anfang an, es wurde ein Bestseller und verglichen mit J. D. Salingers „Fänger im Roggen“. Diesen Roman hat Bouzamour selbst als sein unmittelbares Vorbild genannt und auch verraten, dass er das Buch als Teenager aus der Amsterdamer Stadtbibliothek gestohlen habe.

Eine Hörbuchausgabe gibt es bislang nicht auf Deutsch, aber es existiert eine gelungene Filmversion von 2019, mit Shahine El-Hamus als Samir.

Angerichtet

Schwarzhumorige Satire aus Holland

Ganz anders funktioniert die schwarze Satire im Roman „Het diner“ von Herman Koch, zu deutsch Angerichtet. Es erschien 2009 und wurde sofort ein Welterfolg, der bislang dreimal (!) verfilmt wurde. Koch ist ein gnadenloser Parodist, der die TV-Sendung „Jiskefet“ fürs holländische Fernsehen erfand, deren Witze oft knallhart unter der Gürtellinie landen. Was viele lieben, andere als rassistisch ablehnen.

Es geht in „Angerichtet“ um den ehemaligen Geschichtslehrer Paul Lohman. Er und seine Frau Claire treffen sich in einem teuren Amsterdamer Restaurant mit seinem älteren Bruder Serge, einem bekannten Politiker und Kandidat, um niederländischer Premierminister zu werden. Mit dabei ist Serges Frau Babette.

Beim Essen besprechen die vier eine furchtbare Gewalttat, die ihre beiden Kinder Michel und Rick begangen haben: Sie haben einen Obdachlosen vor einem Bankautomaten in Brand gesteckt und wurden dabei von Sicherheitskameras gefilmt. Bislang hat niemand sie erkannt, bis auf die Eltern. Und nun besprechen diese, wie man mit der Situation umgehen könnte. Wobei „weiße Privilegien“ hier eine Dimension annehmen, bei der es einem genauso kalt über den Rücken läuft wie am Ende von Hermans‘ „Dunkelkammer des Damokles“. Das Buch ist als Analyse der politischen Upper Class in den Niederlanden gnadenlos. Und wie ein Faustschlag ins Gesicht, dabei aber immer witzig. Das ist die Kunst von Herman Koch!

Zum Schluss muss natürlich noch der dritte der „Großen Drei“ erwähnt werden: Gerard Reve. Nach seinem frühen Romandebüt „Die Abende“ 1947 und den Novellen „Werther Nieland“ und „Der Untergang der Familie Boslowitsch“ zog Reve nach England, um Literatur in einer „Weltsprache“ zu verfassen.

1963 debütierte er nach eigenen Angaben im Alter von 40 Jahren zum zweiten Mal: Es erschien „Op weg naar het einde“, ein Briefroman, der schon stark gekennzeichnet war von den literarischen Tendenzen, die Reve in den nächsten Jahrzehnten als Schriftsteller beschäftigen sollten: Mit beißendem Sarkasmus trat Reve durch seine literarischen Figuren als reaktionärer und provokanter homosexueller Meinungsmacher auf, dem S/M-Praktiken nicht fremd waren und der gleichzeitig darauf pochte, dass die römisch-katholische Kirche den einzig wahren Glauben auf Erden vertrete. Er verteidigte den Papst, selbst wenn der sich gegen Homosexualität und Abtreibung aussprach. Dazu kommt in Reves Werk eine vehemente Kritik an Intellektuellen, Kommunisten, Stalinisten, Linken und all den Niederländern, die sich noch zu keiner Vergangenheitsbewältigung des Zweiten Weltkrieges durchgerungen haben.

Reve stammt aus einem kommunistischen und atheistischen Elternhaus und ließ sich erst 1966 in die römisch-katholische Kirche aufnehmen. Im selben Jahr musste er sich vor Gericht gegen den Vorwurf der Blasphemie verteidigen, da er in seinem Roman „Nader tot U“ (deutsch: „Näher zu Dir“, 1970) die Vorstellung beschrieben hatte, sich mit Gott in Gestalt eines „einjährigen, mausgrauen Esels“ geschlechtlich zu vereinigen. Reve berief sich auf sein Recht, in seiner Literatur sein persönliches Gottesbild darzustellen und gewann den Prozess.

Nicht zu Unrecht wurde Reve wegen seines Hangs zur Marienverehrung, gepaart mit dem Thema der ausschweifenden homosexuellen Liebe – von Reve „Herrenliebe“ genannt – eine gewisse Nähe zu Jean Genet nachgesagt. Reve erkrankte 1999 an Alzheimer und lebte ab 2005 in einem Pflegeheim in Belgien, betreut von seinem Freund Joop Schafthuizen. Als Hörbuch gibt’s von Reve nur The Evenings in englischer Sprache.

The Evenings

Vielleicht sind die Themen, mit denen sich Reve auseinandersetzte, für Leser außerhalb der Niederlande schwer nachvollziehbar? Möglicherweise wirken sie auch inzwischen aus der Zeit gefallen. Dennoch sind sie ein wichtiges Dokument der Nachkriegsgesellschaft in den Niederlanden, die auch von Hermans und Mulisch – auf jeweils andere Weise – reflektiert wurden.

Frau Antje und Herr Mustermann

Dass die Bücher von Reve, Hermans & Co. zu großen Teilen in Deutschland so wenig bekannt sind, liegt auch daran, dass die Deutschen das, was im kleinen Nachbarland passiert, oft nur stark eingeschränkt wahrnehmen. Dik Lindhout hat zu dem komplizierten Verhältnis der beiden Nationen ein witziges Sachbuch herausgegeben mit dem Titel „Frau Antje und Herr Mustermann: Niederlande für Deutsche“. Darin sind unendliche viele Zitate versammelt und wird nebenbei darauf hingewiesen, dass zwischen Holland und Deutschland die „erotischste Grenze“ Europas verläuft: „Nirgendwo in Europa sind die Liebesbeziehungen zwischen den Bewohnern zweier Nachbarländer intensiver“, heißt es bei Lindhout.

Und: „Umfragen haben ergeben, dass die Niederlande jungen deutschen Touristen noch immer als ein Symbol für Freiheit gelten: alles ist erlaubt, alles ist unkonventionell, wobei die Niederlande mit Amsterdam gleichgesetzt werden.“ Dass die Niederlande nicht gleichbedeutend mit Amsterdam sind und dass es nicht ganz so „unkonventionell“ und „frei“ zugeht, wie es von außen im Kontext eines Kurzbesuchs scheinen mag, daran erinnern alle hier vorgestellten Bücher. Denn Holland ist nicht das „Land of Dope and Glory“, sondern eine Kulturnation mit unendlichen Widersprüchen, die noch lange nicht aufgelöst sind.

Heute ist diese Diskussion voll entfacht. Man fragt neuerdings in Ausstellungen nach der Position von Schwarzen zu Rembrandts Zeit und nach Menschenhandel bei der Ostindien Gesellschaft VOC (Vereenigde Oostindische Compagnie). Man fragt nach dem genauen Verhalten der Niederländer während des Zweiten Weltkriegs und nach 1945. Schließlich wird auch über heutige Formen des Zusammenlebens leidenschaftlich diskutiert, denn die Niederlande sind eine Einwanderungsgesellschaft.

Dadurch sind viele der hier vorgestellten Bücher nochmal neu in den Fokus gerückt. Sie werfen ein Schlaglicht auf eine Gesellschaft, die mehr ist als Gouda-Käse, Rotlichtviertel und Coffeeshops. Und das macht die Lektüre so spannend.

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