"Die Trennung zwischen virtuell und real ist so 1990"

"Die Trennung zwischen virtuell und real ist so 1990"

Virtual Reality galt mal als Technologie für Gamer, inzwischen wird sie erfolgreich in der Industrie, Traumatherapie und in der Ausbildung eingesetzt. Welche Bereiche sind aus Ihrer Sicht am vielversprechendsten?

Als Wissenschaftler interessiert mich die Technologie vor allem, weil wir das Verhalten von Versuchspersonen unter sehr realistischen Bedingungen untersuchen können. Normalerweise setzt man in meinem Fachgebiet Probanden vor einen Monitor und zeigt nacheinander Reize - das hat nicht viel damit zu tun, wie etwa Wahrnehmung und Gedächtnis unter realen Bedingungen funktionieren. Große Potenziale sehe ich im Marketing überall dort, wo man einen Eindruck von einem Ort bekommen möchte. Also etwa im Tourismus, in der Möbel- und in der Immobilienbranche. Leute verkaufen Ölplattformen mit Hilfe von VR, denn die kann man schlecht auf einer Messe besichtigen.

Auf der Website Ihres Unternehmens steht: „Weniger als zwei Prozent der Wahrnehmung basieren tatsächlich auf sensorischen Informationen – der Rest ist eine Kreation des Gehirns.“ Wie meinen Sie das?

Sie haben das Gefühl, Ihr Auge sei eine Kamera, die das abbildet, was da ist. Das ist weit entfernt von dem, was wir mittlerweile über Wahrnehmung wissen. Wahrnehmung ist ein konstruktiver Prozess. Licht an sich ist nicht und hat keine Farbe – Farbe entsteht im Gehirn. So ist es mit ganz vielen Wahrnehmungsprozessen. Wenn dieser Konstruktionsmechanismus gestört ist – etwa durch Drogen oder durch Schizophrenie – dann entsteht eine alternative Wirklichkeit. Diese basiert aber auf den gleichen sensorischen Informationen.

Die Realität ist also in Ihren Augen ebenfalls nur eine Kreation?

Da draußen gibt es irgendetwas, aber es hat nicht viel mit dem zu tun, was wir wahrnehmen. Das Gehirn ist eine Illusionsmaschine. Es nimmt das, was es hat, und fängt an, damit zu kreieren. Objekte, die Sie vor sich sehen oder berühren, sind in erster Line mentale Objekte. Vier Prozent des Universums bestehen aus Atomen, die Licht reflektieren und die man anfassen kann. Der Rest ist dunkle Energie und dunkle Materie – wir haben gar keine Chance, das wahrzunehmen. Richard Dawkins schreibt in „Der Gotteswahn“: „Das Universum trägt für uns die Mutter aller Burkas.“ Wir nehmen die Welt wie durch einen schmalen Schlitz wahr.

Der Gotteswahn

In VR-Experimenten schlüpfen Menschen in andere Körper oder sogar in den Kopf einer Kuh. Was soll das bringen?

Was die Kuh betrifft: Ich habe keine Ahnung. Ich kann mir höchstens vorstellen, dass man damit das Bewusstsein für die Kuhbedürfnisse stärken möchte. Aber ich bin über eine Studie über häusliche Gewalt gestolpert. Dort wurden Versuchspersonen mithilfe von VR für die Perspektive von Gewaltopfern sensibilisiert – und das sehr erfolgreich. Man kann mit VR einen Perspektivwechsel einleiten, was sich eventuell gut in der Rehabilitation von Straftätern einsetzen ließe.

Sie konnten in Experimenten unter der Leitung von Prof. Thomas Gruber an der Universität Osnabrück nachweisen, dass das Abrufen virtueller Erlebnisse aus dem Gedächtnis nicht vom Abrufen realer Erlebnisse zu unterscheiden ist. Können Sie das einmal erklären?

Wenn Sie sich in einer virtuellen Realität bewegen, gucken Sie sich dort um und können vielleicht sogar mit Objekten interagieren. Hinterher haben Sie Gefühl, Sie waren tatsächlich an dem Ort, der simuliert wurde. Das hinterlässt eine bestimmte Art von Gedächtnisspuren. In unserem Experiment sind Leute als Beifahrer in einem Auto gefahren – real und in VR. Hinterher haben wir die Erinnerungen auswertet und konnten feststellen, dass die Leute sich mit denselben Mechanismen an die Fahrt erinnern. Sie haben das Gefühl, die Fahrt in VR erlebt zu haben – im Unterschied zu einer Fahrt am Monitor, die sie nur als „gesehen“ erinnern.

Sie führen auch Experimente durch, um zu erforschen, wie real sich Virtual Reality anfühlt. Können Sie ein Beispiel geben?

Wir haben in einem Experiment Leute in eine virtuelle Höhle geschickt. Zusätzlich haben wir Wände aus Pappmaché gebaut, damit es sich noch echter anfühlt. Die Probanden wussten nicht, dass am Ende der Höhle ein Werwolf wartet, der nach ihnen schlägt. Wir hatten Probanden, die sich verstecken wollten, die angefangen haben, zu weinen – damit hatten wir in der Intensität nicht gerechnet. (Das Experiment wurde in einem Video aufgezeichnet. Warnung: Die Aufnahmen können verstörend wirken.)

The History of the Future

In einer anderen Studie haben wir Probanden mit einer Drehleiter der Feuerwehr Osnabrück-Neustadt 33 Meter in die Höhe geschickt – einmal in real und einmal in VR. Es zeigte sich, dass die virtuelle und die reale Höhenexposition in großen Teilen mit den gleichen Mechanismen vom Gehirn verarbeitet werden. Der emotionale Stress und die Aufregung sind identisch. Und wenn das Gehirn virtuelle Realität wie physische Realität verarbeitet, dann würde ich sagen: VR ist real.

Was war Ihr persönlich eindrucksvollstes Erlebnis mit VR?

Als Star-Trek-Fan war mein schönstes Erlebnis, als ich an der Stelle von Picard auf der Brücke der Enterprise saß und mit Sprachbefehlen das Raumschiff steuern konnte. Das war ein Gänsehautmoment. Als Computerspielfan bin ich oft überrascht, wie echt sich Virtual Reality anfühlen kann. Es gibt ein Spiel, da steht man mit einer Taschenlampe und einer Pistole auf einer dunklen Wiese. Dann kommen Zombies auf einen zugerannt. Wieviel Angst ich vor diesen virtuellen Zombies hatte! Damit hatte ich nicht gerechnet – und ich konnte mich auch nicht dagegen wehren.

Heimkehr

Bei der ersten Filmaufführung 1896 kam es zu ähnlichen Szenen, als ein Zug auf der Leinwand auf die Zuschauer zuzufahren schien.

Das nehme ich in Vorlesungen auch gerne als Beispiel, aber das ist leider nur ein Mythos. In Virtual Reality ist das anders: Sie reagieren reflexhaft.

Matthias Horx orakelt auf seiner Website zukunftsinstitut.de: „Wir werden in wenigen Jahren Cyberleichen entdecken, die unter ihren Oculus-Brillen verhungert oder verdurstet sind.“ Wie schätzen Sie als Forscher das Suchtpotenzial von VR ein?

Das klingt wie die Warnung meiner Eltern, dass ich eckige Augen von zu viel Fernsehen bekommen werde. Bei jeder neuen Technologie wird erst einmal das schlimmste mögliche Szenario beschworen. Aber die Ego-Shooter haben auch keine Generation von Killern hervorgebracht. Klar, es gibt immer Leute, die anfällig für Süchte sind. Man kann sich in virtuellen Welten verlieren, wie sich Leute auch in „World of Warcraft“ verloren haben. Aber das hat weniger mit dem Medium zu tun, als mit sozialer und monetärer Belohnung. Die Frage ist also eher, wie das Programm geschrieben ist.

Warcraft

Jede Technologie kann ja auch missbraucht werden – welche Befürchtungen hegen Sie in Bezug auf VR?

Alles, was in der Realität funktioniert, funktioniert auch in VR. So, wie ich Empathie erhöhen kann, kann ich sie mithilfe von VR auch verringern. Wenn Marketing in Virtual Reality effektiv ist, ist auch Propaganda effektiv. Sie können in der virtuellen Realität die Wahrnehmung von jemandem hundertprozentig kontrollieren. Im Moment ist die Technik aber noch sehr teuer und kompliziert. Der IS wird wohl erstmal weiter auf Formen wie YouTube setzen.

Was bedeutet das für die Entwicklung von VR-Anwendungen?

Als Entwickler von VR-Anwendungen, seien es Videos oder Simulationen, hat man eine größere Verantwortung. Durch das Gefühl, vor Ort zu sein, wirkt das Erlebnis viel unmittelbarer als auf einem Bildschirm. Kollegen, die erwähntes Zombiespiel erst auf dem Bildschirm gesehen und dann in VR gespielt haben, erschraken so sehr, dass sie sich die Brille vom Kopf gerissen haben. Die emotionalen Reaktionen in VR, positiv wie negativ, sollte man nicht unterschätzen. So virtuell die Umgebung sein mag, die Emotionen sind real. Für unsere Forschung haben wir VR-Filme mit Leichen und Schwerverletzten entwickelt. Das sind Aufnahmen, die man nicht ohne weiteres jemanden in VR zumuten sollte, auch wenn er aus dem Tatort schlimmere Szenen gewohnt ist.

Experten meinen, VR stehe an der Schwelle zum großen Durchbruch: Während weltweit die Wirtschaft schwächelt, wächst die VR-Branche stärker als erwartet.

Sie können Ihr Smartphone nehmen, es in eine Halterung tun und dann auf Youtube VR-Videos gucken – das ist relativ einfach und vor allem günstig. Smartphones kann man schon für 20 Euro mittels eines Adapters in eine VR-Headset verwandeln und so VR-Filme abspielen oder einfache Anwendungen ausführen. Die Brillen werden leichter und mobiler werden. Aber wenn man sich überlegt, dass das Durchschnittseinkommen in Deutschland bei 2.100 Euro liegt, ist die Technik immer noch ein bisschen happig für die breite Masse. Sie brauchen ja nicht nur die Brille, sondern auch einen leistungsstarken Rechner – für das gesamte VR-Gaming-Equipment müssen Sie momentan noch mit 3.000 Euro rechnen. Interessant wird es in dem Moment, wo die Hardware zentralisiert wird, man also Spiele streamen kann. Im Bereich Bildung, Marketing und Industrie kann man natürlich auch VR-Stationen vor Ort einrichten.

Science-Fiction-Autoren wie Ernest Cline, Tad Williams oder Karl Olsberg haben sich Zukunftsszenarien ausgedacht, in denen die Menschen mehr Zeit in einer virtuellen Realität verbringen, als in der tatsächlichen. Utopie oder Dystopie?

Die Trennung zwischen virtuell und real ist so 1990. Wenn ich auf Facebook beleidigt werde, tut mir das doch ganz real weh. Warum sollten Menschen sich nicht in einer virtuellen Welt bewegen, in der man sich anders ausdrücken und seinen Charakter freier entfalten kann als in der Realität? So kann man mit Leuten aus aller Welt zusammenkommen und einen ganz anderen Hintergrund haben. Ich sehe da viele Chancen.

Die Stadt aus Licht

Es gab mal ein Spiel namens Second Life, da hat das nicht so gut geklappt.

Es gab typische Anfängerfehler. Nicht alle Leute, die man in einer virtuellen Welt trifft, sind nett – wie im realen Leben auch. Im Multiplayer VR Chat gab es Fälle von sexueller Belästigung. In VR kann man sich dagegen weniger wehren als in der Realität, weil man die Leute nicht wegschubsen kann. Mittlerweile kann man einstellen, dass sich niemand mehr auf mehr als 1,5 Meter nähern kann. Das ist ein Lernprozess.

Was glauben Sie: Werden wir die reale Realität durch VR neu zu schätzen lernen?

Ich finde es schön, dass es in der Realität keine Zombies gibt. Persönlich empfinde ich Virtual Reality als Auszeit. Ich kann für eine halbe Stunde ausbrechen und etwas total Verrücktes machen: auf dem Berg in Island oder auf dem Mars stehen, ein Raumschiff fliegen. Gerade in Zeiten von Corona ist das eine schöne Ablenkung. Aber eine neue Sicht auf die Realität habe ich damit eigentlich nicht gewonnen. Beides entsteht im Kopf.

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