Audible-Logo, zur Startseite gehen
Audible-Hauptsite-Link

Vom unterschätzten Genre des Heimatromans

Vom unterschätzten Genre des Heimatromans

Man stelle sich folgendes Szenario vor: Eine (schöne) Fremde zieht unvermittelt in einen kleinen Ort, nein, ein Dorf. Doch sie zieht nicht irgendwo hin, sondern in eine mehr oder minder isolierte Welt, irgendwo zwischen Kornfelder und die malerische Küste. Ein Sehnsuchtsort, der erstmal ablehnend wwirkt.

Die Frauen vor Ort beachten den Eindringling mit Argwohn. Ein attraktiver, rein zufällig alleinlebender (weil geschieden oder, noch besser, verwitweter) Herr erbarmt sich der hübschen Neuen, unternimmt lange Wattwanderungen mit ihr oder zeigt ihr den Waldsee, in dem er schon als kleines Kind geschwommen ist. Sie werden erst Freunde, dann Liebhaber. Die Dorfgemeinschaft akzeptiert die Frau. Gemeinsam feiern alle von nun an Osterfeuer, Erntedankfest und was man eben sonst noch auf dem Dorf feiert, um der Langeweile Herr zu werden.

Längst nicht mehr cool: der Heimatroman

Schon ist er fertig, der Heimatroman. Dieses als verkitscht angesehene Genre der sogenannten Trivialliteratur. Wobei letzteres durchaus abwertend gemeint ist, soll Trivialliteratur doch keinesfalls anspruchsvoll sein, sondern leicht zu erfassen – trivial eben und damit literarisch nicht weiter beachtenswert. So zumindest die Definition.

Lange Zeit hat der Heimatroman sein Dasein in Form von aus billigem Papier hergestellten Heftchen gefristet – doch vielleicht wird es Zeit, seine Definition gehörig zu überarbeiten?

Altes Genre, neu gedacht

Es gibt einige Stilelemente des klassischen Heimatromans, die heute überholt erscheinen. Das traditionelle Frauenbild zum Beispiel. Oder die Eindimensionalität der Charaktere, die über „griesgrämig“ und „freundlich“ kaum hinausgeht. Doch die Themen, die in Heimatromanen häufig vorkommen – Traditionen, Alltag, Liebe, Urbanisierungskritik – haben nichts an Relevanz verloren. Und ländliche Gegenden als Schauplatz sind in Zeiten, in denen Städter das dörfliche Leben zunehmend verklären und als Nonplusultra deklarieren, spannender denn je.

Bedenkt man zudem, dass Urlaube im eigenen Land wegen des Coronavirus plötzlich wieder en vogue sind, müssten doch auch Geschichte, die in der Heimat spielen, ein Revival erleben. Es sind nämlich die Heimatromane, die es schaffen, gleichzeitig über einen eng begrenzten Raum zu berichten und dabei einen Blick weit über den eigenen Tellerrand hinaus zu ermöglichen.

Vom Dorf in die weite Welt

Saša Stanišić beispielsweise schafft es in „Vor dem Fest“, ein vielschichtiges Porträt der Stadt Fürstenfelde in der Uckermark und ihrer Bewohner mit all ihren Eigenheiten und Absurditäten zu zeichnen. Ebenfalls in Brandenburg spielt Juli Zehs „Unterleuten“ – ein Gesellschaftsroman, der gekonnt mit dem ebenso hartnäckigen wie fehlgeleiteten Klischee des ach-so-idyllischen Dorfes bricht. Als moderner Heimatroman gilt auch Dörte Hansens Debütroman „Altes Land“, das lange Zeit auf der Bestsellerliste stand.

Vor dem Fest
Unterleuten
Altes Land

Heimat reloaded

Von nostalgischer Verklärung ist in den Büchern und Hörbüchern, die sich als moderne Heimatromane bezeichnen lassen, keine Spur. Vielmehr sind sie eine kritische Auseinandersetzung mit dem, was wir als Heimat verstehen. Voller vielschichtiger Charaktere, über den Haufen geworfener Rollenbilder und feinfühliger Milieustudien. Und jetzt behaupte mal noch einer, Heimatromane seien trivial …

Noch mehr moderne Heimatromane

Alte Sorten

Unterfranken ist der Ort des Geschehens in Ewald Arenz' Alte Sorten. Sein fulminanter Roman dreht sich um die beiden ungleichen Frauen Sally und Liss - eine, Liss, ist Mitte 40 und Bäuerin, die andere, Sally, steht kurz vor dem Abitur und will einfach nur in Ruhe gelassen werden. Die beiden beginnen eine ungewöhnliche Wohngemeinschaft, in deren Verlauf sich die beiden Frauen Stück für Stück annähern. Das Landhofleben beschreibt der Autor dabei nicht als reine Idylle - weder die harte Hofarbeit noch das Leben in der Gemeinschaft des Dorfes.

Was man von hier aus sehen kann

Mariana Leky nimmt uns mit in den Westerwald, in ein beinahe verwunschen wirkendes Dorf. Hier geht's um die großen Themen im Leben – Liebe und Tod – die Dorfbewohner und Großstädter gleichermaßen beschäftigen.

Grenzgang

Mit Grenzgang hat Stephan Thome ein bemerkenswertes Erstlingswerk geschaffen, das seine Figuren von der Stadt in die hessische Provinz versetzt, die hier alles andere als eintönig wirkt.

Mittelreich

Mehrere Generationen und Jahrzehnte umspannt Josef Bierbichlers Mittelreich. Zwischen Streuobstwiesen und Seeufer spielen sich Enttäuschungen und Schicksalsschläge ab, die mit der angeblichen Idylle althergebrachter Heimatromane wenig zu tun haben.

Nochmal Deutschboden

Vor zehn Jahren war Moritz von Uslar schon einmal da, jetzt kehrt er zurück: In Nochmal Deutschboden schaut der Reporter, was sich in der Kleinstadt Zehdenick in der brandenburgischen Provinz seit seinem letzten Besuch für seine Recherchen zu Deutschboden verändert hat.

Tags