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Auf letzter Reise mit der an Alzheimer erkrankten Mutter

Auf letzter Reise mit der an Alzheimer erkrankten Mutter

Aitutaki ist ein gekipptes Atoll am anderen Ende der Erde, irgendwo zwischen Neuseeland und Hawaii. Als die Journalistin und Romanautorin Claudia Schreiber vor zwei Jahren die Diagnose Alzheimer bekommt und begreift, dass diese Krankheit ihren „brillanten Verstand zerschmettern“ wird, wie sie es formuliert, möchte sie eine Reise antreten zu jener Insel, von der sie seit über 30 Jahren träumt. Auf ihre Abschiedsreise vom Leben nimmt Schreiber ihren 29-jährigen Sohn Lukas mit. Dabei kam der achtteilige Podcast „Aitutaki Blues“ heraus. Wir sprachen mit Lukas Sam Schreiber über dieses extrem persönliche Projekt.

Der Untertitel zu deinem Podcast lautet „Letzte Reise mit der Mutter“ und deutet schon darauf hin, dass „Aitutaki Blues“ auch ein Abschied ist. Wer hatte denn die Idee, diese Reise nach Aitutaki als Podcast zu verarbeiten?

Das ist so ein bisschen das Familienhandwerk: Dinge publizistisch aufzubereiten. Es ist sozusagen der klassische Weg der Familie Schreiber. Meine beiden Eltern sind Journalisten, mein Vater war Kriegsreporter im Tschetschenien- und Kosovo-Krieg, wir haben in Moskau gewohnt und dann in Brüssel, weil er dort Auslandskorrespondent war; meine Mutter war Schriftstellerin, vorher Journalistin. Als die Entscheidung fiel, nach Aitutaki zu fliegen, war die zweite Frage meiner Mutter: „Was machst du draus?“

Das hat sie dich gefragt?

Ja. (lacht) Sie sagte: „Wir fahren da nicht hin, ohne dass du etwas daraus machst.“ Aber was genau, das war lange nicht klar. Wir haben gemeinsam einen Regisseur getroffen, weil meine Mutter kurz überlegt hatte, aus dem Ganzen einen Film zu machen. Aber letztlich haben wir uns darauf geeinigt, dass ich die Reise selbst und in meiner Regie verarbeite – und mein Medium sind nun mal Podcasts.

Aitutaki Blues - Die letzte Reise mit meiner Mutter und Alzheimer (Original Podcast)

__Die Reise als Podcast aufzubereiten ist ja ganz anders als ein Film. Wo siehst du den Vorteil einer Hörfassung? __

Ich verstehe „Aitutaki Blues“ als Audiodokumentation. Ich glaube, dass unsere Geschichte in keinem Format besser funktioniert hätte als in Audio. Das Schöne ist, dass Claudia so wundervoll erzählen kann. Sie kann auf einem Level der Krankheit über die Krankheit sprechen, wie wahrscheinlich eine winzige Anzahl von Menschen in dem Stadium von Alzheimer darüber sprechen könnte! Einfach weil Claudia diese unfassbare sprachliche Kompetenz hat. Das wäre in einem Buch nicht so intensiv rüber gekommen, weil man sie da nicht hören könnte. Ein weiterer cooler Aspekt ist, dass Claudia und ich eine wundervolle Beziehung miteinander haben und das auf der auditiven Ebene rüberkommt.

Ein Teil von Alzheimer ist, dass sie sich häufig wiederholt, dass sie über ihre eigenen Worte springt. Aber nirgendwo hat man so viele Möglichkeiten wie im Auditiven, die richtigen Teile miteinander zu verbinden. Da hat man viele kreative Freiheiten, wie man das, was Claudia erzählen kann, so hörbar zu machen, als würde sie es selbst perfekt können. Ich sehe also in diesem Format einen viel größeren Handlungsspielraum. Das Ziel war, so hautnah, explizit, schamlos und klar zu erklären, wie sich Alzheimer anfühlt.

Wie wichtig ist es für solch ein Projekt, dass ein Vertrauensverhältnis zwischen den Gesprächspartnern besteht, um über vergleichsweise intimen Dinge zu sprechen?

Das kommt in der letzten Folge nochmal als Frage auf, wo wir mit acht Monaten Zeitabstand zurückblicken auf die Reise. Da erzählt Claudia, dass wir uns im Vorfeld klar vorgenommen hatten: Wir machen uns beide nackt! Wenn man sowas erzählt, dann macht man das „all in“. Es gab einige Punkte, wo ich gesagt habe, darüber will ich selbst lieber nicht reden, es muss nicht jeder wissen, wie schlecht es mir damals emotional ging. Aber der Deal war, wenn wir das machen, dann machen wir es komplett. Und das haben wir beide gemacht. Das ist schamlos, obwohl es um Scham geht.

__Ich hatte zuvor noch nie Alzheimer-Reportagen gesehen oder gehört, wo jemand auch darüber nachdenkt, was die Krankheit mit dem eigenen Sexleben macht. Deine Mutter erzählt sehr anrührend, wie ihr letzter Freund sie vermutlich verlassen habe, weil sie schon anders „tickte“ und nicht mehr „normal“ war. __

Es geht nicht nur um Sexualität, sondern das darüberstehende Narrativ. Wenn man mit einer Krankheit diagnostiziert wird, die tödlich ist, die nicht heilbar ist und die einen immer mehr verschwinden lässt, wo es kein Happy End und keine Hoffnung gibt, dann macht man sehr bewusst Dinge zum letzten Mal. Das tut Claudia seit zwei Jahre mit fast allem. Eine Sache, die da ganz am Anfang stand, war, dass sie nicht mehr mit gesunden Menschen eine Beziehung auf Augenhöhe führen kann.

Es geht dabei weniger um Sex, sondern um Liebe, die romantische Liebe. Denn wenn sie keinen festen Partner hat, wird sie unter diesen Alzheimer-Umständen auch keinen neuen Partner kennenlernen. Romantische Liebe entsteht nicht innerhalb von einem Tag, sie würde sich in ihrem derzeitigen Zustand auch nicht an eine neue Person erinnern können, wenn sie diesem am nächsten Tag wiederbegegnen sollte. Das war ihr früh klar. Und so trauert sie nicht dem Sex hinterher, sondern der Tatsache, dass sie sich nicht mehr wird verlieben können.

Super-Brain

„Aitutaki Blues“ ist jetzt schon eine Weile veröffentlicht. Was für Rückmeldungen hast du bekommen von Hörern?

Ich hab‘ echt wahnsinnig irres Feedback bekommen, das mir klargemacht hat, was ich schon befürchtet hatte: dass fast jeder jemanden kennt, der Alzheimer hat oder hatte! Diese Krankheit ist so häufig, und kaum jemand weiß damit umzugehen. Ich hab‘ eine Mail von einer Pflegekraft bekommen, der sagte, er arbeite seit 15 Jahren mit Alzheimer-Patienten, aber er habe jetzt erst durch „Aitutaki Blues“ verstanden, wie die sich fühlen. Wenn du sowas kriegst, dann ist das unendlich wertvoll. Das hätte ich mir nicht mal erträumen können, so etwas als Rückmeldung zu bekommen.
Ich habe in der Vorbereitung des Podcasts mit Ärzten gesprochen, die von ihren Erfahrungen mit Alzheimer in den 1990er-Jahren erzählten. Damals gab’s noch gar kein richtiges Krankheitsbild. Man hat einfach gesagt, das seien alte Menschen und die würden halt schrullig mit der Zeit, das wurde nicht weiter ernst genommen. Jetzt weiß man – und merkt zunehmend –, dass hinter all diesen Krankheitsverläufen Biografien stecken, dass es um ganz viel Leben geht, dem durch Alzheimer ein Strich durch die Rechnung gemacht wird. Und das ist furchtbar.

Es gibt keine medizinischen Heilungsmöglichkeiten?

Ich habe einen Podcast gemacht mit dem Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen und habe da etwas provozierend gefragt: „Wie sieht's denn so aus, was ist die Speerspitze der aktuellen Forschung? Worauf setzt ihr als Hoffnung für die Zukunft?“ Und sie sagten: „Gar nichts.“ Das einzige, woran irgendwie mit Erfolg geforscht wird, sind ein paar Mittel, um die Symptome zu lindern, Mittel, die deutlich mehr Nebenwirkungen haben, als dass sie helfen. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, wie man das Problem Alzheimer lösen könnte. Das bedeutet, vor uns liegen noch Jahrzehnte, in denen Leben zerstört werden.

Still Alice

__Siehst du „Aitutaki Blues“ als eine Form von Lebenshilfe, für andere, um zu zeigen, wie man mit Alzheimer und dieser Zerstörung umgehen kann, als Lösungsweg? __

Ich weiß nicht, ob wir Lösungen bieten. Mir fällt keine ein und ich habe keine gefunden. „Aitutaki Blues“ ist eine einzige Abhandlung davon, wie ich so gut wie möglich für meine Mutter da sein kann in dieser Situation. Darüber hinaus ist nichts mehr zu machen. Es wird mit ihr zunehmend schlechter, das merke ich seit unserer Rückkehr aus Aitutaki. Ich weiß auch, meine Mutter wird an Alzheimer sterben. Und ich habe keine Antwort gefunden, um damit irgendwie ‚besser‘ umgehen zu können. Ich glaube allerdings schon, dass unser Podcast Leuten helfen kann, die Krankheit besser zu begreifen.

Dafür war es wichtig, dass Claudia und ich sehr ehrlich miteinander sind. Das habe ich auch als Feedback von vielen Menschen gehört. Sie sagten: „Ihr redet ganz schön Tacheles miteinander!“ Ja, das machen wir. Wir sind total klar miteinander, und das gefällt mir. Wenn das andere inspiriert, ihre Eltern anzurufen und zu sagen, dass sie sie lieben, dann ist schon was gewonnen.

__Inge Jens hat 2016 das Buch „Unvollständige Erinnerungen“ herausgebracht, über das Zusammenleben mit ihrem demenzkranken Mann Walter Jens, einem der großen Intellektuellen der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Viele haben sie wüst beschimpft, dass die Walter Jens in solch einem Zustand beschrieben hat, mit allen Problemen und Unmöglichkeiten seines Verhaltens. __

Ich habe mal „Der alte König in seinem Exil“ von Arno Geiger gelesen, der über seinen Vater spricht, der an Alzheimer erkrankt ist. Da geht es in eine ähnliche Richtung wie bei Inge Jens. Und da kam auch der Vorwurf, Geiger würde seinen Vater „instrumentalisieren“. Das ist ein Urteil, das man fällen kann, aber für mich wäre das zu kurz gegriffen. Auf uns bezogen hieße das, ich würde Claudia ihre eigene Mündigkeit absprechen. Es war uns von Anfang an klar: Sie ist eine publizierende Frau. Sie sagt selbst immer, dass sie eine sehr schlimme Kindheit hatte mit schweren Missbrauchserfahrungen. Das hat sie ihr ganzes Leben lang publizistisch aufgearbeitet. Sie hat viele Menschen interviewt, die ihr harte Geheimnisse anvertraut haben. Sachen, die sie noch nie jemandem erzählt hatten. Und Claudia meinte, wenn sie jetzt nicht den gleichen Weg geht und ihr Innerstes preisgibt, dann tut sie all den Menschen Unrecht, die ihr damals erlaubt hatten, tief in ihr Innerstes zu blicken. Ich hab's bei Claudia geschafft, dass man sagt: Ja, sie ist krank, aber ich hab‘ auch zeigen können, wie wundervoll und unglaublich sie ist, wie viel sie zu geben hat. Ich hab‘ mit ihr zusammen etwas aufgenommen, das ich meinen eigenen Kindern einmal vorspielen kann, um zu erklären, wer meine Mutter war. Und dazu stehe ich.

Small World

Wie wichtig ist es, Erinnerungen an einem Menschen über die Stimme wachzuhalten?

Es wird nie wieder jemanden geben, dessen Stimme ich so viel gehört habe wie die meiner Mutter. (lacht) Obwohl ich die ganzen Gespräche mit ihr kannte, habe ich beim späteren Abhören und Bearbeiten der Aufnahmen doch das Gefühl gehabt, jedes Mal wieder etwas Neues von ihr lernen zu können. Es ist unendlich viel persönlicher, bei ihren Erzählungen ihre Stimme zu hören. Viel mehr, als wenn wir alles nur aufgeschrieben hätten.

Vielleicht ist Lesen auch ein bisschen aus der Zeit gefallen für die Generation Podcast?

Es gibt Dinge, die Audio einfach besser kann als jedes andere Medium, dazu gehört, Gefühle ganz klar zu übermitteln. Über Stimme wird unsere Vorstellungskraft aktiviert, was im Film beispielsweise so nicht stattfindet, weil da alles so plastisch ist; es wird einem da quasi vorgegeben, wie man sich Sachen vorzustellen hat. Audio macht das anders. Man kennt das von Büchern, wo man sich beim Lesen alles selbst vorstellen muss. Und mit Stimmen ist da noch mal viel mehr in einer Geschichte drin. Ich glaube, die Gefühlsebene wird bei Audio viel intensiver aktiviert, was Hörbücher und Podcasts zu solch einem wahnsinnig spannenden Medium macht. Gerade für die Geschichte von Claudia und mir kann ich mir kein besseres Medium vorstellen. Allerdings bin ich auch sehr audiophil. *(lacht) *

Die Demenz und Ich - Herz über Kopf

Podcast haben ja so ein bisschen was von Nachrichtencharakter, im Gegensatz zu einem klassischen Hörbuch. Wie wichtig war dir der Live-Dabeisein-Faktor?

Ich habe damals mit ein paar Mitstreitern meine Podcast-Agentur gegründet, genau mit dieser Frage im Blick. Wir sehen wahnsinnige Podcast-Formate in den USA mit riesigem Produktionsaufwand, während in Deutschland bis heute 95 Prozent der Podcasts irgendwelche Zoom-Aufnahmen sind. Es ist wirklich unfassbar, wie weit zurück die Podcastszene hierzulande ist. Das wollten wir anders machen, auch mit „Aitutaki Blues“. Wir wollten eine echte Geschichte erzählen, die selbst wirklich eine Geschichte erzählt. Das geht nur, wenn man Musik dafür macht, wenn man sich mitten im Geschehen fühlt am anderen Ende der Welt. Das ist so etwas Bildhaftes, das funktioniert nicht, wenn der Zuhörer nicht spürt, dass er auf dieser Insel ist.

Das funktioniert nur, wenn man viel erklärt und auditive Hinweise gibt. Man muss das Rascheln hören, das Meer, die Vögel, man muss hautnah dran sein. Das ist das, was wir als Agentur machen wollen. Mein Geschäftspartner Tim und ich haben gleich gesagt: Wenn wir mit Podcasts anfangen, gehen wir keine Kompromisse ein. Und das trifft auch auf „Aitutaki Blues“ zu. Wir haben keinen Aufwand gescheut. Ich weiß nicht, ob „Aitutaki Blues“ überragend ist, aber es ist das Beste, was ich derzeit machen kann. Vielleicht werde ich irgendwann besser und dann gestalte ich das Ganze nochmal anders. Aber für jetzt hab‘ ich keine Alternative, mehr geht nicht. (lacht) Und das ist ein geiles Gefühl!

Unter Tränen gelacht

Hat deine Mutter sich den Podcast angehört?

Ja, mehrfach. Wir haben uns schon vor einem Jahr einen Rohschnitt zusammen angehört. Das Problem mit Alzheimer ist: Sie muss sich alles an einem Tag anhören, denn am nächsten Tag ist die Erinnerung weg. Manchmal kam dann eine Woche später die Frage: „Wann darf ich denn endlich mal reinhören?“ Das wirft natürlich Probleme auf. Was ist, wenn sie an einem Tag sagt, eine bestimmte Stelle gefällt ihr, und am nächsten Tag sagt sie das Gegenteil, was zählt dann? Zum Glück kam dieser Moment nie. Aber darüber habe ich häufig nachgedacht: Welche Antwort nehme ich für voll? Was bedeutet eine Aussage, wenn mein Gegenüber sich schon kurz darauf nicht mehr an diese Aussage erinnern kann? Da verschwimmt die Wahrnehmung von Wahrheit sehr schnell.

Vor kurzem war ich mit Claudia auf einem Road Trip nach Kassel, um einen Bekannten zu treffen. Dabei waren wir viereinhalb Stunden im Auto, und ich habe ihr verschiedene deutsche Podcasts vorgeführt. Die fand sie alle Scheiße. Am Ende habe ich für sie „Aitutaki Blues“ angemacht… und sich selbst hört sie dann schon ganz gerne. (lacht) Unseren Podcast fand sie jedenfalls ziemlich stark. Das war schön zu beobachten, dass es ihr so gefallen hat, sich selbst zuzuhören. Das macht mich zufrieden, denn sie ist meine kritischste Zuhörerin.

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