Die Diskussion tobt schon seit Jahrzehnten, und immer wieder haben wissenschaftliche Studien ihr neue Nahrung geboten. Lange galt als Ultima Ratio: Das gedruckte Buch ist anspruchsvoller, hat einen größeren Lerneffekt und ist daher einfach besser. Das Überlegenheitsgefühl reiner Print-Leser wurde das erste Mal 1977 angekratzt. In einer Studie wurde untersucht, wie gut die Probanden eine Geschichte zusammenfassen konnten, nachdem sie sie entweder gelesen oder gehört hatten. Das überraschende Ergebnis lautete: Gleichstand! Die neurologische Begründung dafür blieb damals allerdings noch aus.
Aber zu früh gefreut: Ein Versuch von 2010 ließ dann wieder Gegenteiliges vermuten: Diesmal sollten die Teilnehmer Lernstoff verinnerlichen. Eine Gruppe bekam ihre Lektion als Podcast auf die Ohren und die andere in gedruckter Form zur Verfügung. Es gab nichts dran zu rütteln: Bei den Lesern blieb eindeutig mehr “hängen” als bei den Hörern (obwohl der Podcast begehrter war). Wieso jetzt dieses andere Ergebnis?
Lesen: Entschlüsseln und Verstehen
Erklärungen lieferte unter anderem der Psychologe Daniel Willingham in mehreren Artikeln und einem Buch, das er 2015 verfasste. Selbst ein Verfechter für die Gleichberechtigung zwischen Print- und Hörbuch, teilte Willingham zur Erläuterung den Prozess des Lesens in zwei entscheidende (wenn auch vereinfachte) Schritte auf: Als erstes erfolgt die “Dekodierung”, also die Verarbeitung der Buchstaben, das Zusammenziehen von Wörtern und Sätzen. Also das, was Kinder beim Lesenlernen erstmal mühsam üben müssen. Diesen Schritt gibt es nur beim klassischen Lesen; beim Hörbuch fällt er weg.
Der zweite Schritt ist die Erfassung der Bedeutung und die findet in der Großhirnrinde statt. Unser Kopf geht her und interpretiert die Wörter, die im Gehirn angekommen sind. Was bedeutet “Vater”? Wie sieht die Farbe “Blau” aus? Was ist ein “Schlag”? Wie viel Zeit verbirgt sich hinter dem Begriff “Stunde”? Erst dann verstehen wir, was wir da lesen. Und das ist ein Prozess, der sowohl beim Lesen eines Buchs als auch beim Hören gleichermaßen stattfindet.
Die Konsequenz daraus wäre diese: Lesen, das zwei Schritte braucht, ist aufwändiger als Hören, verlangt mehr Arbeit und ist deshalb als eine höhere Leistung zu bewerten. Im Umkehrschluss: Hören ist einfacher, bequemer; also: kein richtiges Lesen. Das musste auch Willingham so unterstreichen - aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Denn ist das Lesen erst einmal automatisiert (was in der fünften, sechsten Klasse in der Regel der Fall ist), geschieht die Dekodierung so schnell, dass dafür praktisch kein zusätzlicher Aufwand mehr nötig ist. Ab diesem Alter geht es dann sowohl beim Buch als auch beim Hörbuch nur noch um die Interpretation der Bedeutung. Beide Medien sind dann von Aufwand und Leistung her wieder gleichauf. Dass die Experimente dennoch unterschiedliche Ergebnisse hatten, führten Willingham und andere Wissenschaftler auf andere Faktoren zurück.
So kann das Hörbuch zu einem besseren Memory-Effekt führen als Print, wenn anhaltende Probleme bei der Dekodierung bestehen. Das ist zum Beispiel bei Menschen mit einer Leseschwäche so - und deren Anteil an der Bevölkerung ist ja nicht gering. Wo viel Energie in das Entschlüsseln von Schrift gesteckt werden muss, bleibt danach für das eigentliche Verständnis des Textes (oder gar für den Spaß an einer Geschichte) nicht viel übrig - und somit auch nicht viel im Gedächtnis hängen.
Der Lerneffekt, so hat sich gezeigt, ist auch abhängig davon, wie schwer der Text ist. Sind z.B. viele Fachbegriffe darin oder werden komplizierte Zusammenhänge erklärt, bietet ein gedrucktes Buch Vorteile: Das Auge kann mal eben zurückspringen und einen Satz oder Absatz nochmal lesen. Man kann unterstreichen und markieren. Dass das Auge beim Lesen auch nicht nur das jeweilige Wort, sondern auch die umliegenden und das Layout der ganzen Seite vor sich sieht, bietet mehr Kontext und ein Gefühl dafür, was einen erwartet - wo ein Kapitel, ein Paragraph zu Ende ist; wie lang eine Erklärung dauert etc. Das hilft, schwierige Texte besser zu verstehen.
Mit Echo-Effekt, Satzmelodie und viel Gefühl
Man hat zwar festgestellt, dass es auch beim Hören einen kurzfristigen “Echo-Effekt” gibt: Träumt man sich mal kurz weg und wird dann vom Gegenüber gefragt, was gerade gesagt worden ist, ist das Gehirn durchaus in der Lage, ein oder zwei Sekunden “zurückzuspulen” und sich an den letzten gehörten Satzfetzen zu erinnern. Mehr aber auch nicht. Hören ist eher eine Momentaufnahme. Bei Experimenten deshalb wichtig zu beachten: Wie kompliziert ist der Text, der benutzt wird?
Ein weiterer Umstand, der die Erinnerungsleistung bei Hörbüchern im Vergleich schlechter dastehen lassen kann: Ablenkung. Wer ein Buch liest, setzt sich damit hin und macht genau nur das: Lesen. Wer ein Hörbuch hört, macht dabei häufig noch etwas anderes: Autofahren, Bügeln, Joggen, Aufräumen. Multitasking eben. Und selbst, wenn man sich bewusst mit einem Hörbuch auf die Couch setzt, sind die Augen ständig auf der Suche nach visuellem Input. Die Ablenkungsgefahr liegt bei einem Hörbuch höher und verschlechtert so eventuell die Konzentration - was zu niedrigeren Werten beim Erinnern führt. Aber auch das, vermuten Experten, ist eine Frage der Übung: Langjährige Hörbuch-Multitasker driften auch nicht mehr oder weniger oft ab als Buch-Leser.
Heißt das jetzt, dass sich Hörbücher eher für “einfache” Texte und “seichte” Literatur eignen? Das kann man so auch wieder nicht sagen, denn das Hörbuch kann ein Ass aus dem Ärmel ziehen: Prodosie. Damit gemeint ist all das, was ein Wort oder Satz nur laut gesprochen und gehört transportieren kann - Tonfall, Melodie, Rhythmus, Gefühl. Gedichte werden viel besser verstanden, wenn sie vorgelesen werden. Selbst Shakespeare kommt besser beim müden Schüler an, wenn ein guter Sprecher ihm Romeos Liebesschwüre ins Ohr säuselt. Das liegt auch am “sozialen” Aspekt des Mediums: Hier transportiert ein Mensch die Emotionen, anstatt dass wir sie selbst erst zwischen den Zeilen herauslesen müssen. Davon, dass ein lebendiger Vorleser einen Zuhörer eher bei der Stange halten kann als ein nüchterner Text, brauchen wir gar nicht erst anzufangen. Tatsächlich werden Hörbücher statistisch seltener abgebrochen als ihre gedruckten Pendants.
Von Kortex, Voxeln und Wortfeldern
Hörbuchfans haben seit kurzem neue wissenschaftliche Munition zur Verteidigung: An der Universität von Berkeley wurde 2019 eine aufwändige Studie durchgeführt, um den Schritt der Wortinterpretation im Gehirn beim Lesen und Hören genau zu dokumentieren. Und jetzt müssen wir ein bisschen in die Neurologie eintauchen:
Für das Aufnehmen gedruckter und gehörter Wörter sind erstmal unterschiedliche Teile des Gehirns zuständig: Erstere verarbeitet die Sehrinde am hinteren Teil des Kortex; zweitere die an der Seite gelegene Hörrinde. Wenn es aber um das Verständnis, um die Bdeutung von Wörtern geht, werden viele verschiedene Regionen überall auf der Großhirnrinde aktiv. Das Team um Studienleiterin Fatma Deniz hat diese Regionen in sogenannte “Voxels” eingeteilt und dabei festgestellt, dass für bestimmte Wortgruppen auch bestimmte Regionen zuständig sind. So werden bei der Verarbeitung von Wörtern, die mit “Zeit” zusammenhängen, ganz bestimmte Voxel aktiv, für Wörter mit sozialem Zusammenhang anderswo situierte Voxel, und wieder andere, wenn es um Körperteile geht.
Einmal identifiziert, folgte der Vergleich: Die einen Probanden lasen einen Text; die anderen hörten ihn. Bei beiden Gruppen wurde per Hirnscans genau geguckt, bei welchem Wort welche Voxel “aufleuchteten”. Die Ergebnisse wurden auf farbige “Landkarten” vom Gehirn übertragen (die kann man sich hier angucken). Und siehe da: Die Karten sahen gleich aus! Ob gehört oder gelesen - dieselben Voxel “funkten” bei denselben Wörtern in derselben Intensität los.
Die Schlussfolgerung: Auch wenn Lesen und Hören in Teilbereichen neurologisch verschieden ablaufen - der entscheidende Schritt, nämlich die Erfassung der Bedeutung eines Textes, geschieht an denselben Stellen, beim selben Prozess, mit derselben Kraft. Und dieses Ergebnis freut nicht nur Hörbuchfreunde; für die Wissenschaft und die Medizin ergeben sich daraus neue Ansätze bei der Therapie von neurologischen Erkrankungen und Hirnverletzungen. Und sie brechen in der Pädagogik eine Lanze für den Einsatz von Hörbüchern im Unterricht: Gerade Schüler mit Leseschwäche erhalten dadurch Zugang zu und Freude an der Literatur. Und mit “Minderwertigkeit” oder “Durchmogeln” hat das jetzt erwiesenermaßen nichts mehr zu tun!
Diese neue Studie wird die Diskussion natürlich nicht beenden. Auch wenn das Hörbuch einen nicht mehr aufzuhaltenden Siegeszug angetreten hat, wird es immer diejenigen geben, die das Medium geringschätzen und für bequemer halten. Aber dann kann man sich auch einfach mal die Frage stellen, warum Lesen nur dann als wertvoll gelten soll, wenn es anstrengend ist, in Form einer erbrachten Leistung? Was ist verkehrt daran, Literatur einfach nur anstrengungsarm zu genießen?
Und wenn wir unbedingt von einer “Leistung” reden müssen: Was ist mit den vielen, vielen Hörbuchnutzern, die während des Hörens eines Buches auch noch gleichzeitig die Garage aufräumen, ein leckeres Essen kochen, Sport treiben, im Stau stehend etwas dazulernen? Leisten die nicht noch viel mehr, als jemand, der “nur” in einem Sessel sitzt und liest?
Wir werden also weiter diskutieren. Soviel aber ist schonmal klar: Ob ein Buch gelesen oder gehört wird, ist zumindest dem menschlichen Gehirn einerlei. Jetzt müssen wir das nur noch genauso sehen.