10 Prozent aller Menschen sind gefühlsblind, trotzdem ist das Phänomen kaum bekannt. Was ist Gefühlsblindheit?
Gefühlsblindheit bedeutet, dass man sowohl die eigenen Gefühle als auch die der anderen nicht gut erkennen, wahrnehmen und verbalisieren kann. Es ist ein Persönlichkeitsmerkmal – keine Krankheit. Man hat sie meist von Geburt an, häufig für das restliche Leben.
Gefühlsblinde leiden selbst meist nicht unter ihrer Persönlichkeit, wohl aber ihre Angehörigen. Was raten Sie Menschen, die mit einem gefühlsblinden Partner zusammenleben?
Das kommt darauf an, ob der Partner leidet. Gerade wenn der Mann gefühlsblind ist, denkt die Partnerin oft: „Er ist verschlossen, er spricht nicht gerne über seine Gefühle. Typisch Mann, das wächst sich bestimmt mit zunehmendem Vertrauen in der Beziehung aus.“ Das tritt aber nicht ein. Sehnt sich einer der Partner nach mehr emotionaler Verbundenheit, rate ich dazu, gemeinsam über dieses Problem zu sprechen und gegebenenfalls externe Angebote einzubeziehen. Vorausgesetzt, der Partner ist dazu bereit ist. Lehnt er es ab, ist das sein gutes Recht. Allerdings gibt es Fälle, in denen die Betroffenen einen gewissen Leidensdruck spüren, weil ihnen immer wieder gespiegelt wird, mit ihnen stimme etwas nicht. Daraus kann eine Sehnsucht entstehen, etwas zu ändern. Viele Menschen kommen aber mit einem gefühlsblinden Partner gut zurecht. Denn gefühlsblinde Partner sind oft zuverlässig und haben keine Probleme mit Commitment.
Warum ist es ein Problem, wenn Menschen nicht über ihre Gefühle sprechen können?
Wenn Menschen emotionale Regungen haben, aber nicht darüber sprechen können, dann ist ein wichtiger Schritt in der Regulation dieser Emotionen gestört. Das führt kurz gesagt zu psychosomatischen Auffälligkeiten. Gerade negative Gefühle, die nicht ausgedrückt werden, suchen sich – wenn es über Jahre so geht – andere Wege und treten zum Beispiel als Magengeschwür hervor. Die fehlende Verbalisierung verhindert außerdem, dass diese Menschen mit anderen in Kontakt treten können. Viele Menschen glauben, ihr Gegenüber wisse schon, was sie fühlen. Das ist aber nicht so. Der einzige Ausweg ist Reden. Man muss die Scheu davor ablegen und immer wieder sagen, wo man steht.
In Ihrem Buch schreiben Sie „Es herrscht zwar ein großes Bedürfnis nach Emotionen und Emotionen sind ein Thema in Mainstreammedien, aber wirklich echte Gefühle gibt es kaum.“ Wie meinen Sie das?
Ich beobachte heutzutage einen interessanten Widerspruch: Auf der einen Seite gibt es eine große Sehnsucht nach Emotionen. Es gibt Trends wie Achtsamkeit und spirituelle Bewegungen. Auch die ganze Coaching-Szene kommt aus einem Bedürfnis nach emotionaler Unterstützung und Begleitung. Das alles resultiert daraus, dass wir in unserem Alltag immer weniger echte Kontakte haben. Wir haben keine Großmutter mehr, die uns beisteht; wir haben immer weniger Freunde. Studien zeigen, dass die westliche Welt immer vereinzelter, immer einsamer wird. Selbst Teenies geben an, weniger Zeit mit Freunden zu verbringen als noch vor zehn oder zwanzig Jahren – auch unabhängig von Corona. Der Trend geht dahin, dass alle im Kämmerlein vor ihren Bildschirmen hocken. Chats und Facetime ersetzen aber keinen echten Austausch mit Körpersprache, Mimik, Gestik und Prosodie. Auch Emojis können nicht unsere wirklichen Gefühle ausdrücken.
Wieso können Emojis keine Emotionen vermitteln?
Wir Menschen haben ständig verschiedene, gleichzeitige Gefühle, die komplex und manchmal sogar widersprüchlich sind. Durch die Vereinzelung verlernen wir, solche echten Gefühle zu zeigen, sie bei anderen zu erkennen, sie angemessen zu äußern und zu verstehen. Stattdessen lesen wir ständig von Menschen, die irre dankbar und selig sind; die Fotos von ihrem Kaffee und Sonnenuntergang posten. Diese Schein-Emotionalität erscheint mir gefährlich. So wie der Porno nicht der echte Geschlechtsverkehr ist, ist die Dankbarkeit bei einer Tasse Kaffee kein echter emotionaler Austausch.
Was ist so gefährlich an dieser Inszenierung positiver Gefühle?
Die andere Seite wird dabei unterdrückt. Das führt zu einer „toxic positivity“. Denn was ist, wenn ich mich nicht gut fühle? Manchmal geht es einem eben schlecht. Das hat nichts mit mangelnder spiritueller Praxis zu tun – Dinge sind auch einfach mal blöd. Dann brauchen wir einen gesunden Umgang mit Emotionen, der uns dabei hilft, unser Leben zu ändern. Dafür sind unsere Gefühle nämlich da: Wenn ich sie wahrnehme, erkenne und nicht mit anderen Emotionen überlagere, kann ich sie als Wegweiser und Signal nutzen, um mein Leben so zu leben, dass es gut für mich ist.
In Ihren Sitzungen sprechen Sie mit Ihren Klienten nicht nur über deren Gefühle – sie sollen sie auch tatsächlich empfinden. Warum ist dieser Unterschied wichtig?
Wer schon einmal eine Psychotherapie gemacht hat, weiß, dass Gespräche unverzichtbar sind, um über schmerzhafte Erfahrungen hinwegzukommen. Aber in vielen Fällen reicht es nicht aus. Denn der Schmerz wird durch das reine Verstehen nicht kleiner. Folglich greift der Klient immer noch zu denselben Kompensationsstrategien. Im emotionsfokussierten Ansatz führt das Aufleben der schmerzhaften Gefühle aus der Vergangenheit zu zwei Zielen: Erstens werden die Gefühle nach und nach schwächer – denn das machen Gefühle, die man nicht unterdrückt. Zweitens kann ich auf die schmerzhafte Situation eine neue Antwort finden. Ich kann mein Gefühl umdeuten, sowohl intellektuell als auch emotional.
Ich stelle mir eine Therapiesitzung bei Ihnen sehr dramatisch vor, mit viel Weinen, Schreien, Lachen… Ist das so?
Natürlich kommt es nicht in jeder Sitzung zu einem Gefühlsausbruch. Bei mir gibt es auch keine spiritistischen Sitzungen, sondern ich biete ein vollkommen seriöses, strukturiertes Setting an. Zu mir kommen typischerweise Menschen in Lebenskrisen. Etwa solche, die in ihrer Beziehung unglücklich sind und sich nicht trennen können. Eine fürchterliche, unglückliche Situation – aber dafür steht kein Psychotherapieplatz zur Verfügung. Dennoch ist der Leidensdruck enorm. Ich habe im Gegensatz zu klassischen Psychotherapeuten die Möglichkeit, empathischer und informeller auf solche Klienten einzugehen. Ich habe zu meinen Klienten ein sehr enges Verhältnis. Dieses Verhältnis ermöglicht natürlich, dass geweint und auch geschrien wird. Das passiert schon häufig.
Sind Sie so eine Art Ersatzfreundin?
Nein, ich bin nicht der Ersatz für die beste Freundin. Aber die Notwendigkeit meines Berufs entsteht auch daraus, dass Menschen immer weniger beste Freunde haben und weniger Familie um sie herum, die sie auffangen können.
Die wenigsten von uns haben gelernt, dass es in Ordnung ist, wütend zu sein. Warum ist das so fatal?
Wut ist eigentlich eine tolle Emotion. Sachlich betrachtet heißt Wut: Hey, du hast meine Grenze überschritten, lass das bitte. Wut heißt nicht: Du bist der letzte Mensch, ich will dich nie wiedersehen. Wenn ich einen gesunden Umgang mit meiner eigenen Wut habe, kann ich das auch der Person vermitteln. Habe ich keinen gesunden Umgang, kann das dazu führen, dass ich überreagiere. Oder ich habe einen Zensor in mir, der prüft, ob meine Wut angemessen erscheint.
Warum haben vor allem Frauen ein Problem damit, Wut zu äußern?
Hier spielen biologisch-soziologische Faktoren mit hinein. Wütende Mädchen werden zum Beispiel ermahnt, nicht zu schreien. Frauen brechen darum eher in Tränen aus, statt auf den Tisch zu hauen. Sie haben gelernt, dass sie dann getröstet werden. Umgekehrt ist es bei den Männern: Sie haben gelernt, dass sie gehört werden, wenn sie laut werden und dass Indianer keinen Schmerz kennen. Vielen haben darum den Umgang mit Traurigkeit verlernt. Mein Eindruck ist, dass der Umgang mit Wut bei Kindern geschlechterunabhängig schwierig ist. Wenn Eltern ihre Kinder als wütend erleben, fühlen sie sich oft, als hätten sie versagt. Sie werden durch die Wut ihrer Kinder getriggert. Vielleicht haben sie selbst als Kind Wut unterdrücken müssen.
Viele Menschen haben gelernt, bei negativen Gefühlen langsam zu atmen und bis zehn zu zählen, um das Gefühl zu regulieren. Das ist doch ein guter Tipp, oder?
Generell gibt es die Leute, die ihre Gefühle sehr regulieren, fachsprachlich sind das die überregulierten Personen. Und es gibt solche, die preschen mit ihren Gefühlen zu schnell heraus. Wenn jemand unterreguliert ist, ist der Tipp des Zehn-Sekunden-Zeitpuffers gut. Dann hilft diese kurze Zeitspanne, um zu überlegen, welche Worte man wählt oder ob man wirklich laut und ausfallend werden will.
Schädlich ist dieser Tipp allerdings für überregulierte Personen. Sie sollten innerlich nicht zählen, denn während dieser Zählpause kommen die ganzen inneren Zensoren zu Wort. Oft kommt am Ende gar nichts mehr heraus – die Gefühle werden heruntergeschluckt oder so verbrämt herausgelassen, dass sie nicht mehr dem inneren Bedürfnis entsprechen. Hinter dem Tipp steckt die Manipulation der eigenen Gefühle hin zu einer Zwangspositivität. Wenn ein negatives Gefühl da ist, lautet mein Tipp nicht, zu atmen und zu meditieren oder dankbar zu sein; sondern zuzuhören, was das negative Gefühl mir sagen will. Wenn ich immer dagegen anatme oder innerlich bis zehn zähle, dann ändert sich nichts in meinem Leben.
In einem Beispiel erzählen Sie von einem Mann, der einen übertriebenen Perfektionismus entwickelt. Welches Gefühl kann hinter Perfektionismus stecken?
Ganz prototypisch gesprochen, erfährt manches Kind nur dann Liebe und Zuwendung seitens seiner Eltern, wenn es Top-Leistungen bringt: Schulnoten, Pokal beim Fußball oder dergleichen. Bei diesem Kind entwickelt sich durch die Erfahrung das Schema: Ich bin nur liebenswert und etwas wert, wenn ich herausragende Leistungen erbringe. Selbst wenn die Eltern längst verstorben sind, bleibt dieses Muster bestehen. Die Person kommt nicht aus ihrem Perfektionismus heraus. Perfektionismus kann auch infolge eines Traumas entstehen. Dann sucht dieser Mensch immer nach Kontrolle, sei es in der eigenen Wohnung, im Job oder über seinen Körper. In meiner Arbeit geht es darum, dass wir diese alten Fragen der Vergangenheit bearbeiten, indem wir neue emotionale Reaktionen dazu entwickeln.
Wie kann das konkret gelingen?
Der erste und wichtigste Schritt ist, das Gefühl der Wertlosigkeit und des Nicht-geliebt-werdens aufkommen zu lassen – in einem geschützten Rahmen und zusammen mit einem Profi. Der Traurigkeit darüber, dass man nur für Leistungen geliebt wurde, muss Raum gegeben werden. Und diese Traurigkeit und Wut müssen überwunden werden. Der Klient muss dem Gefühl ins Auge sehen, was ein absolut schmerzhafter Prozess ist. Teilweise unterdrücken erwachsene Menschen diese Wut und Enttäuschung darum ihr Leben lang und deckeln sie mit bestimmten Mustern.
Ein Überlebensmechanismus.
Exakt. Deshalb ist er so wahnsinnig verbreitet. Ein Kind würde nicht ertragen, dass sein Vater es nicht liebt, solange es keine Einser mit nach Hause bringt. Kinder passen sich komplett an, um die Liebe und Zuwendung ihrer Eltern zu bekommen. Es sind Taktiken, mit denen Kinder die fürchterlichsten Situationen durchstehen. Als Erwachsener muss ich erkennen, dass ich diese Muster nicht mehr brauche und dass ich sie ändern kann.
In Ihrem Buch empfehlen Sie, über die eigenen Gefühle zu schreiben, um das eigene Narrativ zu ändern. Das klingt nach dem guten alten Tagebuch, oder?
Es hat sich gezeigt, dass es gefühlsblinden Menschen hilft, über die eigenen Gefühle zu schreiben. Frei für sich, wie in einem Tagebuch. Es geht dabei darum, das Wenige an emotionaler Regung wie ein Pflänzlein zu hegen und pflegen. So zaghaft und vage dieses Pflänzlein auch ist – wenn gefühlsblinde Menschen ihm mehr Aufmerksamkeit schenken, entwickelt sich dadurch im besten Fall eine höhere Sensibilität für die eigenen Gefühle. Sie nehmen mehr Raum ein, werden mehr gehört und die Betroffenen üben sich darin, sie auszudrücken. Um schmerzhafte Erfahrungen umzudeuten und ein neues Narrativ zu entwickeln, reicht reines Tagebuchschreiben aber selten aus. Denn dabei meiden wir tiefvergrabene, schmerzhafte Erfahrungen und widmen uns leichter zugänglichen Themen. Letztlich können wir uns nicht selbst therapieren – es braucht ein Gegenüber, das einen anleitet und Schutz bietet.
Welchen Tipp haben Sie für Menschen, die gerne über ihre Gefühle sprechen wollen, aber sich nicht trauen?
Dass man dankbar für seine eigenen Gefühle sein sollte. Man sollte erkennen, dass sie einem etwas sagen wollen und dass sie sich nicht wegschieben lassen. Gefühle sind wie ein Wecker: Drücke ich sie weg, kommen sie wieder und werden lauter. Seine eigenen Gefühle einem anderen gegenüber zu zeigen, ist außerdem eine Einladung an diese Person, das Gleiche zu tun. Die meisten Menschen mögen das.