So geht es uns mit vielen Charakteren, Namen, Orten oder Gegenständen aus Neil Gaiman’s Sandman-Universum: Sie kommen uns bekannt vor, mal mehr, manche weniger. Doppelter Boden; versteckte Anspielungen; Figuren aus Mythologie und Geschichte; Easter Eggs - Gaiman hat seine Graphic Novel vollgestopft mit Geschichten hinter den Geschichten. Lust, mal ein bisschen in die Tiefe zu gehen? Wir gucken mal genauer hin, was sich in diesem Hörspiel so alles tummelt:
Ein Fest für die Götter
Wer Neil Gaiman kennt, weiß von seiner Begeisterung für Mythologie. So ist es kein Wunder, dass auch die Hauptfigur von The Sandman ein Gott ist: Morpheus war bei den alten Griechen der Gott der Träume; sein Vater war Hypnos, Gott des Schlafes. Morpheus sendete mit seinen Träumen Botschaften und Warnungen an die Menschen, und sein Name stand Pate für eins der ersten Schmerz- und Rauschmittel überhaupt: Morphin. Gaimans Morpheus ist nicht nur Herrscher über die Träume, er verkörpert sie. Sein Königreich existiert, parallel zur normalen Welt, als Reich der fantastischsten Geschichten.
Morpheus ist längst nicht die einzige Gottheit, der wir in der Graphic Novel begegnen. Immer wieder tauchen - in unterschiedlicher Gestalt und mit unterschiedlichen Namen - drei Schicksalsgöttinnen auf. Ob man sie nun als die drei Nornen aus der nordischen Sagenwelt, als die Moiren aus der griechischen oder als die drei Hexen sehen will, die schon in Shakespeares Macbeth schicksalhafte Prophezeiungen verkündeten: Sie ziehen in den Sandman-Geschichten an den entscheidenden Fäden. Von beschützenden Erdmüttern bis zu rachedurstigen Furien, mal jung, mal alt, arbeiten sie sich sogar zu den Hauptdarstellern einer eigenen Geschichte in einer späteren Ausgabe am Ende der Reihe vor.
Seit Neil Gaiman 2018 Nordische Mythen und Sagen veröffentlichte, kennen wir sein ganz besonderes Faible für nordische Mythologie. Ganz unverhohlen “klaut” Gaiman auch für The Sandman seine Lieblingsfiguren aus Asgard und aus dem Olymp und benutzt sie für (alp)traumhafte Crossover: Im Verlauf der Reihe werden wir dem nordischen Göttervater Odin begegnen und dessen (etwas dümmlichen) Sohn Thor mit seinem berühmten Hammer. Sie werden in der Hölle um den Platz des Herrschers feilen, und in einer anderen Geschichte den tricksenden Halbgott Loki für seine Verfehlungen einer grausamen Strafe zuführen: An einen Felsen gefesselt - wie eigentlich der griechische Feuerdieb Prometheus - muss Loki sowohl in seine Augen tropfendes Gift ertragen als auch einen Adler, der ihm immer wieder die Organe aus dem Leib pickt. Autsch.
Als Horror-Fantasy angedacht, boten Gaiman die alten Göttersagen wunderbar fruchtbaren Boden, und er spielt damit, als wäre es ein Sandkasten.
Biblische Besucher
Die Bibel - vor allem das alte Testament - steht in Sachen Grausamkeit der Mythologie in nichts nach. Gleich in der zweiten Sandman-Geschichte begegnen wir den Brüdern Kain und Abel. In der Bibel erschlägt Kain seinen jüngeren Bruder, und Gaiman treibt das Spielchen noch weiter: Abel stirbt, wird aber immer wieder lebendig, und der Bruderzwist und folgende Mord wiederholt sich ins Unendliche, als ewiger Kreislauf. Das Prinzip der Rache wird ad absurdum geführt. Da hilft es auch nicht, dass Gaiman dem gebeutelten Abel eine der herzigsten Figuren der Reihe an die Seite stellt: Gregory, den aus einem Ei geschlüpften Gargoyle.
Gaststars aus dem DC-Universum
Natürlich war es ein Marketing-Trick, um treue DC-Leser für The Sandman zu begeistern, aber Gaiman hatte auch selbst sichtlich Spaß daran, bereits erfolgreiche Comic-Figuren aus dem DC-Universum als “Gaststars” in die Welt von Dream einzuladen. Kain und Abel gehören übrigens auch dazu! In derselben Geschichte lernen wir im “Arkham Asylum” (Batman, irgendjemand?) den mangels Schlaf durchgedrehten “John Dee” kennen, der sich als DCs Super-Bösewicht Doctor Destiny entpuppt und verantwortlich sein wird für das Massaker in Geschichte Nr. 6, “24 Stunden” - die unbestritten verstörendste in der gesamten Reihe.
Vor allem in der ersten Sandman-Kollektion Präludien & Notturni tummeln sich DC-Charaktere. In “Gastgeber mit kleinen Fehlern” treffen wir auf John Constantine, den Magier aus Swamp Thing, der mehr über den Verbleib von Morpheus gestohlenem Säckchen mit magischem Sand weiß. Kurz streift der Original-Sandman von 1939 mit Gasmaske und Fedora-Hut durch einen Traum. Figuren aus den Justice League Comics oder aus New Earth greifen ins Geschehen ein, etwa der Martian Manhunter oder Fiddler’s Green, der in Gestalt des netten, bebrillten Gilbert eine Frau auf einem Serienmörder-Kongress vor Unheil bewahrt.
Ganz prominent: Luzifer. Der ist nämlich nicht nur der Teufel persönlich und somit eine der bekanntesten Figuren aus Mythologie und Religion, sondern Hauptfigur einer eigenen DC-Comic-Serie und inzwischen auch Leinwandheld Lucifer. In The Sandman begegnen wir dem gefallenen Engel zum ersten Mal in Ausgabe Nr. 4, “Hoffnung in der Hölle”, wo sich Morpheus mit einem Dämon duelliert, um seinen Helm zurück zu gewinnen. Es ist nicht das letzte Aufeinandertreffen. In einer weiteren denkwürdigen Story wird Luzifer seine Herrschaft über die Hölle aufgeben und deren Insassen zurück auf die Erde schicken. Ein moralisches Dilemma und ein Feilschen um den neuen Machthaber sind die Folge, die Morpheus widerwillig an der Backe hat.
Für Comic-Nerds ist das alles natürlich ein Fest. Lauter alte Bekannte! Aber keine Sorge: Für Comic-Neulinge sind die vielen Gastauftritte auch kein Hindernis. Auch ohne das entsprechende “Fachwissen” erfüllen die Figuren ihre eigene Funktion im Sandman. Zu wissen, wo sie herkommen, macht einfach nur mehr Spaß.
Historische Zeitgenossen und Schriftsteller-Kollegen
Nicht nur fiktionale, bereits bekannte Figuren sind Teil von The Sandman, sondern auch solche, die ganz real existierten. Am prominentesten ist sicherlich William Shakespeare. Wir treffen ihn mehrfach: Zum ersten Mal, als er sich als Nebenfigur mit seinem Kollegen und Konkurrenten Christopher "Kit" Marlowe in einer Taverne trifft und Zitate aus Henry VI und King Lear fallen. Schon vorher wird aus seinen Werken zitiert: Story Nr. 8, “Schall und Wahn”, ist betitelt nach und enthält berühmte Zeilen aus dem dramatischen Schlussmonolog von Macbeth, und natürlich sind auch die drei Hexen aus Geschichte Nr. 2 demselben Theaterstück entlehnt.
Die größte Hommage Gaimans an den britischen Barden ist Ein Sommernachtstraum, das als einziger Comic überhaupt 1991 den World Fantasy Award als "Beste Kurzgeschichte" gewann und eine Kontroverse auslöste, ob Comics, beziehungsweise Graphic Novels überhaupt als Literatur zählen. Neil Gaiman präsentiert uns darin ein Stück im Stück im Stück: eine reisende Schauspieltruppe, zu der Shakespeare und sein Sohn Hamnet höchstpersönlich gehören, führt auf Morpheus’ Geheiß hin auf freiem Feld Ein Sommernachtstraum auf - und zwar vor Zuschauern aus Dreams Königreich der Träume. Dazu gehören neben allerhand Dämonen, Goblins und sonstigen fantastischen Wesen auch Figuren, die wiederum im aufgeführten Stück vorkommen. Als der echte Puck den falschen auf der Bühne ersetzt, ist das gewollte Chaos komplett. Gaiman durchbricht die berühmte “vierte Wand”, lässt Fiktion und Wirklichkeit gleich mehrfach verschwimmen und beklagt nebenher den schwindenden Glauben der Menschen an das Reich der Magie und der Geschichten.
Weitere historische Figuren machen - mal prominent, mal als Randnotiz - ihre Aufwartung: Julius Caesar, Jack The Ripper, der Okkultist Aleister Crowley. Schriftsteller werden erwähnt oder auf sie angespielt: Clive Barker, Stephen King, Jean Cocteau. In “Das Puppenhaus” entpuppt sich der nette Nachbar als Verkörperung der DC-Comicfigur "Fiddlers Green" und die wiederum als Autor G.K. Chesterton - den gab es tatsächlich, und er liebte das Paradoxe. Passt ja wunderbar zu diesem Comic!
Die wahre(n) Geschichte(n) im Hintergrund
Historischen Hintergrund und Ereignisse webte Gaiman ebenfalls in seine Geschichten ein. The Sandman beginnt im Jahr 1916, zur Zeit des ersten Weltkriegs, und einer der betroffenen Träumer ist Soldat in der Schlacht um Verdun. Die Krankheit, die mehrere Charaktere ereilt und für Jahrzehnte in Tiefschlaf versetzt, hängt im Comic mit der Gefangennahme von Dream zusammen - sie passierte jedoch auch in der Realität: Eine bis heute rätselhafte Epidemie in Form einer Hirnentzündung (Encephalitis Lethargica) forderte zwischen 1915 und 1926 zahlreiche Opfer.
Das schwarzmagische Ritual, mit dessen Hilfe Morpheus gefangen genommen wird, ist auch nicht aus der Luft gegriffen: Okkultismus war um die 20er Jahre herum “en vogue”, Aleister Crowley einer seiner berühmtesten Vertreter, und das Zauberbuch, mit dem Mr. Burgess und seine Komplizen in der Auftaktgeschichte herum experimentieren, erinnert zum einen an die Grimoires des Mittelalters mit ihren Formeln, Rezepten und Anleitungen für Beschwörungen, zum anderen an das (fiktionale) Necronomicon, von dem Horror-Autor H.P Lovecraft ebenfalls um diese Zeit herum erzählte: Ein Buch, das den Lesenden durch bloße Lektüre in den Wahnsinn treibt.
Die historischen Anbindungen sind manchmal sehr subtil. In “Puppenhaus” etwa erhaschen wir im Vorbeigehen den Blick auf ein paar Körperbehinderte, deren Gliedmaßen eindeutig auf den Contergan-Skandal in den 60er Jahren anspielt, und in einer anderen Geschichte huscht eine Prostituierte durchs Bild, bei der es sich um ein künftiges Opfer von Jack the Ripper handelt.
So behält Sandman bei aller Fantastik immer einen Fuß in der Wirklichkeit - was das Ganze umso beunruhigender macht. Das genau ist ja Gaimans Spezialität: Uns Welten aufzuzeigen, die parallel zu unserer eigenen existieren, und die Grenzen werden - so wie eben in unseren Träumen - erschreckend durchlässig.
Diversität und Egalität
Gaimans Kosmos hat einen unfassbar weiten Horizont. Er bewegt sich durch die verschiedensten Kulturen - europäisch, amerikanisch, afrikanisch - und durch zahlreiche Religionen. Neben antikem Götterglaube finden auch afrikanische Folklore, westliche und östliche Kirche ihren Platz. In “Der Klang ihrer Flügel” betet ein Sterbender das jüdische Glaubensbekenntnis, als Death ihn abholt. Gaiman kommentiert das alles nicht bewertend, er lässt es nur Teil seiner Welt sein.
Und diese Welt beinhaltet auch queere Figuren. Das geht los bei Desire, einem/einer der “Endlosen”, in Aussehen und Verhalten bewusst keinem Geschlecht eindeutig zuzuordnen. Eine nicht-binäre Figur! Gaiman ging progressive Wege, als viele Literaturgenres diese noch aussparten. Unzählige weitere Charaktere - Engel, Dämonen etc. - sind geschlechtslos oder undefiniert. Später werden wir ein einer Geschichte einem lesbischen Paar begegnen und einer trans Frau. Diese Repräsentation gehörte für Gaiman, der nach eigener Aussage in The Sandman über alles schrieb, was ihn interessierte und ihm wichtig war, einfach dazu.
Dazu gehörte auch Gleichberechtigung. Weibliche und männliche Figuren halten sich in den Comics die Waage, und das betrifft Helden genauso wie Bösewichte. Ein positiver Nebeneffekt dieser Egalität: Normalerweise vornehmlich von Männern frequentierte Comic-Shops wurden durch The Sandman zunehmend auch von Frauen aufgesucht; die Graphic Novels wurden von Leserinnen gekauft und empfohlen; das Genre eroberte endlich auch das weibliche Geschlecht - und eben die LGBTQIA+ Community. Sicherlich auch ein Schlüssel zum großen Erfolg der Reihe.
Symbolik und Accessoires
Im Hörspiel nur bedingt “sichtbar”, aber dennoch vorhanden: Symbolik. Es beginnt natürlich mit Morpheus’ Utensilien: das Sandsäckchen, der Helm, der Traumstein. Sie sind Werkzeuge der Macht, ohne die Dream seiner Kräfte beraubt ist. Das kennen wir doch schon aus der Bibel: Samson, dem Delila im Schlaf die Haare abschneidet und ihn dadurch schwächt; aus der Mythologie: Thor, der ohne seinen Hammer nicht viel wert ist. Von der Sagengestalt bis zum modernen Superhelden: Ohne seine “tools” wird auch dieser Unsterbliche verletzlich.
Das kleine Ledersäckchen enthält den Sand, der die Träumen erzeugt. Im Hörspiel gerät das Säckchen in falsche Hände, macht die neue Besitzerin süchtig und zerstört sie wie eine Droge. Ohne Träume jedoch, ohne Schlaf - so erfahren wir ebenfalls - droht auch der Wahnsinn. Das Säckchen birgt ein Machtinstrument, das einen verantwortungsvollen Besitzer braucht, denn die Grenze zwischen Nutzen und Schaden ist dünn. Parallelen dazu dürften jedem von uns zuhauf einfallen.
Der Helm ist im Comic eine gruselig aussehende Konstruktion, der wie eine Maske das gesamte Gesicht bedeckt: ein schädelartiges, bräunliches Ding mit einem Rüssel, aus dem Wirbel hervorstehen. Wie eine Kombination aus Alien, Gasmaske und Knochengerippe sieht das aus. Tatsächlich wissen erfahrene Sandman-Experten, dass Morpheus den Helm einst aus dem Schädel und dem Rückgrat eines unbekannten Gottes erschuf. Der Helm ist Dreams Markenzeichen - und natürlich eine versteckte Hommage an den ersten Sandman und seine Gasmaske. Wofür er steht? Diese Assoziationen darf jeder selber in sich suchen: Krieg, Macht, Unsterblichkeit, Schutz, Verkleidung… Gaiman überlässt die Interpretation den Lesern.
Der Traumstein von Dream ist ein Rubin. Er ist der mächtigste von zwölf Traumsteinen der “Ewigen” und ebenfalls ein Machtsymbol. In der Bibel das Sinnbild des königlichen Stammes Juda, steht der Rubin in der Esoterik für den Stein des Lebens und der Liebe; er verleiht seinem Träger Macht, Tapferkeit und Würde. Rubine sind rot - die Farbe der Liebe, aber auch des Blutes, stark und aggressiv. Kein Wunder, dass auch dieser Stein in der Graphic Novel als Waffe einsetzbar ist.
Neben diesen drei Utensilien des Traumkönigs finden sich viele weiter in Sandman, aber eines sollte noch besondere Erwähnung finden, denn es gehört zu einer der beliebtesten Figuren und ist ein gerne gekauftes Accessoires von Fans: das Anch-Amulett, welches Death um ihren Hals trägt. Geformt wie ein Kreuz mit einer aufgesetzten Schlaufe, war das Anch (oder Ankh) im alten Ägypten ein Symbol für das Weiterleben im Jenseits. Als Hieroglyphe (also als Schriftzeichen) stand es für das Leben im körperlichen Sinne. Heute ist das ägyptische Kreuz nicht nur ein Symbol der koptisch-orthodoxen Kirche, sondern auch beliebt in der Esoterik und wird besonders in der Goth community gerne als Schmuck getragen.
Comic mit Mehrwert
Nach diesem kleinen Blick in die tieferen Ebenen und “Seitensprünge” von The Sandman dürfte einmal mehr deutlich werden, dass Neil Gaiman das Comic-Genre auf eine andere Ebene gehoben hat. Von Oberflächlichkeit oder Banalität ist diese Saga ebenso weit entfernt wie von Superhelden-Geschichten nach üblichem Strickmuster. Es ist komplex, es ist bedeutungsvoll und für alle, die genauer hingucken wollen, vollgestopft mit “Bonusmaterial”. The Sandman ist eine Schatzkammer zum Entdecken!