„Ich bin an der Arbeit“, verkündet Jeffrey Eugenides, an seinen Verleger gerichtet und auf Deutsch, mit breitem amerikanischen Akzent beim Internationalen Literaturfestival 2023 in Berlin. Was viele nicht wissen: Eugenides hat von 1999 bis 2004 als Gast des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in der deutschen Hauptstadt gelebt.
„Wichtig“ sei diese Zeit für ihn gewesen, betont er. Schließlich war Berlin die Stadt, in der er Middlesex geschrieben hat – sein großes, 2003 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnetes Werk über Cal Stephanides, eine intergeschlechtliche Person mit griechischen Wurzeln. Obwohl Eugenides Berlin liebe, könne er sich einen Umzug zurück nach Deutschland laut eigener Aussage momentan nicht vorstellen.
So sagt er: „Ich bin froh darüber, in New York wohnen zu können. Ich habe eine 22 Monate alte Tochter, und sie mag den Spielplatz in New York.“ Beim Internationalen Literaturfestival 2023 in Berlin hat der 63-Jährige über „die Kunst des Schreibens“ gesprochen. Wer ist Jeffrey Eugenides und wer – oder was – hat ihn als Autor geprägt?
Ein Hinweis: Zur besseren Lesbarkeit dieses Inhalts haben wir die englischen Originalzitate von Eugenides auf Deutsch übersetzt.
Aufwachsen in einer der reichsten Städte der USA: Die Vergangenheit des Jeffrey Eugenides
Jeffrey Eugenides‘ Großeltern wanderten in die USA ein. Wie auch Desdemona und „Lefty“, Geschwister und zentrale Figuren in Middlesex, die 1922 im Zuge des griechisch-türkischen Krieges in die USA immigrierten, kam der Großvater des Autors aus Griechenland in die USA. Die Großmutter stammt aus einer englisch-irischen Familie. Jeffrey Eugenides wurde 1960 in Grosse Pointe geboren, einem Vorort von Detroit in Michigan und laut ORF eine der wohlhabendsten Städte in den USA.
Da sein Vater als Hypothekenbankier ein Vermögen aufbaute, konnte Eugenides als jüngster von drei Söhnen die University Liggett School besuchen; eine renommierte Privatschule in Grosse Pointe, dem Setting seines Debütromans The Virgin Suicides. Anschließend studierte Eugenides an der Brown University Anglistik und Theologie und schloss sein Studium 1983 mit einem Bachelor of Arts ab.
Von einer Elite-Universität ging es für Eugenides zur nächsten: 1986 erwarb er einen Master of Arts in Anglistik und kreativem Schreiben in Stanford. Nach seiner Ausbildung lehrte er andere das Schreiben – ab 2007 in Princeton, New Jersey. Seit 2018 unterrichtet er Creative Writing an der New York University.
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Nicht lesen, sondern beobachten: Eugenides‘ literarische Anfänge
Dass er Autor werden wolle, habe Eugenides schon früh gewusst. Genauso sei er schon früh mit Literatur in Kontakt gekommen. So sagt er:
Meine Eltern strebten danach, kultiviert und gebildet zu sein, und kauften eine Reihe von großartigen Büchern. Von Homer bis Hemingway. Ein paar Jahre lang verbrachten sie jede Nacht Stunden damit, sich gegenseitig vorzulesen. So trat die Literatur in mein Leben – nicht durch das Lesen von Büchern, sondern durch das Betrachten der Bücher als Kind. Wegen einiger großartiger Lehrer, die ich in der Mittel- und Oberschule hatte, begann ich, mich für die Literatur selbst zu interessieren und entschied mich ziemlich früh, mit etwa 16, Schriftsteller zu werden. (Jeffrey Eugenides)
Zuerst habe Eugenides Schauspieler werden wollen – eine Karriereentscheidung, mit der seine Eltern nicht sonderlich zufrieden gewesen seien. Sein Wunsch, Autor zu werden, sei das kleinere Übel gewesen, so Eugenides.
Seine ersten Erfahrungen als Autor habe Eugenides mit Poesie gemacht. 50 US-Dollar habe ihm der Verkauf eines Gedichts im College eingebracht. Und obwohl er sich selbst nicht als Lyriker sieht, bleibt Eugenides‘ Stil weiterhin in der Lyrik verhaftet. Denn der ist poetisch – und gleichzeitig „juvenile“, also „jugendlich“, wie er selbst sagt.
Angefangen hat er mit düsteren Geschichten mit Protagonistinnen und Protagonisten, die viel schwerere Schicksale erleiden mussten als Eugenides selbst. Nach und nach entwickelte er seinen ganz eigenen Schreibstil. Der zeichnet sich durch detaillierte Beschreibungen und das Aufgreifen von Elementen aus Eugenides‘ eigenem Leben und seinem Umfeld aus. Der Autor sagt hierzu:
„Als ich jünger war, dachte ich, ich müsste aus meiner Fantasie heraus schreiben und Charaktere mit viel mehr psychischem Trauma erschaffen, als ich tatsächlich hatte. Ich dachte, Literatur müsse ernst und von Ängsten geprägt sein, obwohl ich selbst nicht ernst und ohne Ängste war. Bis ich mehr über mich selbst wusste, wusste ich nur, wo ich aufgewachsen war. (...) Ich merkte, dass ich ziemlich viel über die Straße wusste, in der ich lebte, über die Gerüchte, die ich gehört hatte. Alles von der Mafiafamilie, die um die Ecke wohnte, bis zur Mutter meines Freundes, die zu viel trank. (...) Als ich anfing, über diese kleine Welt zu schreiben, fingen die Leser an, sich für das zu interessieren, was ich schrieb. In der Literatur gelangt man durch das Besondere zum Universellen, finde ich.“ (Jeffrey Eugenides)
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„The Virgin Suicides“: 30 Jahre nach der Veröffentlichung ein Social-Media-Erfolg
Vermutlich sorgt, neben der Coming-of-Age-Thematik, genau dieser einzigartige Stil für Eugenides Erfolg bei jüngeren Zielgruppen. So entspinnt sich insbesondere um sein 30 Jahre altes Debüt The Virgin Suicides seit einiger Zeit auf TikTok ein Hype. Eine Userin beschreibt Eugenides‘ Erstlingswerk als „god-like and alluring“ (deutsch: „göttlich und verführerisch“). Eine andere schreibt: „This book has taught me so much about the male gaze“ (deutsch: „Dieses Buch hat mir so viel über den männlichen Blick beigebracht“).
The Virgin Suicides erschien, als Jeffrey Eugenides bereits Mitte 30 war. Spät, wie er selbst findet:
„Meine Situation wurde langsam etwas verzweifelt. Ich kam in meine Dreißiger und betrachtete mich als Schriftsteller. (...) Sie fragten mich: ‚Was hast du veröffentlicht?‘ und ich hatte keine Antwort. Sie wendeten sich schnell ab und sprachen mit jemand anderem auf der Party. Also wollte ich eine Art Bestätigung.“ (Jeffrey Eugenides)
In dem 1999 von Sofia Coppola verfilmten Roman wachsen fünf pubertierende Mädchen in einem konservativ-religiös geprägten Haushalt auf, der ihnen jegliche Freiheit nimmt – eine Lebensrealität, aus der es aus Sicht der Schwestern nur einen Ausweg gibt. Laut Eugenides‘ Aussage geht es in Die Selbstmord-Schwestern um die Tatsache, dass die Erzähler nicht dazu in der Lage sind, die Lebensrealität der Mädchen zu sehen.
Er betont zusätzlich: „Das Buch schafft einen negativen Raum, in den die Leser ihre Ideen projizieren können.“ Von all seinen bisher erschienenen Werken sei The Virgin Suicides Jeffrey Eugenides' Lieblingsbuch. Der Grund: Es sei „das unkomplizierteste“ gewesen. Er sagt:
Wenn niemand auf dein Buch wartet – das ist eine wundervolle Art zu schreiben. (Jeffrey Eugenides)
Ein Verkaufsschlager sei das Werk laut Eugenides allerdings nicht gewesen. So betont er: „Mein Agent sagte mir, als es rauskam: 'Das ist kein Buch, das sich massenhaft verkaufen wird.' Ich habe nicht erwartet, dass es sich verkauft. Ich wollte einfach nur einen guten Verlag finden und weitermachen. Es lief okay. Es war kein großer Erfolg.“
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In die Lebenswelt anderer eintauchen: Wo sind die Grenzen?
Sich in die Gedankenwelt von jungen Erwachsenen zu versetzen und die Perspektive von Menschen, die ihre Jugend nicht hinter sich lassen können, einzunehmen, falle Eugenides leicht. So betont er beim Internationalen Literaturfestival 2023:
[Die kollektiven Erzähler in "The Virgin Suicides"] können ihre Teenager-Jahre nicht hinter sich lassen und leben sie endlos wieder. Fiktional gesehen ist das im Grunde die Geschichte meines Lebens. (Jeffrey Eugenides)
In Middlesex geht Eugenides noch einen Schritt weiter. In dem 2002 veröffentlichten Roman erzählt er die Geschichte der Familie Stephanides aus Perspektive von Cal Stephanides. Cal ist aufgrund einer Mutation des 5α-Reduktase-Gens intergeschlechtlich. Cals Großeltern, ursprünglich aus Griechenland stammend, wachsen abgeschieden in der Türkei auf. Zwischen den Geschwistern entwickelt sich eine inzestuöse Beziehung.
Als sie vor dem Krieg in den USA flüchten, inszenieren sie auf der Überfahrt ein Kennenlernen und heiraten schließlich. Dass die beiden Geschwister sind, bleibt bis zum Lebensende von Großmutter Desdemona ein Geheimnis. Cal wird als Mädchen sozialisiert und blickt, mittlerweile 41-jährig und als Diplomat in der US-Botschaft in Berlin beschäftigt, auf die Familiengeschichte zurück. Ein wuchtiger Roman – pointiert, vielschichtig und einfühlsam erzählt.
Wie The Virgin Suicides weist auch Middlesex Parallelen zu Eugenides‘ Leben auf. So ist der Protagonist in Middlesex griechischer Abstammung, geboren 1960 in Detroit, wie Eugenides selbst. Als junge Erwachsene leben Cals Eltern in unmittelbarer Nähe – gleiches war in Eugenides‘ Jugend der Fall.
Ein Roman, geschrieben aus der Perspektive einer intergeschlechtlichen Person, von einem Autor, der nicht inter* ist – wäre das heutzutage, 20 Jahre nach dem Erscheinen von Middlesex, noch möglich? Hierzu hat Eugenides eine klare Meinung:
„Ich denke, Schriftsteller sollten 100-prozentige Freiheit haben zu schreiben, was sie schreiben können. Aber das bringt Verantwortung mit sich. Und man muss wissen, was man schreiben kann und wohin man sich gedanklich begeben kann. Für mich zeigen sich Einschränkungen, wenn ich nicht in den Kopf eines Charakters gelangen kann. Normalerweise muss ich viele Gemeinsamkeiten zwischen meinen Charakteren und mir selbst finden. Wenn ich aus der Perspektive einer Frau schreibe, hat sie oft eine ähnliche Ausbildung wie ich und kommt aus einem ähnlichen Umfeld. (...) Bestimmte Personen könnte ich nicht darstellen, weil ich nicht genug über ihr Leben weiß. Der Schriftsteller sollte entscheiden, wohin der Schriftsteller gehen kann, und niemand anderes.“ (Jeffrey Eugenides)
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Zerlegen, um zu verstehen: Jeffrey Eugenides' Schreibprozess
Schreiben habe sich Eugenides laut eigener Aussage selbst beigebracht, und zwar mit Hilfe der „Reverse Engineering“-Technik. Reverse Engineering ist ein Prozess, der zum Beispiel in der Mechanik und der Software-Entwicklung zum Einsatz kommt und bei dem Systeme zunächst dekonstruiert und dann neu zusammengesetzt werden. Das Ziel ist es, sie bis in die Tiefe zu verstehen. Die Romane, die ihm besonders gefielen, habe Eugenides immer und immer wieder gelesen – so lange, bis er verstanden habe, wie sie zusammengesetzt sind. Er sagt:
Ein amerikanisches Flugzeug stürzte in China ab. Die Chinesen nahmen es auseinander. Sie versuchten herauszufinden, wie die Technologie funktioniert. Das erinnerte mich an mich selbst und wie ich schreibe. Dieses Flugzeug landete am falschen Ort, und ich nahm es auseinander, versuchte herauszufinden, wie es funktionierte, und hoffte, es in einer anderen Form nachbilden zu können. (Jeffrey Eugenides)
2011 erschien The Marriage Plot. Eugenides' bisher letzter Roman ist eine Dreiecksliebesgeschichte, die in den 1980er-Jahren an der Brown University spielt. Wann es einen neuen Roman geben wird, steht noch nicht fest. Laut eigener Aussage schreibt der 63-Jährige nämlich zwar täglich mehrere Stunden – momentan auch auf Drängen seines Verlegers, der sich regelmäßig nach dem Voranschreiten des aktuellen Manuskripts erkundigt – seinen Schreibprozess beschreibt er selbst aber als „arduous and slow“, also „mühsam und langsam“.
„Sitzfleisch“ brauche ein Autor, sagt Eugenides auf Deutsch. Es kann also noch dauern, bis ein neues Werk von Jeffrey Eugenides erscheint. Klar ist aber eines: Die Chance, dass es sich bei seinem neuen Buch wieder um ein Meisterwerk handeln wird, ist hoch.
Alle Bücher von Jeffrey Eugenides im Überblick
Deutscher Titel | Gattung | Englischer Titel | Erscheinungsdatum |
Roman | 1993 | ||
Middlesex | Roman | 2002 | |
Air Mail | Erzählungen | Air Mail | 2003 |
Der Spatz meiner Herrin ist tot: Große Liebesgeschichten der Weltliteratur | Kurzgeschichten-Sammlung | My Mistress's Sparrow Is Dead | 2008 |
Die Liebeshandlung | Roman | 2011 | |
Das große Experiment | Kurzgeschichten-Sammlung | 2017 |
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