Er hechtet die Treppen hoch, rutscht fast auf den vereisten Stufen aus und zerschlägt schließlich das Fenster, um sie noch einmal sehen zu können: seine geliebte Lara. Die Frau, in die sich Jurij Schiwago bereits als junger Arzt verliebt hat - und die er mehr liebt denn je. Einen letzten Blick erhascht Jurij noch auf den Schlitten, in dem sie mit ihrer Tochter sitzt, bevor das Gefährt hinter den verschneiten Hügeln verschwindet. Er sieht Lara nie wieder.
Doktor Schiwago – zwischen Herzklopfen und Herzschmerz
Herzzerreißende Szenen wie diese spielen sich in dem Film “Doktor Schiwago” nach dem gleichnamigen Buch von Boris Leonidowitsch Pasternak immer wieder ab. Mehr als einmal blickt Omar Sharif, der Jurij Schiwago spielt, Julie Christie als Lara so tief in die Augen, wie es nur Hollywood-Schauspieler können. Jeder Abschied ist von Tränen begleitet.
Lara und Jurij lernen sich vor dem Ersten Weltkrieg in Moskau kennen und lieben. Sie finden jedoch nicht zueinander und heiraten andere Partner. Dr. Jurij Schiwagos Frau ist Tonya Gromyko (Geraldine Chaplin), die Tochter seiner einstigen Pflegeeltern. Sie muss sich damit abfinden, dass ihr Mann zwar bei ihr bleibt, sie jedoch nicht liebt. Seine Leidenschaft gilt der schönen Lara und er verfällt ihr immer wieder, auch nachdem sie den Revolutionär Pascha Antipow geheiratet hat.
Die Handlung erstreckt sich über den Zeitraum vor, während und nach der Russischen Revolution und schildert die großen gesellschaftlichen Umwälzungen dieser Zeit. Im Lauf der Jahre treffen Lara und Jurij immer wieder zufällig aufeinander. Doch die Sterne stehen schlecht für die Liebenden, Umstände und Timing passen nie.
Die Frauen in Pasternaks Leben
Pasternak selbst führte eine ähnliche Dreiecksbeziehung. Mit seiner Frau Sinaida war er bis an sein Lebensende zusammen. Das Vorbild für Lara war jedoch die 22 Jahre jüngere Olga Ivinskaya. Ähnlich wie die Frau, zu der sie inspirierte, musste sich Ivinskaya mit der Rolle der Geliebten zufriedengeben.
Während seine Frau seinen Haushalt schmiss, für ihn kochte und seine Wäsche wusch, war es Ivinskaya, die Boris Leonidowitsch Pasternak als Muse in seinem literarischen Bestreben unterstützte. Mit Folgen: Seinetwegen musste sie gleich zweimal Strafen in sibirischen Arbeitslagern absitzen.
Doktor Schiwago: Beim Nobelpreis hatten englische Geheimdienste ihre Finger im Spiel
In Russland war der 1956 fertiggestellte Roman von Boris Leonidowitsch Pasternak bis zum Fall des Eisernen Vorhangs verboten. Den Zensoren war das Werk zu kritisch gegenüber der Sowjetunion und dem Stalinismus. Deshalb wurde Doktor Schiwago zunächst in italienischer Übersetzung veröffentlicht. Gerüchten zufolge hatten der amerikanische und der britische Geheimdienste ihre Finger im Spiel, als das Buch 1958 für den Nobelpreis nominiert wurde.
Spionage- und Liebesgeschichte in einem
Diese Geschichte brachte die US-Autorin Lara Prescott dazu, die Arbeit zu ihrem Debütroman Alles, was wir sind zu beginnen. Darin erzählt die nach Doktor Schiwagos Lara benannte Amerikanerin, wie Pasternaks Werk vom amerikanischen Geheimdienst als Propagandamittel eingesetzt wurde.
Das Spannende daran: Im Mittelpunkt stehen nicht der gefeierte Autor oder die hohen Tiere beim amerikanischen Geheimdienst, die allesamt Männer waren. Es geht um die Frauen, die hinter den mächtigen Herren ihre Plätze einnehmen mussten - Pasternaks Geliebte Olga, eine amerikanisch-russische Agentin und Sekretärinnen, die viel mehr als nur flinke Finger hatten. Lara Prescott recherchierte jahrelang in Russland und in den Archiven der CIA für ihr Ende 2019 erschienenes Buch. Es wurde ein weltweiter Erfolg und in 29 Sprachen übersetzt. Die von Vera Teltz gelesene deutsche Hörbuchfassung ist ungekürzt.
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Jurij und Lara – eine zeitlose Liebesgeschichte
Dass die Geschichte von Doktor Schiwago mehr als 50 Jahre nach ihrer Veröffentlichung noch fasziniert, liegt sicher auch daran, dass in den vergangenen Jahren mehr und mehr Details über die Publikationsgeschichte des Romans bekannt geworden sind.
Der Film wiederum ist noch immer einer erfolgreichsten Filme aller Zeiten. Für zehn Oscars war das unter der Regie von David Lean geschaffene Hollywood-Drama seinerzeit nominiert. Doktor Schiwago erhielt schließlich 1966 fünf Oscars, unter anderem dem Oscar für die beste Kamera und die beste Filmmusik von Maurice Jarre.
Wer sich den Film heute anschaut, dem fallen sofort die beeindruckenden Landschaftsbilder auf, die regelrecht ausgekostet werden. Weniger beeindruckend ist das Frauenbild: Während die hochschwangere Tonya auf dem Feld Gemüse erntet, starrt ihr Poet von einem Ehemann gedankenverloren aus dem Fenster – und denkt dabei wahrscheinlich noch an seine Geliebte. Man möchte glauben, dass die Frau aus dem 21. Jahrhundert den Kerl seine Rüben selbst hätte ernten lassen.
Dennoch: Die Dreiecksbeziehung zwischen Jurij, Lara und Tonya hat bis heute nichts an ihrer Brisanz und Dramatik verloren. Und große Gefühle sind sowieso zeitlos.
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