“Noir” ist Französisch und bedeutet “schwarz”. In der Filmkritik wurden damit ursprünglich US-Filme - vor allem aus dem Krimi-Genre in den 40er Jahren - bezeichnet, die grimmig, zynisch und von einer pessimistischen Weltanschauung geprägt waren. Dreckig ging es zu, und diese düstere Zeichnung übernahmen auch andere Film- und immer mehr auch Literaturgenres. Romane bekamen einen “Noir”-Anstrich.
Science Fiction wurde pessimistisch (Blade Runner, Matrix), Krimis gerade aus dem Norden hielten sich in Sachen deprimierender Stimmung auch nicht mehr zurück - und irgendwann entdeckten die “Noir”-Schreiber das amerikanische Hinterland als Spielwiese für bittersten Fatalismus.
Country Noir: Das sind die Ursprünge
Erste Spuren dieser Gattung finden sich schon im sogenannten “Southern Gothic”, einer Südstaaten-Variante des Schauerromans. Schon William Faulkner oder Flannery O’Connor pflanzten ihre Figuren in einsame Gegenden und in Geschichten vom Untergang. Chancenlose Helden stemmten sich müde gegen ein vorprogrammiertes Schicksal.
Als tatsächliche Begründer des Genres gelten allerdings Autoren wie Daniel Woodrell und Donald Ray Pollock, deren gescheiterte Helden fernab der großen Städte ihr Leben fristen, in den Bergen Missouris oder in dünn besiedelten Gegenden von Ohio oder Indiana.
Woodrell ist uns hierzulande vor allem bekannt durch die Verfilmung seines Romans Winter's Bone aus dem Jahr 2010 mit einer jungen, fantastischen Jennifer Lawrence (Die Tribute von Panem) in der Hauptrolle als Siebzehnjährige, die in den Ozarks über die Runden zu kommen versucht. Pollocks The Devil All The Time von 2011 wurde gerade von Netflix verfilmt und verfolgt eine Handvoll desillusionierter Charaktere vom zweiten Weltkrieg bis in die sechziger Jahre.
Der dunkle Country-Roman: Die armselige Seite Amerikas
Das Dasein, das Country Noir Autoren beschreiben, hat nichts mit ländlicher Romantik zu tun - im Gegenteil: In kargen Landschaften, auf heruntergekommenen Farmen oder in von Crystal Meth verseuchten Siedlungen erzählen die Autoren in harter, nichts beschönigender Sprache von den Versagern und Vergessenen der amerikanischen Gesellschaft.
Kaputte Kriegsveteranen, Schulabbrecher, Alkoholiker, “White Trash” sind so weit von der Erfüllung des amerikanischen Traum entfernt, wie man sich das nur vorstellen kann. Von regelmäßigem Einkommen können diese Menschen nur träumen, und die Perspektivlosigkeit fördert Gewalt, Wahnsinn und Kriminalität. Von Hoffnung gibt es keine Spur, und der moralische Kompass zerbricht an der vorgegebenen Ausweglosigkeit, in die das Ensemble eines Country Noir-Romans oft schon hineingeboren wird um irgendwann auch genau dort, am Ort der vorbestimmten Verzweiflung, wieder zu sterben - manchmal mit einem Gewehr im Mund.
Eine weitere Variante des Country-Noir-Protagonisten setzt sich ins Auto und begibt sich auf einen Roadtrip, bei dem von Beginn an klar ist, dass dieser kein gutes Ende nehmen wird. Ein Ziel gibt es selten, und der Tod sitzt oft schon auf dem Beifahrersitz. Mal ist es auch umgekehrt: Fremde dringen in eine eingeschworene White Trash Gemeinde ein und bringen die Machtverhältnisse aus der Balance. Oft setzt ein Akt der Gewalt eine Eskalationsspirale in Gang, die nicht mehr aufzuhalten ist. Dann wird es blutig und hässlicher als je zuvor.
Der Heimatroman als Gesellschaftskritik
Die Sprache des “Country Noir” ist entsprechend hart, aber hat auch erstaunliche Momente dunkler Poetik. Verfall, Armut, Desillusion - Autoren wie David Joy oder Tom Bouman schaffen es, daraus atmosphärische Abgesänge zu schaffen, die sich erbarmungslos unter die Haut winden und Momente tragischer Schönheit hervorbringen.
Natürlich war und ist diese Art des Heimatromans auch eine Gesellschaftskritik. Denn hier tummeln sie sich, die von Politik und Bildung fallen gelassenen Verlierer der US-Gesellschaft. Hier sind sie, die einfachen Leute ohne finanzielles oder soziales Gefüge, die sich verleiten lassen zu Korruption und Kriminalität. Ungebildet, fernab von Fortschritt, Förderung oder Privilegien, bleibt die Moral im Überlebenskampf auf der Strecke, und die Obrigkeiten haben diese Landstriche und Menschen weitestgehend aufgegeben. Hier ist sich gezwungenermaßen jeder selbst der Nächste, und despotische “Rattenfänger” halten das Heft in der Hand.
Viel wird heute von der immer weiter auseinander klaffenden Schere zwischen Arm und Reich gesprochen, gerade in den Vereinigten Staaten, von gesellschaftlicher Spaltung, die sich nicht mehr überbrücken lässt. Die Mikro-Universen, in die uns Country Noir-Romane führen, werden bevölkert von der untersten Schicht der armen Weißen, zurückgelassen in einer Art Parallelwelt, die nur noch von Wut und Verblendung angetrieben wird. Recht und Ordnung verschwimmen zu Variablen. Wahrheit wird zu Nebel.
Country Noir auf Deutsch
Ein vor allem amerikanisches Genre, schaffen es bisher nicht viele dieser Romane in den deutschen Sprachraum. Erst in jüngerer Zeit gewinnt der “Country Noir”-Roman bei uns Aufmerksamkeit und wird auch für deutsche Ohren umgesetzt.
Einen der größten Romane von Charles Dickens - David Copperfield - hat Barbara Kingsolver genommen und als modernes Retelling in die Appalachians der Jetztzeit versetzt: In einem Trailer in den Wäldern von Virginia, umgeben von Schwarzbrennereien und Tabakfarmern, kommt Demon Copperhead zur Welt. Der Vater ist tot, die viel zu junge Mutter ein Junkie. Wie der Waisenknabe in Copperfields Klassiker schlägt sich auch Demon tapfer alleine durchs Leben, in Pflegefamilien, auf der Straße, durch Armut, begegnet der Liebe, der Sucht und Menschen, die es nur selten gut mit ihm meinen.
Der Roman aus dem verlorenen Herzen Amerikas wurde 2023 mit dem Pulitzer-Preis und dem Women’s Prize for Fiction ausgezeichnet. Sprecher Fabian Busch verleiht dem deutschen Hörbuch eine junge, einprägsame Stimme.
Brian Panowichs 2015 erschienener Roman Bull Mountain versetzt uns ins nördliche Georgia, wo Schwarzbrennerei, Drogen und Gesetzlosigkeit sich mit der Geschichte einer Familie mischen. Hier bemüht sich Clayton Burroughs, die kriminelle Familientradition hinter sich zu lassen und ergattert einen Posten als örtlicher Sheriff. Der Versuch, zumindest in seiner Gemeinde den Frieden aufrecht zu erhalten, gerät in Gefahr, als ein Bundesagent auftaucht, um den Machenschaften auf Bull Mountain ein Ende zu setzen.
Rassismus im Krimi: Die Bäume
Im kleinen Städtchen Money in den Südstaaten der USA geschehen seltsam inszenierte Morde. Ein Weißer wird tot aufgefunden, erwürgt mit rostigem Stacheldraht. Ein pikantes Detail: Neben ihm sitzt eine Person of Color, die ihn wortwörtlich „an den Eiern hat“. Die Anordnung gibt Ed Morgan und Jim Davis, Special Detectives des Mississippi Bureau of Investigation, einige Rätsel auf.
Als ein weiterer toter Weißer mit Verbindungen zum Ku-Klux-Klan in einem ähnlichen Tableau auftaucht, wird ihnen klar, dass der an seiner Seite sitzende Schwarze äußerlich an Emmett Till erinnert, einen im Jahr 1955 von einem rassistischen Mob gelynchten Teenager. Die Morde setzen sich im ganzen Land fort – jetzt können den Ermittlern nur noch die Archive von Mama Z weiterhelfen: Sie führt seit Jahrzehnten akribisch Buch über die Opfer der Lynchjustiz im ehrenwerten Städtchen Money.
Die Bäume-Autor Percival Everett stammt selbst aus Georgia, dem letzten der konföderierten Staaten, der die Sklaverei abschaffte. Neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller ist er Professor für Englisch in Kalifornien. Er veröffentlichte mehr als zwanzig Romane und erhielt zahlreiche Auszeichnungen für sein Werk. Die Bäume hat einen realen historischen Lynchmord aus den 1950er-Jahren zur Grundlage. 2022 der Roman auf der Shortlist für den Booker Preis.
Wiederentdeckt: Nightmare Alley
Weniger in Richtung Krimi, sondern mehr in Richtung bitterböse Groteske geht der gerade als deutsches Hörbuch erschienene Roman Nightmare Alley von William Lindsay Gresham von 1946. Der Roman, 1947 bereits schon einmal verfilmt, wird 2021 unter Regie von Guillermo del Tore mit Bradley Cooper, Rooney Mara und Toni Collette in den Hauptrollen neu adaptiert, und das kommt nicht von ungefähr.
Nightmare Alley ist die Geschichte des Aufstiegs und Falls des Mentalisten Stanton Carlisle. Beginnend auf einem kleinen, übers Land tingelnden Jahrmarkt - einer wahren Freak-Show - trickst sich der Zauberer zum spirituellen Prediger und Guru hoch um schließlich die gutgläubigen Wohlhabenden in ihren schicken Anwesen auszunehmen. Er sammelt eine geblendete Gefolgschaft um sich. Doch der Absturz beginnt, als Betrug, eine Femme Fatale und Rachedurst ins Spiel kommen.
Gresham’s Roman mit seinen Figuren ohne Gewissen oder Moral gewinnt nicht zufällig neue Brisanz. Er präsentiert sein Ensemble als Irrenhaus ohne Rückgrat, deren Ziel nur der eigene Profit ohne Rücksicht auf Verluste anderer ist. Hier ist jeder jedem egal, und selbst erkorene Helden sind in Wahrheit nichts als schäbige Betrüger. Wie in allen Country Noir-Romanen zieht die Hauptfigur ein Ticket für einen Höllenritt und landet in einer Einbahnstraße, an deren Ende sich nur der Abgrund auftut.
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Wenn aus den netten Menschen vom Land misstrauische, feindselige Verlierer werden, die im armen Hinterland der USA ein verlorenes Leben zwischen Alkohol, Kriminalität und Drogen fristen? Dann wird das Herz Amerikas schwarz, und wir befinden uns im Genre “Country Noir.” Entdecke bei Audible viele weitere düstere Thriller. Falls du Audible noch nicht ausprobiert hast, streamst du im Probemonat unbegrenzt tausende von Hörbüchern, Hörspielen und Original Podcasts. Zusätzlich erhältst du einen kostenlosen Titel, den du für immer behalten kannst.