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Die besten Audiobiografien von LGBT-Musikern

Die besten Audiobiografien von LGBT-Musikern



Als deutsche
Eurovision-Song-Contest-Hoffnung hat sich Jendrik Sigwart in Rotterdam 2021
vielleicht nicht bewährt. Aber was den offenen Umgang mit Homosexualität
angeht, so setzte Sigwart von Anfang an Maßstände: gleich bei seiner
allerersten ESC-Pressekonferenz stellte sich der 26-jährige
Blondschopf-mit-der-Ukulele als schwul vor und erzählte der BILD-Zeitung
nebenbei und völlig unaufgeregt, dass er seit vier Jahren glücklich mit seinem
Freund Jan in Hamburg zusammenlebe. Mehr noch: Sigwarts Song „I Don’t Feel Hate
(I Just Feel Sorry)“ war vom Inhalt und der visuellen Umsetzung ein
unübersehbares Statement zum LGBT-Befreiungskampf (LGBT steht für lesbisch,
gay/schwul, bisexuell und transgender).

So viel selbstbewusst-herausfordernde Offenheit wie bei
Sigwart zum Thema Homosexualität ist nicht selbstverständlich. Was sich auch
daran zeigt, wie lange es gedauert hat, bis in den Biografien und Hörbüchern zu
bekannten LGBT-Musikern und Musikerinnen deren Sexualität als wichtiger
Bestandteil ihres Lebens überhaupt erwähnt wurde. Vorreiter sind vor
allem Autoren aus den USA und Großbritannien. Wir stellen hier die wichtigsten
Hörbücher vor.


Weiterlesen: Die besten Musikerbiografien bei Audible entdecken

Überblick: 100 Jahre LGBT-Popmusikgeschichte

Eine gute internationale Überblicksdarstellung liefert der britische Journalist
Darryl W. Bullock mit seinem Buch David Bowie Made Me Gay: 100 Year of LGBT Music. Es erschein 2017 in englischer Sprache, eine deutsche Übersetzung liegt bislang nicht vor. Dafür hat Bullock seinen Text selbst als Hörbuch eingelesen, und es macht Spaß, ihm mit seinem etwas ungehobelten Akzent zuzuhören bei diesem Streifzug durch die Geschichte
der Popularmusik vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute. Mit einem Einzelkapitel
zur Situation im Berlin der 1920er-Jahre und Stars wie Paul O’Montis und Claire
Waldoff.

David Bowie Made Me Gay

Bullock sagt gleich in der Einleitung, dass es „erstaunlich wenige Versuche gab, den Einfluss von schwulen, lesbischen, bisexuellen und trans Musikern zu dokumentieren, die die Musik beeinflusst haben, die wir alle hören“. Und das, obwohl die Boulevardpresse immer wieder „Skandalgeschichten“ übers geheime Sexleben von Popstars auf die Titelseiten hievte – man denke nur an die Verhaftung von George Michael, der 1998 von der Polizei auf einer öffentlichen Toilette in Los Angeles beim Sex mit einem Mann überrascht wurde und wegen
„unsittlichen Verhaltens“ eine Geldbuße von 810 Dollar zahlen und 80 Stunden Sozialdienst leisten musste. Über auflagensteigernde Schlagzeilen hinaus wurde nie gefragt, was Homosexualität mit George Michaels Musik zu tun haben könnte und wie sie sein Leben prägte. Diese Fragen stellt Bullock in seinem Buch und vergleicht die sich durch die Jahrzehnte wandelnde Situation anschaulich an vielen Beispielen. Allerdings gibt’s keine Musik zu hören, sondern nur die Stimme von Bullock. Die entsprechenden Soundstracks muss man sich anderswo suchen.

George Michael: Skandal als Befreiungsschlag  

Immerhin geht  Alex Stevens in seinem 30-Minuten-Porträt George Michael: A Biography auf all die erwähnten Fragen ohne Umschweife ein. Aber ein Hörbuch von dieser Länge kann natürlich unmöglich jedes Detail des hochkomplexen Lebens eines Musikers wie George Michael (1962-2016) behandeln. Wir erfahren immerhin, dass das Duo Wham! in den 1980er-Jahren als erste westliche Band in China auftreten durfte und ausgewählt wurde anstelle von Queen und Frontmann Freddie Mercury. Warum? Weil man George Michael und Wham!-Partner Andrew Ridgeley ein „sauberes“ Image nachsagte, ein Image, das der „flamboyante“ Mercury aus Sicht der kommunistischen chinesischen Staatsführung nicht hatte.

George Michael

Wir erfahren trotz aller Kürze die Basics über Michaels verschiedene Lebenspartner und darüber, wie unendliche viele Einnahmen aus Hits wie „Last Christmas“ und Father Figure“ er an Wohltätigkeitsgruppen spendete, besonders im Zusammenhang mit der Aidsforschung. Michael engagierte sich hier zu einer Zeit, als in Großbritannien die konservative Margaret-Thatcher-Regierung mit dem berüchtigten Gesetz „Clause 28“ jegliche Förderung von homosexuellem Lebensstil in öffentlichen Institutionen (Schule, Bibliotheken, Fernsehen usw.) unter Strafe stellte und die Aidskrise zu globaler Homophobie führte: weil man Schwule als von Gott mit einer Seuche gestrafte „Sünder“ deklarierte, als Menschen, von denen man sich und seine Kinder fern halten sollte.

Die Verhaftung in Los Angeles war für George Michael letztlich ein überfälliger Befreiungsschlag. Sein Zwangs-Outing hat er später ironisch in dem berühmten Musikvideo „Outside“ verarbeitet. Und anschließend sehr offen über seine Sexualität gesprochen, wodurch klar wurde, wie viele seiner Lieder einen schwulen Subtext haben, wenn man nur genau hinhört. Das tut man nach dem Anhören dieses Hörbuchs definitiv.

Boy George: Lieber eine gute Tasse Tee als Sex?


Der Erste, der sich in einem Klima der Aidshysterie und Homophobie freiwillig outete war Boy George (*1961), der mit dem Hit „Do You Really Want to Hurt Me“ und seiner Band Culture Club weltberühmt wurde. Und mit seinem androgynen Auftreten in den 1980er-Jahren für erhebliche Gender-Verwirrung sorgte. Was zu Spekulationen aller Art führte, auch zu seiner sexuellen Orientierung. Als er im US-Fernsehen gefragt wurde, ob er Männer oder Frauen bevorzuge, antwortete er 1983 lapidar: „Oh, beide!“ Damit löste er Diskussionen über seine
Bisexualität aus. Um diese etwas abzumildern legte er nach mit dem Statement, er bevorzuge im Zweifelsfall eine gute Tasse Tee zu Sex.

Fresh Air, Boy George and Marion Ettlinger

1995 veröffentlichte Boy George seine Autobiografie Take It Like a Man und stellte klar, dass er homo- und nicht bisexuell sei und nicht nur Tee trinke. Er erklärte auch, was seine Sexualität für sein Leben, seine Band und seine Songs bedeutete. Seither gab es 2002 das Musical Taboo über ihn, in dem der junge Luke Evans mitspielte, es gab 2008 die Doku Living with Boy George, wo er unter anderem über seine irischen Arbeiterklasseeltern spricht und wie diese auf sein Outing reagierten. Im Sommer 2021 beginnen die Dreharbeiten zum autobiografischen Film Karma Chameleon, für den derzeit ein Hauptdarsteller gesucht wird, der Boy George spielen soll.

Was man ebenfalls noch suchen muss, ist eine Hörbuch-Ausgabe von Take It Like a Man, egal in welcher Sprache. Es gibt aktuell nur eine 50-Minuten-Folge von Fresh Air aus den frühen 2000er-Jahren, die Boy George und dem Musical Taboo gewidmet ist. Man darf gespannt sein, was da nach Erscheinen des Kinofilms kommen wird.

Freddie Mercury: Aids-Tod als Hollywoodblockbuster

Im Gegensatz zu Boy George hat sein Kollege Freddie Mercury (1946-1991) als Rocksuperstar
lange gewartet, bis er öffentlich über seine Homosexualität sprach. Nicht, dass diese ein Geheimnis gewesen wäre, aber sie wurde nicht öffentlich behandelt bzw. nur verklausuliert angesprochen, wenn vom „exzentrischen“ und (ja, da ist das Wort wieder) „flamboyanten“ Mercury die Rede war. Erst als er 1991 an Aids starb, änderte sich das.

Danach dauerte es trotzdem lange, bis aus sensationslüsternen Schlagzeilen über Promiskuität, Drogenabstürze, Einsamkeit und Mercurys ausschweifendem Doppelleben eine
seriöse Biografie wurde.

Freddie Mercury: The Definitive Biography

Eine solche hat die britische Musikjournalistin Lesley-Ann Jones geschrieben: Freddie Mercury: The Definitive Biography. In der Hörbuchfassung spricht die Autorin selbst die sehr persönliche Einleitung und berichtet von ihren diversen Treffen mit Mercury, als sie in den 1980er-Jahren für britische Boulevardzeitungen über Queen schrieb. Gleich im ersten Kapitel über das legendäre Live-Aid-Konzert von 1985 taucht Mercurys letzter Lebenspartner und Erbe Jim Hutton (1949-2010) auf.

Somebody to Love

Während das Lesley-Ann-Jones-Buch von 2012 ist, stammt Somebody to Love: The Life, Death and Legacy of Freddie Mercury von 2017, geschrieben von Matt Richards und Mark Langthorne. Es kam also ein Jahr vor dem Kinoblockbuster Bohemian Rhapsody heraus, der die Freddie-Mercury-Geschichte und das Zusammenspiel von Musik und Sexualität für alle sichtbar machte – und Rami Malek als Freddie-Darsteller einen Oscar einbrachte. Es gab noch drei weitere Oscars. Der Film zeigte als Megahit, dass man mit solch einer ehrlich erzählten
Lebensgeschichte ein Massenpublikum erreichen und zu Tränen rühren kann. Außer in China, wo die schwulen Szenen herausgeschnitten wurden von der Zensur.

Elton John: Jugend im Schatten kriminalisierter Homosexualität

Vermutlich angestachelt vom Bohemian Rhapsody-Erfolg kam 2019 der Film Rocketman über
Elton John (*1947) heraus. Er behandelt seine frühen Karrierejahre und die Frage, wie Elton mit seiner Homosexualität im England der 1950er und 60er-Jahre umgehen musste, als gleichgeschlechtliche Handlungen eine Straftat waren, für die man bis 1967 ins Gefängnis kommen konnte. Von der gesellschaftlichen Ächtung ganz zu schweigen. Dass all dies Menschen dazu trieb, ihren Schmerz mit Alkohol und Drogen zu betäuben, wird in Rocketman
überdeutlich nachgezeichnet. Ebenso die Geschichte, wie man sich aus solch einer Spirale der Selbstvernichtung befreien kann.

Ich. Die Autobiografie

Parallel zum Film kam Elton Johns Ich: Die Autobiografie heraus, die sofort als Hörbuch veröffentlicht wurde. Während man in der deutschen Fassung Erich Wittenberg hören kann,
bietet die englische Ausgabe Sir Elton höchstpersönlich als Sprecher sowie Taron Egerton als Hauptdarsteller aus Rocketman. Diese beiden Männer im O-Ton mit ihrem ganz speziellen englischen Humor und mit unendlicher Selbstironie zu hören, ist ein besonderer Genuss!

Me

David Bowie: Der androgyne Held der Kinder vom Bahnhof Zoo

Im Reigen der britischen Popgiganten, die sich in ihrem öffentlichen Auftreten Gender-Normen und einem heteronormativem Standard verweigerten, darf natürlich David Bowie (1947-2016) nicht unerwähnt bleiben. Anfang der 1970er-Jahre gelang ihm als androgyner Ziggy Stardust der kommerzielle Durchbruch. Und mit seiner fiktiven Glamrock-Persona und ihrem homoerotischen Verhalten auf der Bühne wurde Bowie zur Ikone von so unterschiedlichen Leuten wie Christiane F. in Berlin und Darryl W. Bullock in London. Beide haben sich in ihren Büchern tief vor Bowie verneigt.

Hero

Die Journalistin Lesley-Ann Jones widmet Bowie mit Hero eine umfassende Audiobiografie, die ohne Umschweife auf die homoerotischen Elemente in den Liedern und im Leben Bowies eingeht. Was erfrischend ist. Und zeigt, dass zumindest im anglo-amerikanischen Raum solch
ein entspannter Umgang mit LGBT in der Populärkultur das neue Normal ist. Im deutschen Sprachraum hinken wir da noch hinterher.

Was ist mit den lesbischen und bisexuellen Musikern und Musikerinnen?

2018 veröffentlichte Will Larnach-Jonas das kleine, attraktiv illustrierte Buch 50 Queer Music Icons Who Changed the World: A Celebration of LGBTQ+ Legends. Darin sind alle gerade genannten Musiker enthalten, es werden aber darüber hinaus viele lesbische und bisexuelle Künstler diskutiert, zu denen es inzwischen Biopics gibt, aber keine Audiobiografien.
Beispielsweise war Viola Davis 2021 für einen Oscar als beste Hauptdarstellerin in Ma Rainey’s Black Bottom nominiert. Der Film handelt von der bedeutenden bisexuellen afro-amerikanischen Bluessängerin Gertrude „Ma Rainey“ Pridgett (1886-1939). Vielleicht spricht ja
noch jemand ein Hörbuch dazu ein, was in Zeiten von Black Lives Matter fast überfällig erscheint.

Eine weitere afro-amerikanische Sängerin, die kürzlich mit einem Biopic gefeiert wurde, ist die Jazzsängerin Billie Holiday (1915-1959). Regisseur Lee Daniels hat ihr den Film The United States vs. Billie Holiday gewidmet, in dem es u.a. um die Affäre Holidays mit der Schauspielerin Tallulah Bankhead (1902-1968) geht. Ein Hörbuch zu Holliday gibt es bislang nicht. Das gilt auch für lesbische Ikonen wie k.d. lang (*1961) oder Beth Ditto (*1981). Es scheint, dass in puncto lesbische Sichtbarkeit im Popbereich Nachholbedarf besteht, verglichen mit den schwulen Stars. Immerhin werden viele lesbische und bisexuelle Musikerinnen in David Bowie Made Me Gay detailliert behandelt, inklusive Ma Rainey.

Etliche jüngere Popstars, wie Sam Smith (*1992) oder Miley Cyrus (*1992) bevorzugen es übrigens, sich als „non binary“ zu bezeichnen, also als weder eindeutig männlich noch weiblich auf einem binären Spektrum verortet. Viele identifizieren sich auch lieber als
„queer“ im Sinn von „anders als die Heteronorm“, statt LGBT. Womit ein sehr viel weiteres Feld eröffnet wird, zu dem es schon etliche Hörbücher gibt, aber noch keine entsprechenden Musikbiographien. 

Noël Coward: Wendepunkt im Umgang mit dem LGBT-Erbe

Während in jüngster Zeit eine Öffnung fürs Thema Homosexualität zu beobachten ist, wenn es um Popkulturstars geht, so ist der britische Entertainer Noël Coward (1899-1973) ein gutes Beispiel dafür, wie dieser Umschwung historisch vorbereitet wurde. Denn Coward markiert quasi einen Wendepunkt.

Der Schauspieler, Dramatiker und Komponist wuchs in London im frühen 20. Jahrhundert auf. Offen homosexuell zu sein wäre auch für ihn damals karrieretechnischer Selbstmord gewesen. Der einzige Ort, wo er einigermaßen offen sein konnte, war im Theater bzw. Showgeschäft. Dort wusste jeder um seine Homosexualität und kannten seinen langjährigen Lebenspartner Graham Payne (1918-2005). Aber für die Außenwelt musste das geheim gehalten werden und
musste sich Coward als alleinlebender Junggeselle inszenieren, wenn er nicht sofort verhaftet werden wollte. Über die offensichtlichen homoerotischen Inhalte in seinen berühmten Liedern („Mad About the Boy“) und Theaterstücken („The Vortex“) wurde zwar pikiert die Nase gerümpft, man empfand sie als „shocking“, aber weiter ging die Diskussion nicht.

The Noël Coward Collection

Dass Coward erst 1970 von der Queen in den Adelsstand erhoben und zu Sir Noël wurde, hat gerüchteweise viel damit zu tun, dass man davor zurückschreckte, einem bekannten homosexuellen diese Ehre zukommen zu lassen, der möglicherweise von der Presse geoutet würde. Als Coward 1973 starb, verfügte er testamentarisch, dass alle Zeugnisse seiner sexuellen Orientierung – in Form von Briefen oder Tagebüchern – vernichtet werden sollten. Niemand sollte davon erfahren. Aber sein Erbe Graham Payne sowie sein Biograf Sheridan Morley (1941-2007) hielten sich nicht an diesen Wunsch. Stattdessen veröffentlichten sie sämtliche Unterlagen in wissenschaftlich aufgearbeiteten Ausgaben. Damit erschien der zuvor als altmodisch verschriene Coward auf einmal äußert modern, voller Widersprüche, Leidenschaften und Kämpfen mit sich und der Gesellschaft. Er wurde zu einer Gay Icon für eine neue Generation von LGBT und ist seither fest in der internationalen Popkultur verankert.

Noel Coward: An Audio Biography

Biograf Sheridan Morley hat das umfangreiche Material zu einer spannenden Audiobiografie
zusammengefügt. Daran ist bemerkenswert, dass man viele historische O-Töne von wichtigen Wegbegleitern Cowards hören kann, inkl. Graham Payne. Natürlich hört man auch den „Meister“ selbst, vermischt mit viel Musik, die das Ganze ungemein lebendig und abwechslungsreich rüberkommen lässt.

Und die Klassiker?

Je weiter man in die Vergangenheit zurückgeht, desto schwieriger wird es, Dokumente zum Privat- und Liebesleben von Musikern zu finden. Weil die meisten – anders als die Coward-Erben – das entsprechende Material vernichtet haben. Zwei bemerkenswerte Ausnahmen sind die Nachlässe von Peter Tschaikowsky (1840-1893) und Frédéric Chopin (1810-1849).

Dass Tschaikowsky homosexuell war und sich möglicherweise wegen eines drohenden
Skandals selbst mit Cholera infizierte und daran starb, darum ranken sich schon lange Legenden. Klaus Mann hat sie 1935 zum Roman Symphonie Pathétique verarbeitet und Tschaikowsky als „tragischen“ Helden gezeichnet, der an seiner Sexualität (und seiner
grenzenlosen Liebe zu seinem Neffen) litt, was ihn schließlich zur Komposition seiner berühmten letzten Symphonie inspirierte.

Viel vom Seelenschmerz findet man im Briefwechsel mit seiner reichen Gönnerin Nadeshda von Meck (1831-1894). Der liegt auch als Hörbuch vor, wobei wir da gleich in der Einleitung erfahren, dass der Schwanensee-und Nussknacker-Komponist seine Briefpartnerin nie direkt traf und dass es nie eine Liebesbeziehung zwischen beiden gab, auch wenn viele diese gern herbeikonstruieren.

Tschaikowsky - Nadeshda von Meck - Im Fieberrausch der Töne

Einen gänzlich anderen Mann lernt man in den Briefen kennen, die Tschaikowsky an seinen ebenfalls homosexuellen Bruder Modest (1850-1916) schrieb. Da spricht er – anders als gegenüber Nadeshda von Meck – freizügig von Sexpartys und erotischen Abenteuern, davon, dass man versuchte ihn zu erpressen und davon, dass er seine sexuelle Orientierung vollkommen akzeptiert habe. Diese Briefe waren lange unter Verschluss, erst im Zusammenhang mit Glasnost und Perestroika wurden sie in den 1990er-Jahren erstmals westlichen Wissenschaftlern zugänglich gemacht und anschließend veröffentlicht, auch auf Deutsch. Aber der konservativen Klassikwelt passte ein derart umtriebiger und glücklich-schwuler Tschaikowsky nicht, sie nahm von den Briefen kaum Notiz. Nur Regisseur Ralf
Pleger hat sie kongenial in seiner Filmdoku Die Akte Tschaikowsky – Bekenntnisse eines Komponisten (2015) eingebaut. Auf eine Hörbuchausgabe der Korrespondenz mit Modest muss man noch warten.

In Russland sind die Dokumente inzwischen wieder unter Verschluss, weil jede Form von „Homopropaganda“ neuerdings wieder strafbar ist und man Tschaikowsky den Nationalhelden nur als tragischen Homosexuellen darstellen darf, keinesfalls als glücklichen.

Gert Westphal liest: Große Komponisten in Briefen und Literatur

Ähnlich kompliziert ist die Situation beim polnischen Nationalkomponisten Chopin. Seine
umfangreiche Korrespondenz, die viele schwärmerische Liebesbriefe an männliche Freunde enthält, wurde in allen Übersetzungen aus dem Polnischen so abgeändert, dass aus den Personalpronomen „er“ durchweg ein „sie“ gemacht wurde, so dass jeder Verdacht auf Homoerotik getilgt ist. Das führte dazu, dass in Biografien zu Chopin nicht belegte und teils absurde Liebesbeziehungen zu Frauen erfunden wurden, während die tatsächlichen Liebesbeziehungen zu Männern unerwähnt blieben, besonders die zu seinem Jugendfreund Tytus Woyciechowski (1808-1879).

Erst im November 2020 hat das Schweizer Radio eine große Auswahl von Briefen Chopins
neu übersetzen lassen und mit den richtigen Personalpronomen veröffentlicht. Die zweiteilige Sendung Chopin war schwul – und niemand sollte davonerfahren machte international Schlagzeilen von Amerika bis Indien, Indonesien, Israel, Italien, Frankreich und Großbritannien. CNN berichtete ebenso wie die BBC, The Guardian oder Die Welt. Auch in Polen gab es
Schlagzeilen, weil man das Ganze als Frontalangriff auf einen Nationalheiligen ansah, der in einem von der PiS regierten und der katholischen Kirche dominierten Land schlichtweg nicht schwul sein konnte. Schließlich ist sogar der Flughafen in Warschau nach ihm benannt!

Frédéric Chopin - Herzenserinnerungen

Als Hörbuch gibt es von Cornelia Ferstel Frédéric Chopin – Herzenserinnerungen, aus der Reihe „Musikgeschichten“. Es ist noch ganz der romantisch-heterosexuellen Interpretation von Chopins Leben verhaftet, basierend auf den falsch übersetzten Briefen.

Anders liegt der Fall beim Buch Chasing Chopin von Annik LaFarge, das im Sommer 2020
erschien, also kurz vor den Enthüllungen des Schweizer Radios. LaFarge behandelt
immerhin die Homosexualität von Chopins Wohltäter und Freund, dem Marquise Astolphe
de Custine (1790-1857). Und sie tut dies in einem umfangreichen Einzelkapitel. Außerdem spricht sie über die ungewöhnliche „Queerness“ von Chopins enger Freundin George Sand (1804-1876), mit der er zeitweise zusammenlebte, aber ein Kein-Sex-Abkommen hatte, während sie diverse Affären unterhielt, auch mit Frauen. Dass Chopin selbst homosexuell gewesen sein könnte, wird von LaFarge nicht erwähnt. Trotzdem liefert sie ein spannendes Porträt und schwärmt davon, dass sie das Larghetto aus dem Klavierkonzert als die schönste nur denkbare Liebeserklärung an eine Frau empfinde – nicht wissend, dass Chopin diesen langsamen Satz laut eigener Aussage als Porträt seiner Gefühle für Tytus komponiert hat.

Chasing Chopin

Bei anderen klassischen Musikern muss man nach solchen Äußerungen lange suchen. Als Forscher einst Franz Schubert (1897-1828), Ludwig van Beethoven (1770-1827) oder Georg Friedrich Händel (1685-1759) für homoerotisch veranlagt erklärten, stand der Klassikbetrieb Kopf und lief Sturm gegen solche „Verleumdungen“. Viele wollen von derartigen "Privatangelegenheiten“ nichts wissen, weil es den vermeintlichen „reinen“ Genuss
der Klänge mindern könnte.

Liberace: Hinter dem Kronleuchter

Wie hysterisch Fans reagieren können, wenn sich unverhofft herausstellt, dass ihr musikalisches Idol homosexuell ist, dokumentiert der Fall des Pianisten Liberace (1919-1987). Über Jahrzehnte machte er mit spektakulären Glitzer-Outfits, für die das Wort „flamboyant“ nicht mal annähernd als Beschreibung ausreicht, Furore, kam mit einem Rolls Royce auf die Bühne in Las Vegas gefahren, trug auslandende Pelzmäntel, umgab sich mit attraktiven jungen Männer. Er weigerte sich jedoch, seine Homosexualität öffentlich anzusprechen. Liberace – der als Władziu Valentino Liberace in den USA geboren wurde – war als Kind katholischer Einwanderer aus Polen und Italien strenggläubig erzogen worden und hörte von seiner Mutter und Priestern immer wieder, dass Homosexuelle in die tiefsten Zirkel der Hölle kämen. Zudem war Homosexualität in den Vereinigten Staaten strafbar, genau wie in Europa. Der große Befreiungsschlag kam erst 1969 mit den sogenannten Stonewall Riots, dem Aufstand der Homosexuellen in New York gegen Unterdrückung und Polizeigewalt. Von der daraufhin einsetzenden Gay Liberation hielt sich Liberace fern, er spielte lieber für alte Ladies emotional aufgeladene Klaviermusik in diamantenbesetzten Anzügen, was ihm den Namen „The Glitter Man“ einbrachte.  Jeder Journalist, der ihn auch nur andeutungsweise als homosexuell beschrieb, wurde verklagt. Liberace sagte sogar unter Eid vor Gericht aus, dass er nicht schwul sei.

Als er sich in den 1980er-Jahren mit HIV infizierte, wollte er noch auf dem Sterbebett verhindern, dass seine Fans irgendetwas über seine Homosexualität erfahren, weswegen er das Wort Aids aus allen Berichten heraushalten wollte. Das gelang jedoch nicht.

Behind the Candelabra

Seine wahre Geschichte schrieb später ein Jahr später sein Lebensgefährte Scott Thorson (*1959) auf. Titel: Behind the Candelabra, was sich übersetzen lässt als „Hinter dem Kronleuchter“, eine Anspielung auf den berühmten Satz „Hinterm Regenbogen“ aus dem schwulen Filmklassiker Der Zauberer von Oz. Daraus machte  Regisseur Steven Soderbergh 2013 einen Hollywoodfilm mit Michael Douglas als Liberace und Matt Damon als Thorson. Parallel erschien die Hörbuchfassung von Behind the Candelabra, die bei über acht Stunden Länge natürlich viel mehr intime Details liefert als der Film es je könnte.

Zurück nach Europa und Deutschland

Während in den USA in der Entertainmentbranche inzwischen viel aufgearbeitet wurde, geht
das im deutschen Sprachraum langsamer. Auch was die Schlagerbranche betrifft.
Obwohl allgemein bekannt ist, dass viele ESC-Fans schwul, beziehungsweise queer sind und viele Schlagersänger nicht heterosexuell, gibt es zu berühmten LGBT-Schlagersängern kaum Biografien. Man denke man Jürgen Marcus (1948-2018), der sich 1991 als erster bedeutender Schlagerstar Deutschlands als homosexuell outete und ab 1995 mit seinem Manager in einer Beziehung lebte. Man denke an Rex Gildo (1936-1999), der sich am Ende aus einem Klofenster stürzte. Oder man denke an Hanne Haller (1950-2005), die in einer heimlichen Beziehung mit der TV-Moderatorin Ramona Reiß lebte, aber darüber nicht reden wollte.  Offener geht Patrick Lindner (*1960) mit seiner sexuellen Orientierung um oder Kerstin Ott (*1982). Bücher zu ihnen gibt es nicht.

Eloy de Jong veröffentlichte immerhin 2020 Egal was andere sagen: Autobiografie. Auf die Hörbuchfassung muss man noch warten. Ob Jendrik Sigwart irgendwann ein Buch über sein Leben veröffentlichen wird, bleibt auch abzuwarten. Seine ESC-Kollegin Conchita Wurst, die 2014 für Österreich mit dem Lied „Rise Like a Phoenix“ gewann und für heftige Diskussionen über Gendernormen sorgte, veröffentlichte Ich, Conchita – Meine Geschichte. We are unstoppable. Als gesellschaftliches Phänomen ist sie in der neuen Dauerausstellung im Haus der Geschichte Österreich (HdGÖ) angekommen, die in der Hofburg Wien gezeigt wird. Ob Sigwart auch einmal im Deutschen Historischen Museum (DHM) auftauchen wird oder zumindest in der Dauerausstellung des Schwulen Museum Berlin? Es bleibt spannend.

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