... Genau das beschleicht einen regelmäßig, wenn man ein Hörbuch von Stephen King hört. Das liegt allerdings weniger daran, dass er meisterhafte Horrorgeschichten schreibt, sondern an etwas ganz anderem: am feinen Spinnennetz, dass King zwischen seinen Werken webt.
Stephen King Universum
Über fünfzig Romane, mehr als einhundert Kurzgeschichten sowie etliche Novellen und Drehbücher umfasst Kings Gesamtwerk inzwischen. Er hat ein fiktionales Universum erschaffen, das über Buchserien, Genregrenzen und Formate hinweg miteinander verknüpft ist. Figuren eines Romans tauchen in einem anderen wieder auf. Orte kommen mehrfach vor. Themen werden neu aufgegriffen. Handlungsfäden werden fortgeführt.
Nehmen wir zum Beispiel Kings Roman Das Institut. Kids mit außergewöhnlichen Fähigkeiten werden entführt und im Auftrag einer geheimen Regierungsorganisation für paranormale Experimente missbraucht. Eine packende, verstörende Story, in die der Autor aktuelle Themen, Gesellschaftkritik und einen Kommentar zur US-Regierung verpackt. Das ist neu; die Zutaten sind es eher nicht. Vieles kommt uns bekannt vor.
Das Böse haust in Maine
Das geheime Institut zum Beispiel hat seinen Sitz irgendwo in der Einsamkeit von Maine. Der kleine Bundesstaat im Nordosten der USA ist Kings eigene Heimat und Wohnsitz. Was er beschreibt, ist ihm persönlich trautes Terrain, in das er das Böse Einzug halten lässt. Zwei fiktionale Kleinstädte insbesondere scheinen die Wurzel allen Übels zu sein: Derry und Castle Rock. Dort spielen die meisten und bekanntesten Romane des Horror-Spezialisten.
In Derry trieb Clown Pennywise aus Es sein Unwesen und fielen in Duddits Aliens ein. In Castle Rock wütete der tollwütige Hund Cujo, eröffnete Leland Gaunt seinen berüchtigten Laden Needful Things, schrieb Thaddeus Beaumont alias Stark blutrünstige Thriller, erwachte Johnny Smith nach fünf Jahren aus dem Koma um Den Anschlag zu verhindern und erhob sich Scott Carey in Erhebung wortwörtlich über alle Dinge. Nebenbei Erwähnung findet Castle Rock auch in Revival, Die Arena und Carrie. Und selbst, wenn es mal nicht diese beiden Brutstätten des Bösen sind, spielt das Geschehen - wie in Das Institut an anderen Orten im Staate Maine, oder die Wege führen letztlich dorthin.
Grund dafür mag - neben der vertrauten Topographie - die Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten sein. King hat oft zugegeben, dass seine Geschichten den eigenen Alpträumen und schlimmsten Vorstellungen entspringen, was ihm und seinen Liebsten zustoßen könnte. Indem er sie aufschreibt, setzt er sich damit auseinander. Logisch also, dass die fürchterlichsten Dinge in seinen Büchern meist an seinem Heimatort geschehen.
Kleine Verlierer - große Helden
Es ist auch nicht das erste Mal, dass wir eine Truppe junger Misfits beim Aufstand gegen das Böse (und gegen die Erwachsenen) anfeuern. In Das Institut sind es der hochbegabte Luke, die toughe Kalisha, Nick, George, Iris und der kleine Avery; damals, 1986 in Derry, war es ein ähnlicher Club der Verlierer, der es in Es mit Pennywise aufnahm; und schon 1982 streifte in Die Leiche aus Frühling, Sommer, Herbst und Tod ein scheuer Nerd mit seinen unbeliebten Kumpels durch die Wälder von Maine. Überhaupt: Freundschaft. Auch so ein Thema, das sich quer durch Kings Werke zieht, und das er so wunderbar beschreibt.
Es geht nicht mit rechten Dingen zu
Genauso wie das Übernatürliche. Luke und seine Mitgefangenen besitzen in "Das Institut" telekinetische oder telepathische Kräfte. Die Fähigkeit, Gegenstände mit der Kraft des Geistes bewegen zu können, kehrte schon die fundamentalistisch religiös erzogene “Carrie” 1974 mit blutigem Resultat gegen diejenigen, die sie mobbten. In “Feuerkind” konnte die kleine Charlie allein mit ihrem Willen Dinge in Brand setzen. Und die Möglichkeit, Gedanken zu lesen, über sie zu kommunizieren, hellsehen zu können oder gar Besitz vom Denken anderer zu ergreifen, hat King in unzähligen Varianten durchgespielt. Hier reicht die Palette von Dannys Begabung in Shining und Doctor Sleep bis zum Psychopathen Brady Hartsfield, der sich in der Mr Mercedes-Reihe per hypnotisierendem Tablet in den Köpfen anderer einnistet.
Figuren spazieren von einem Buch ins andere
Immer wieder passiert es in King-Hörbüchern, dass man einer Figur begegnet oder einen Namen hört und denkt: “Moment mal - den kenne ich doch…!” Das passiert allerdings nicht nur in Reihen wie zuletzt Mr Mercedes, in der Brady Hartsfield einfach nicht totzukriegen ist oder in Sequels (in Doctor Sleep treffen wir den erwachsen gewordenen Danny aus Shining wieder), und da ist das ja auch zu erwarten. Nein, King geht hin und lässt seine Charaktere - teils unter demselben, teils unter einem anderen Namen - in überhaupt nicht zusammenhängenden Büchern wieder auftauchen oder erwähnt sie am Rande. Das Resultat: Wir haben das Gefühl, durch einen eigenen King’schen Kosmos zu reisen, von dem man Landkarten und Familienstammbäume zeichnen könnte.
Beispiele gefällig? Ben Hanscom, eins der mutigen Kinder in Es, tritt im Endzeit-Roman The Stand - Das letzte Gefecht als alter Mann wieder auf. Dick Halloran, der Koch in Shining, rettet in einem Flashback in Es dem zukünftigen Vater von Mike Hanlon, wichtiges Mitglied im Club der Verlierer, das Leben - und trägt somit zum Sieg über Pennywise bei. Cujo, der tollwütige Hund aus der gleichnamigen Horrorgeschichte, wird vom alten Judd Nelson in Friedhof der Kuscheltiere erwähnt.
Unsere Infografik gibt einen Überblick über alle Monster des Stephen-King-Universums:
Pennywise lebt
Die gruseligsten Spur zieht wohl Pennywise, verantwortlich für eine ganze Generation von Clown-Phobikern, durch Kings Werke: In Duddits hat jemand “Pennywise lives” auf ein Rohr gesprüht, in 11/22/63 berichtet ein Kind von einem Verbrechen, das “nicht der Clown” begangen hat, und in Mr Mercedes rast ein Killer mit Clownmaske in eine Gruppe Arbeitssuchender. Wenig später fragt jemand Detektiv Bill Hodges, ob er schon mal “diesen Film mit dem Clown im Gully” gesehen hat. Mehr Meta geht es kaum: Stephen King baut ein Figur aus der Verfilmung eines eigenen Romans in einen anderen seiner Romane ein! Sowas kann sich nur jemand leisten, dessen Werk voluminös und gewichtig genug ist, um die Ladefläche eines SUV zu füllen.
Die Machenschaften der Regierung
Oft ist das Unheil in Stephen Kings Universum das Ergebnis fehlgelaufener Experimente oder der Machenschaften einer dahinter versteckten, übergeordneten Instanz. Und die entpuppt sich häufig als geheime Regierungsorganisation - Stephen Kings gerne benutztes Werkzeug zur Kritik am politischen Zeitgeist der USA und insbesondere an den konservativen Republikanern, denen seiner Darstellung nach jedes Mittel recht ist, um ihre Ziele zu erreichen, egal welche Kollateralschäden dabei in Kauf genommen werden müssen. In der verfilmten Novelle Der Nebel ist es jene Regierungseinheit, die den außer Kontrolle geratenden Nebel loslässt, in dem Alpträume spuken; in Feuerkind werden Experimente an Kindern durchgeführt ebenso wie in Das Institut, wo deren übernatürliche Begabungen für strategische Zwecke missbraucht werden - auch, wenn es sie das Leben kostet. Für seine unverhohlene Regierungskritik wird King von den einen Lesern abgestraft und von den anderen geliebt. Er lässt sich davon nicht beirren.
Der Mann in Schwarz
Wichtigste Hauptfigur, die zur Wiederkehr neigt, ist der Mann in Schwarz in Kings epischer Fantasy-Saga Der dunkle Turm. In acht Bänden hat der Autor ein fantastisches, post-apokalyptisches Universum errichtet, durch dessen surreale Landschaften außer dem Revolverhelden Roland auch noch eben jene, bereits im allerersten Satz vorgestellte, schwarz gekleidete Gestalt wandert, die sich als Rolands Nemesis erweist. Der schwarze Mann ist ein dämonischer Zauberer und Botschafter des Scharlachroten Königs. Er wird als Walter Padick im ersten Band, Schwarz, vorgestellt, trägt aber viele Namen und Gesichter: Randall Flagg, Walter O'Dim, Rudin Filaro, Raymond Fiegler, Richard Fannin, Walter Hodji, Walter Farden, Marten Broadcloak und noch weitere.
Obwohl er vor allem im Dunklen Turm sein Unwesen treibt, indem er Streit sät und den Niedergang der gesellschaftlichen Ordnung anstrebt, ist das nicht sein erster Auftritt in Stephen King Universum: als dämonischer Randall Flagg in
The Stand - Das letzte Gefecht sät er Zwietracht zwischen den überlebenden Fraktionen einer weltweiten Epidemie. Unter demselben Namen versucht er in Drachenauge als böser Zauberer eine mittelalterliche Stadt ins Chaos zu stürzen. Dass es sich dabei um dieselbe Figur handelt, ist klar. Seine Motive sind gleich: Einer bösen Macht gehorchend, ist es das Bestreben des Schwarzen Mannes, den Weltuntergang anzuzetteln. Er ist der ultimative Bösewicht. Der Teufel. Das Schwarz, das gegen Weiß antritt.
Stephen King in Stephen King Universum
Es gibt noch unzählige weitere Verknüpfungen zwischen Kings Büchern. Seine beiden Universen - das im realistischen Maine und das im Fantasieland des Dunklen Turms - berühren, überschneiden und ergänzen sich. Seine Figuren werden durch ihr Herausschlüpfen aus einem Roman und Auftauchen in einem anderen noch realer und lebendiger, als er sie sowieso schon zeichnet. Es lassen sich Zeitstrahle für einzelne von ihnen anfertigen und Landkarten mit Verbindungsstraßen für die Handlungsorte. All das macht Stephen Kings Multiversum immer plastischer.
Und vermischt sich dann auch noch mit der Wirklichkeit: Stephen King kommt selbst darin vor. Im Dunklen Turm treffen wir auf einen Schriftsteller, der gerade die Reihe Der Dunkle Turm verfasst. Und in dem Autor, der in Sie nach einem schweren Unfall ans Bett gefesselt ist, lässt sich unschwer King selbst erkennen (der ebenfalls schon einen beinahe tödlichen Autounfall überlebte.) Wer will, kann sich auch eine Lupe nehmen und diese sehr bekannte Grafik eines Superfans entziffern oder sich in einem der unzähligen Fan-Foren tummeln und jedes Detail ausdiskutieren.
Oder man setzt sich einfach das nächste Hörbuch von King auf die Ohren und schmunzelt wissend, wenn eine nichtsahnende Figur die Stadtgrenze von Castle Rock überquert, ein Clownkostüm unschuldig in einem Schaufenster von Derry hängt oder ein Mann in schwarzer Kleidung vorbeiläuft. Wir wissen schließlich, dass das nichts Gutes verheißt - und eine tolle Geschichte!