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Schöner Schaudern: Die „Gothic Novel“

Schöner Schaudern: Die „Gothic Novel“

Wenn die Tage kürzer und die Nächte länger werden, wenn wir es uns in der dunklen Zeit von Halloween bis zur Wintersonnenwende bei grässlichem Wetter drinnen auf der Couch gemütlich machen, gibt es kaum etwas Schöneres als eine heiße Tasse Tee und eine Gruselgeschichte auf den Ohren. Und zwar die Sorte, die statt blankem Horror wohlige Gänsehaut hervorruft: die “Gothic Novel” eben, zu Deutsch “Schauerroman”.

Aber was hat es mit diesem Genre eigentlich auf sich? Und warum ist das gar nicht so altmodisch, wie es sich anhört, sondern - ganz im Gegenteil - wieder hoch aktuell?

Die Geburt der “Gothic Novel”

Fangen wir mal von vorne an: Als allererste Gothic Novel überhaupt gilt Das Schloss von Otranto von Horace Walpole, geschrieben 1764 in England. Darin wird ein Burgherr durch eine düstere Prophezeiung von Ängsten um sein Erbe geplagt. Als der einzige Sohn von einem eisernen Riesenhelm erschlagen wird, stellt der cholerische Vater anstatt des Sohnes selbst der entsetzten Isabella nach, um einen neuen Erben zu produzieren. Rüstungen wandeln durch das Schloss, Statuen bluten, und die Ereignisse überschlagen sich.

Das Schloss von Otranto litt zwar unter unfreiwilliger Komik (ein Riesenhelm? Ehrlich?!), wies aber schon viele typische Elemente der neuen Literaturgattung auf - und trug als Untertitel die Zeile “A Gothic Story”: Der Genrename war geboren! Als weitere Hauptwerke gelten The Mysteries of Udolpho von Anne Radcliffe, 1794 geschrieben, in dem die gutherzige Emily von einem brutalen Bösewicht in einer finsteren Burg gefangen gehalten wird, und Der Mönch von Matthew Gregory Lewis, 1796, das die Leserschaft mit sadistischen Orgien und sexuellen Fantasien in den Bann zog. Sensationslust und Nervenkitzel waren die Zutaten zum Erfolg und machten die Gothic Novel Anfang des 19. Jahrhunderts zur dominanten Literaturform.

The Castle of Otranto (AmazonClassics Edition)
The Mysteries of Udolpho

Die wichtigsten Zutaten

Verschiedene Spielarten des neuen Genres entwickelten sich, aber allen waren (und sind bis heute) wichtige Zutaten zu eigen, die einfach nicht fehlen dürfen:

  1. Das Setting: Ein altes Haus, eine Burg oder ein Schloss, etwas ramponiert oder im Verfall begriffen, oft über Generationen in Familienbesitz. Dieses Anwesen steht an einem entlegenen Ort, manchmal in einem fernen Land, und die Hauptfigur sitzt darin mehr oder weniger fest - durch ein Unwetter, einen dichten Wald drumherum, eine fehlende Transportmöglichkeit oder ähnliche Widrigkeiten.

  2. Die Grundstimmung: Alles ist düster, mysteriös und unheilvoll. Es stürmt oder regnet viel. Rostige Scharniere quietschen, Blitze zucken und Donner poltert, Kerzen flackern. In der romantischen Variante kommen große Gefühle dazu: Leidenschaft, Dramatik, Begierde, Kummer, Rache. Der Leser fühlt einen beständigen Thrill. Irgendetwas Schlimmes kann jeden Moment passieren.

  3. Das Übernatürliche: Hier finden sich keine richtigen Monster. Das Übernatürliche bekommt man selten wirklich zu Gesicht; es bleibt nur angedeutet, und das genau macht den Reiz aus: Prophezeiungen und böse Omen hängen über dem Plot, Visionen und Alpträume sind unheilvolle Vorboten. Unerklärliche Geräusche oder Stimmen verursachen Angst. Dinge werden wie von Geisterhand verrückt. In verlassenen Zimmern brennt Licht. Aus dem Augenwinkel huscht auch mal ein Geist vorbei. Mal finden die Ereignisse eine Erklärung, mal bleiben sie ungelöst, aber immer vage und regen mit ihrer Unbestimmtheit das schaurige Kopfkino umso mehr an.

  4. Die Frauen: Sie stecken in Schwierigkeiten. Sie sind auf der Suche nach dem richtigen Weg - und/oder nach dem richtigen Mann. Oft stehen gesellschaftliche Unterschiede oder andere Hindernisse dem Happy End im Weg. Wie auch immer geartet, sind die Damen in irgendwelchen Nöten: die klassische “damsel in distress”.

  5. Die Männer: Sie blicken finster drein, haben dunkles, wallendes Haar und sind auf düstere Art und Weise attraktiv. Sie sind gequälte Seelen mit dunkler Vergangenheit, schmerzvollen Geheimnissen oder einer üblen Familiengeschichte. Wilde Leidenschaft, Cholerik, Gewalt und Rachedurst spielen häufig eine Rolle. Aber es gibt auch Fälle mit Happy End, wo die Dame das eisige Herz des Gequälten erweichen kann.

Die Gier nach dem prickelnden Grusel

Woher kam diese neue Lust am Grusel? Dazu muss man ein bisschen auf den Zeitgeist schauen, der England Mitte des 18. Jahrhunderts prägte. Die Begeisterung für Übernatürliches und emotionale Dramatik waren eine Gegenbewegung zur gerade ausklingenden Zeit der Aufklärung. Rationalität, Vernunft und Wissenschaft hatten lange das Denken beherrscht. Der kühlen Logik überdrüssig, wandten sich die Leser dem Unerklärlichen zu, der ungezähmten Leidenschaft, der Imagination. Das Zeitalter der Aufklärung machte der Romantik Platz, und die Gothic Novel wurde so etwas wie deren finstere kleine Schwester.

Statt Rationalität wurde nun auf Gefühle gesetzt. Statt Vernunft strebte man nach dem Wilden und Ungezügelten. Die nüchterne Erklärbarkeit der Welt machte das Unbekannte und Geheimnisvolle wieder attraktiv. Die Ästhetik erweiterte ihren Blick vom Schönen auf das Erhabene, Furchteinflößende und Düstere. Die gotische Architektur mit ihrer dunklen, bizarren, teils verstörenden Optik stand hier Pate.

Das wohlige Schaudern und die dunkle Leidenschaft schwappten auch nach Deutschland über. Berühmte Vertreter des deutschen Schauerromans waren E.T.A. Hoffmann mit seinen Die Elixiere des Teufels und Der Sandmann; aber auch Grimms Märchen mit ihren gruseligen Gestalten und grausigen Handlungen kann man dazu zählen.

Die Elixiere des Teufels
Die Elixiere des Teufels / Der Sandmann

Vom Grusel zu Thriller und Horror

Für einige Vertreter der Gothic Novel blieb es nicht beim angedeuteten, wohligen Grusel. Der Angstfaktor wurde angekurbelt, die Spannung hochgedreht, die Gespenster nahmen Gestalt an. Zum Subgenre des “Gothic Thriller/Gothic Mystery” gehören die düsteren und kriminalistischen Kurzgeschichten von Edgar Allan Poe, und zum wahren Gothic Horror mit außerirdischen Tentakelmonstern und in den Wahnsinn getriebenen Figuren wuchs sich das Ganze unter H.P. Lovecraft aus.

Echte Monster erschufen auch Mary Shelley in “Frankenstein”, wo ein aus Leichenteilen zusammengesetztes Wesen auf der Suche nach seiner Seele zum tragischen Helden wird, und Robert Louis Stevenson mit dem persönlichkeitsgespaltenen Dr. Jekyll und Mr. Hyde.

Edgar Allan Poe, Sammelband 1
Der Cthulhu Mythos
Frankenstein
Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Romantik in Schwarz

Stoßseufzer gehen bis heute durch die Reihen, wenn von Klassikern wie Jane Eyre von Charlotte Brontë oder Sturmhöhe von ihrer Schwester Emily die Rede ist. Und dabei sind das gar keine echten Liebesromane - sondern Schauerromane. Oder vielmehr “Gothic Romances”, denn im Zentrum dieser fesselnden Geschichten stehen dramatische Liebschaften.

In Jane Eyre kämpft sich eine Waise erst durch Hunger, Kälte und eine erbarmungslose Internatserziehung. Und dann erkämpft sie sich auf dem einsamen Thornfield Hall das verbitterte Herz von Gutsbesitzer Edward Rochester. Derweil gehen auf dem Landsitz unheimliche Dinge vor: Ein irres Lachen ertönt aus dem oberen, angeblich unbewohnten Stockwerk; jemand wandert nachts umher und versucht Feuer zu legen. Und natürlich weht draußen die meiste Zeit ein kalter Wind, während der Regen auf Thornfield Hall niederprasselt.

Noch finsterer und erstaunlich verrucht geht es in Sturmhöhe zu. Auf dem gleichnamigen Anwesen haust der von Rachegefühlen zerfressene Heathcliff, von seiner leidenschaftlich geliebten Stiefschwester Catherine verschmäht und zutiefst verletzt und nach deren tragischem Tod umso rachsüchtiger. Einen nach dem anderen, macht er sich an die Zerstörung aller, die sich zwischen ihn und Catherine gestellt haben, während der Geist seiner Geliebten Wuthering Heights heimsucht. Sexuell aufgeladen und von ungeheurer düsterer Wucht, war “Sturmhöhe” ein skandalumwitterter Bestseller unter den Gothic Romances.

Jane Eyre, die Waise von Lowood
Sturmhöhe

Das Ende der "Gothic Novel" - und die Wiederauferstehung

Als Schlusspunkt der Blütezeit des englischen Schauerromans galt Melmoth der Wanderer von 1820, geschrieben vom irischen Schriftsteller Charles Robert Maturin. Er handelt von ebenjener Figur im Titel, einem Mann namens Melmoth, der 150 Jahre auf der Suche nach Wissen durch die Welt irrt und mit dem Teufel einen faustischen Pakt um seine Seele eingegangen ist.

Offiziell war es das dann mit dem speziellen englischen Leidenschafts-Grusel. Aber inoffiziell, so stellt sich heraus, war das prickelnde Schaudern nie weg vom Fenster. Wenn man heute in die Bücherregale schaut, sind sie voll von Thrillern, Mystery-Romanen, Horror und dunklen Romanzen, in denen sämtliche Merkmale des Schauerromans weiterleben. Noch immer spukt es in alten Häusern, in die neue Besitzer einziehen oder in denen junge Damen als Hausangestellte anheuern. Zuhauf verlieben sich Frauen in komplizierten Lebenssituationen in attraktive Kerle mit fragwürdigem Hintergrund, die erschreckende Geheimnisse mit sich rumtragen. Ermittler jeglicher Couleur müssen sich mit mysteriösen Fällen auseinandersetzen, bei denen es nicht mit rechten Dingen zugeht.

Nicht mehr neu, aber schon mit Kult-Status versehen sind die Schauerromane von Shirley Jackson, Spuk in Hill House und Wir haben schon immer im Schloss gelebt. Sie tragen ein klassisches Gothic-Merkmal- das von Geistern heimgesuchte Anwesen - sogar schon im Titel. In die Horror-Kategorie der Gattung gehörig, haben beide gerade ein Revival durch eine erfolgreiche Netflix-Serie und einen Kinofilm erfahren. So angesagt ist der gepflegte Grusel gerade wieder!

Auch Kult und abgründig spannend ist Daphne du Mauriers Meisterwerk Rebecca von 1938, in dem die Autorin Grusel à la Gothic, Psychologie, Coming-of-Age und Krimi meisterhaft vermischt. Alfred Hitchcock persönlich verfilmte den Stoff um eine Gesellschafterin, die mit dem Rätsel um den Tod ihrer Vorgängerin - Rebecca - konfrontiert wird.

Erst ein paar Jahre alt ist dagegen Diane Setterfields Roman Die dreizehnte Geschichte, eine sprachlich wunderschöne Gruselgeschichte, in der eine sterbende Schriftstellerin von einer Biografin die geheimnisumwitterte, tragisch-schaurige Wahrheit um zwei Zwillingsschwestern niederschreiben lässt. Englische Abgeschiedenheit, geisterhafte Vorgänge, das Zweifeln am Verstand und ein Gefühl des Zurückgereistseins in die Vergangenheit prägen eine Geschichte, die einen Eishauch im Nacken zurücklässt.

Spuk in Hill House
Wir haben schon immer im Schloss gelebt
Rebecca
Die dreizehnte Geschichte

Schauerromane heute

Die australische Schriftstellerin Kate Morton scheint sich dem Genre völlig verschrieben zu haben: Alle ihrer bisherigen Mystery-Romane - der neueste heißt Die Tochter des Uhrmachers - sind durchzogen von Elementen der Schauerromantik. Immer sind die Protagonistinnen Frauen, die auf einem alten Landsitz oder einer Farm tief in die Vergangenheit und in verborgene Familiengeheimnisse eintauchen, und immer haftet ein beunruhigender Kitzel des Unerklärlichen der Sache an.

Obwohl stark von Frauen beherrscht, gibt es unter den aktuellen Gothic-Autoren auch männliche Ausnahmen. Carlos Ruiz Zafón ist die vielleicht Bekannteste. Er lässt seine Reihe um den Friedhof der vergessenen Bücher in den verschlungenen Gassen Barcelonas zur Zeit der Franco-Diktatur spielen. Mystik, Nebelschwaden und stilistische Eleganz tauchen den Hörer ein in eine skurril-gruselige Geschichte. Der “Friedhof” ist zwar eine Bibliothek, aber eins der Exemplare daraus zieht den jungen Daniel in die Suche nach weiteren Werken des Autors hinein. Eine Suche, die die Pforten öffnet zu Mord, Magie und Wahnsinn.

Das jüngste und offensichtlichste Beispiel für den nicht tot zu kriegenden Schauerroman konnte man gerade erst in den Regalen der Frankfurter Buchmesse entdecken: Sarah Perrys frisch erschienener Mystery-Roman Melmoth. Darin greift Perry die alte, fast gleichnamige Vorlage wieder auf und lässt den Wanderer Melmoth diesmal in weiblicher Form umher wandeln und Seelen in die Verdammnis reißen. Das Setting ist typisch: Prag im Winter, mit seinen unheimlichen Wasserspeiern und seinem Alte-Welt-Hauch. Ein geheimnisvolles Manuskript und eine unheilvolle Mahnung setzen die Dinge - ebenfalls typisch - in Gang.

Die Tochter des Uhrmachers
Der Schatten des Windes
Melmoth

Mit der "Gothic Novel" auf der Flucht

Ob die Brontë-Schwestern das ahnen konnten, als sie ihre Helden und Heldinnen über frostige Moore schickten? Wusste Horace Walpole, welchen unsterblichen Trend er mit dem tödlichen Sturz eines Riesenhelms in Gang setzte? Wohl kaum. Aber sie hatten zur richtigen Zeit die richtigen Ideen und schufen ein Genre, das bis in die heutige Zeit den Spaß am Grusel und den Durst nach schwarzer Romantik stillt. Dazu kommt noch eine Prise Eskapismus: Im 21. Jahrhundert, in dem das Wissen über die Welt sich täglich vervielfacht, und wo uns Klimawandel, Weltpolitik und digitale Überforderung beständig im Nacken sitzen, bietet ein guter alter (oder neuer) Schauerroman die Flucht in eine zwar gruselige, aber auf altmodische Weise unterhaltsame Welt, in der nicht alles per Mausklick erklärbar wird.

Mehr dazu: Schauerliteratur: Vom Schauerroman bis zur Gothic Novel

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