Sebastian, am 28. April ist ein neues Hörbuch von dir herausgekommen mit dem Untertitel „Kein Thriller“. Worum geht es in „Der erste letzte Tag“?
„Der erste letzte Tag“ handelt von Livius. Livius muss seine Ehe retten und deswegen relativ schnell von München nach Berlin kommen, aber sein Flieger bleibt wegen eines Schneesturms hängen. Jetzt muss er sich den letzten verbleibenden Mietwagen mit einer völlig Durchgeknallten teilen, die Lea von Arnim heißt. Sie schlägt ihm vor, auf diesem Roadtrip, der von München über Hamburg nach Berlin führt, ein Experiment zu machen – und zwar so zu tun, als ob heute ihr letzter Tag wäre. Und als sie sich auf dieses Experiment einlassen, gerät alles völlig aus den Fugen.
Was ist Livius für ein Typ?
Ich persönlich finde ja, dass er relativ witzige Weltansichten hat. Er ist Lehrer, aber er probiert trotzdem cool zu sein, indem er die modischen Trends seiner hippen Schüler imitiert – was ihm nicht so ganz gelingt. Er hat Probleme, „Nein“ zu sagen, hat also einen kleinen Helferkomplex.
Wie macht sich das bemerkbar?
Er hat schon Probleme, seiner Mutter zu widersprechen, wenn sie ihm zu Weihnachten einen Bärchen-Pulli schenken will (lacht). Und er trifft dann auf eine völlig unabhängige junge Frau, die unkonventionell ist und auch – oder vielleicht besser: trotzdem – sehr lebenskluge Ansichten hat und ihn gerne provoziert. Die beiden sind ein reichlich explosives Gemisch.
Gibt es denn irgendwelche Parallelen zwischen Livius und dir?
Livius will Autor werden und hat ein Buch für seine Kinder geschrieben. Das ist tatsächlich eine Parallele. Ansonsten hoffe ich, dass ich nicht ganz so spießig bin (lacht). Trotzdem bin ich aber mindestens halb so lustig wie er. Denn tatsächlich finde ich, dass er das, was ihm an Coolness fehlt, durch Witz und Schlagfertigkeit wieder wettmacht.
Und wie würde denn bei dir so ein Gedankenexperiment ausfallen, wenn du jetzt so tun würdest, als ob dein letzter Tag bevorstünde?
Ich würde erst mal das machen, was sie machen: Mit dem Auto irgendwo hinfahren. Das ist die schnellste Möglichkeit, um auf Reisen zu gehen. Denn ich finde, Reisen geben unserem Leben einen Inhalt, wobei ich den Begriff „Reisen“ sehr, sehr weit fasse. Das ist nicht nur die Fortbewegung von A nach B, sondern es ist auch eine Begegnung. Ein Hörbuch ist eine Reise. Alles, wo man in eine neue, fremde Welt eintaucht, ist eine Reise. Ein Gespräch mit jemand anderem, wobei sich eine neue Welt eröffnet. Das ist auch schon eine Reise. Und das Wichtigste am Reisen ist: Erinnerungen zu sammeln – und je mehr Erinnerungen man im Leben gesammelt hat, glaube ich, desto erfüllter war es. Insofern würde ich probieren, mich an diesem einem Tag irgendwohin zu begeben, wo ich noch nicht war, und versuchen, eine neue Erinnerung zu sammeln. Noch wichtiger ist es aber, glaube ich, mit wem man seinen letzten Tag verbringt.
Hast du denn selbst schon einmal irgendeine Art von denkwürdigem Roadtrip unternommen?
Der denkwürdigste Roadtrip, den ich unternommen habe, war direkt nach dem Abitur. Das war 1990, als ich mich mit zwei sehr guten Freunden, Knut und Pierre, in einen baufälligen, alten BMW gezwängt habe. Wir sind von Berlin nach Valencia gefahren. Das war unsere Abi-Reise. Wir haben auf dieser Reise so viele Erinnerungen gesammelt, dass wir auch heute noch davon zehren. Wir haben uns immer vorgenommen, dass wir diesen Roadtrip, wenn wir „erwachsen“ sind, noch einmal machen. Aus irgendeinem Grund haben wir es bisher nicht geschafft. Ich glaube, das wird eine Sache sein, die ich am Ende des Lebens wirklich ganz heftig bereue, wenn ich diesen Roadtrip von Berlin nach Valencia nicht wiederhole.
Noch ist ja zum Glück ein bisschen Zeit.
Genau, noch ist ein bisschen Zeit und jetzt ist es auch nicht so opportun. Ich habe zwar nicht die bewusste Entscheidung getroffen und gesagt: „So, jetzt stecken wir in einer Pandemie, aber wie könnte ich trotzdem reisen? Ich schreibe über einen Roadtrip und ich mache mal keinen Thriller, sondern etwas, bei dem man hoffentlich was zum Lachen hat.“ Letztlich war es mein Unterbewusstsein, das gesagt hat: „Wir haben von der Pandemie jetzt die Nase voll. Wenn wir schon nicht real verreisen können, dann doch mittels eines tollen Hörbuches.“
Du weichst mit diesem neuen Hörbuch von deinem üblichen Muster ab. Was würdest du sagen: Wieviel Mut braucht es, sich von den altbekannten Pfaden weg zu bewegen?
Na ja, für mich braucht es da weniger Mut, eher für die Hörerinnen und Hörer (lacht).
Wieso das?
Wenn man eine bestimmte Sache gewohnt ist, muss man für neue Wege offen sein. Und genau das ist ja eigentlich, was ich schon in meinem Buch „Fische, die auf Bäume klettern“ beschrieben habe: Wenn wir immer nur in den ausgetretenen Pfaden laufen, dann werden wir nie irgendwo neu ankommen. Als John Grisham „Das Fest“ geschrieben hat, habe ich auch erst mal eine Weile einen großen Bogen drum gemacht, weil ich wusste, dass das kein Justiz-Thriller ist, sondern eine lustige Weihnachtsgeschichte.
Trotzdem: Als ich es gelesen habe, war ich hellauf begeistert. Ich hoffe, so geht es den Hörerinnen und Hörern auch. Sie müssen tatsächlich ein bisschen Mut aufbringen und – so wie Lea und Livius – einfach sagen: „Okay, ich begebe mich mal auf eine neue Reise und nehme eine andere Abzweigung mit dem Fitzek.“
Also hoffst du, dass deine Fans quasi mit dir mitgehen und sich nicht davon abschrecken lassen, dass es diesmal etwas Neues von dir gibt?
Na ja, oder wenn sie sich sozusagen abschrecken lassen, dann ist das auch okay. Ich habe extra gesagt, dass vorne auf dem Cover ganz deutlich „Kein Thriller“ stehen muss, weil ich nicht will, dass jemand mit der falschen Erwartungshaltung anfängt, auf diese Reise zu gehen.
Wenn es dann darum geht, mit einer Unbekannten ins Auto zu steigen, könnte das auch in eine ganz andere Richtung gehen …
Lea hat noch eine Tasche dabei, von der keiner weiß, was drin ist … und dann wird das Ganze auch noch von Simon Jäger gesprochen. Deswegen will ich, dass im Vorfeld jedem klar ist, dass sie kein Thriller erwartet. Wobei mir wiederum schon viele gesagt haben, dass sie sofort meinen Stil wiedererkannt hätten. Und so weit liegen Thriller und Komödie ja gar nicht auseinander. Beides braucht zum Beispiel ein unglaubliches Tempo.
Gibt es noch andere Parallelen?
Parallelen gibt es: Jede Geschichte braucht erst einmal spannende Figuren, mit denen man sprichwörtlich auf eine Reise geht. Es kann eine Reise in die Unterwelt sein. Es kann aber auch eine Reise ans Meer oder in die innere Erlebniswelt sein. Wir brauchen Wendungen, die unerwartet sind, und am Ende vielleicht sogar eine Pointe, die alle überrascht. All das ist bei der Komödie – ebenso wie beim Psychothriller – erst einmal gegeben. Ich finde, das Timing ist allerdings bei der Komödie noch schwieriger einzuhalten – nicht umsonst sagen viele Autorinnen und Autoren, es wäre die Königsdisziplin. Ich glaube, dass ich relativ viele Psychothriller schreiben musste, um dieses Buch hinzubekommen. Wie gut mir das gelungen ist, liegt immer im Auge oder im Ohr des Betrachters (lacht).
Und worin liegen die Unterschiede?
Wir haben hier eine weniger „plotgetriebene“ Handlung, obwohl in dieser kurzen Zeit unglaublich viel passiert. Ich habe mich aber davon treiben lassen und war von der ersten Sekunde an Beobachter. Es gab also kein Exposé für dieses Buch, sondern es existierte alles nur in meinem Kopf. Ich war dann mit den beiden auf der Reise. Das ist beim Psychothriller anders, wo verschiedene Handlungsstränge mitunter häufig sehr, sehr, sehr kompliziert verschachtelt sind. Beim Psychothriller ist es nach meiner Theorie so, dass man mit den Protagonisten rätselt und sich an die Lösung herantastet. „Der erste letzte Tag“ ist eher ein Erfahrungsthriller, der nicht auf die große Lösung eines schwierigen Rätsels hinausläuft. Ein Unterschied ist weiterhin, dass ich eine Pointe, wenn es ein Psychothriller gewesen wäre, an das Ende des Buches gelegt hätte. Es gibt eine sehr, sehr große – vielleicht sogar die größte – Wendung, die schon in der Mitte des Buches stattfindet. Für einen Psychothriller ungewöhnlich, hier aber absolut notwendig. Mehr darf ich leider nicht sagen, sonst würde ich zu viel spoilern.
Beim Schreiben von Thrillern bist du ja sehr routiniert. War die Arbeit an „Der erste letzte Tag“ anders?
Erst einmal ist jedes Buch tatsächlich anders: Jedes hat seine eigene Stimmung, seine eigene Geschwindigkeit und im Übrigen auch seinen eigenen Blutzoll. Es gibt Bücher wie Die Therapie, da gibt es noch nicht mal eine Leiche. Dann gibt es Bücher wie Noah, da gibt es tausende Leichen. Und dann gibt es Bücher wie Abgeschnitten, in dem es ziemlich zur Sache geht, weil wir dort zeigen wollten , wie die Rechtsmedizin arbeitet. Und dann gibt es ganz düstere Themen, wie bei „Heimweg“, das eigentlich ein sehr ruhig geschriebenes Buch ist, aber trotzdem als intensiv empfunden wird. Einfach weil das Thema häusliche Gewalt so heftig ist, dass es wirklich jeden, der es liest, wahnsinnig berührt. Und so ist es jetzt passiert, dass nach meinem dunkelsten Thriller, „Der Heimweg“, mit „Der erste letzte Tag“ wahrscheinlich mein hellstes Buch gekommen ist.
Was aber keine bewusste Entscheidung war, wie du bereits sagtest?
Das hat sich so ergeben. Hier hat das Thema eine gewisse Geschwindigkeit vorgegeben: Es gibt einen Zeitdruck, weil Livius zu einer Paartherapie nach Berlin muss. Dort wartet seine Frau, die ihm noch eine Chance geben will, nachdem sie ihn betrogen und verlassen hat. Und auch Lea hat einen ganz wichtigen Termin. Sie probieren trotzdem, viel Leben in diese wenigen Stunden zu quetschen. Das heißt vom Timing und den zeitlichen Abläufen her ist es eine ähnlich temporeiche Geschichte wie meine Psychothriller auch. Allerdings haben wir hier wesentlich mehr Möglichkeiten, weil es viel dialoglastiger ist und es mehr Gelegenheiten gibt, die Charaktere kennenzulernen. Es ist relativ unwahrscheinlich, dass jemand, der auf der Flucht vor einem Axtmörder ist, dabei auch noch einen Dialog über Gott und die Welt und Glaubensfragen und die eigene Sterblichkeit hält. Das kann mal in einem Gedankenfetzen vorbeirauschen. Jetzt ist der Schwerpunkt ein ganz anderer gewesen. Es hat mir großen Spaß gemacht, diese Charaktere so außergewöhnlich zu gestalten. Sie sind hauptsächlich deswegen so anders, weil sie relativ ungewöhnlich denken, sprechen und, wie ich finde, außergewöhnlich schlagfertig sind.
Du meintest, diese Komödie war ein Gegenstück zu dem, was wir gerade eh alle durchmachen. War die Arbeit an diesem neuen Buch für dich ein Stück weit Ablenkung vom Corona-Alltag?
Das ist Schreiben für mich sowieso immer. Wenn man mich fragt, wie ich entspanne beziehungsweise wie ich meinen Kopf frei kriege: Schreiben ist immer etwas, bei dem ich nicht telefoniere. Mein Handy muss aus sein, ich darf nicht abgelenkt sein. Allein durch diese monothematische Fokussierung bekomme ich kurioserweise – zumindest für eine kurze Zeit – den Kopf frei. In der Corona-Zeit hat es mich davon abgehalten, ständig den R-Wert oder die Inzidenzen anzugucken oder nachzuschauen, was heute schon wieder an den Beschlüssen verändert worden ist, die gestern noch in Kraft waren und morgen eventuell schon nicht mehr gelten. Wenn man selbst auch beim Schreiben hin und wieder lachen muss, dann ist es natürlich doppelt gut.
Ja, das glaube ich. Man braucht einfach als Gegenpol etwas Positives.
Genau. Das war, wie gesagt, eine unbewusste Entscheidung. Ich hatte ja schon vor einiger Zeit mit dem Buch angefangen und dann aber nie so richtig den Zugang gefunden. Irgendwie fühlte ich mich dann nach 20, 30 Seiten wieder zur dunklen Seite der Literatur hingezogen. Warum auch immer. Da müsste man mal einen Psychiater oder Psychologen fragen (lacht). Dann habe ich aber mit meiner Freundin Linda darüber gesprochen, dass man gerade jetzt eigentlich etwas zum Lachen bräuchte, und ich habe ihr erzählt, dass ich schon mal angefangen hätte, etwas Lustiges zu schreiben. Dann habe ich ihr ein paar Sachen vorgelesen und sie hat mich ermutigt, das aufzugreifen. Beim Schreiben merkte ich, dass der Zeitpunkt jetzt gekommen ist. Der war vor vier Jahren noch nicht da. Und dann habe ich mich, als ich den Entschluss gefasst hatte, die Geschichte zu vollenden, in einen regelrechten Rausch geschrieben.
Hast du es dann relativ schnell runtergeschrieben?
Also, mit dem relativ schnell Runterschreiben ist ja immer so eine Sache … Das hat eine Weile gedauert, aber es ging schon schneller als sonst. Was immer danach folgt, ist die Überarbeitungsphase. Laut Hemingway ist der erste Entwurf immer Mist und er hat leider recht. Manchmal ist auch noch der zweite Entwurf Mist. Heißt also: Der erste Entwurf ist die Beruhigung für mich, weil ich dann etwas habe, das einen Anfang, Mittelteil und Schluss hat, mit dem ich dann weiterarbeiten kann. Aber zwischen dem ersten Entwurf und dem, was später eingesprochen wird, liegen oftmals Welten.
Du hast ja mittlerweile auch ein Kinderbuch und ein Sachbuch geschrieben. Gibt es noch irgendwelche anderen Genres, die dich reizen würden?
Es ist nicht so, dass ich mich hinsetze und mir vornehme, ein Genre nach dem anderen abzuhaken. Es ist eher so, dass ich eine Idee habe und dann vielleicht zweifle, weil es kein klassischer Psychothriller, kein Fitzek, noch nicht mal ein Thriller wird. Dann denke ich vielleicht zweimal mehr darüber nach. Aber wenn mich die Idee wirklich packt, dann ist es am Ende egal, welches Genre es ist. Da kann es auch ein Kinderbuch sein, das Pupsi und Stinki heißt. Ich habe ja auch als Buchautor angefangen und mittlerweile ist es so, dass nicht automatisch jede Idee zu einem Buch führt. Als ich zum Beispiel die Idee zu „Auris“ hatte, war schnell klar, dass es ein Hörspiel werden muss. Mit anderen Worten, es ist wirklich immer erst die Idee da und danach entscheidet sich: Wie setze ich sie um? Setze ich sie überhaupt um? Und erst ganz zum Schluss gucke ich mir das Etikett an.
Also es ist nicht ausgeschlossen, dass wir irgendwann nochmal Fantasy oder Science Fiction von dir lesen?
Ich würde gar nichts ausschließen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass mein nächstes Buch wieder ein Psychothriller ist, liegt bei 100 Prozent.
Hast du denn selbst irgendwelche Genres, die du gerne liest oder hörst oder bist du da auch querbeet unterwegs?
Nein, da bin ich querbeet unterwegs. Das reicht von Horror à la Stephen King über Romane von Donald Hart oder Tom Wolfe bis hin zu allem Möglichen, was es an alten Gruselgeschichten gibt: von Edgar Allan Poe bis zum klassischen Thriller – mittlerweile kann ich sie klassisch nennen –, wie die von Harlan Coben oder Michael Robertson. Auch deutsche Thriller, die man von Melanie Raabe oder Romy Hausmann kennt. Was immer noch auf Abruf steht ist „Total Recall“, die Biografie von Arnold Schwarzenegger, die mir mehrfach ans Herz gelegt wurde, zu der ich aber noch nicht gekommen bin.
Und hörst du tendenziell lieber oder liest du lieber?
Das ist abwechselnd: Ich bin der typische Auto-Hörer, weil ich oft im Auto sitze. Da kommt eine Menge Zeit zusammen. Ich habe ein kleines Baby und bin ein bisschen eingeschränkt, weswegen ich abends besser über Kopfhörer hören als lesen kann. Im Urlaub bin ich allerdings derjenige, der gerne ein Buch in den Händen hält. Am liebsten gebundene Bücher, weil ich mir einbilde, dass die, wenn ich am Strand liege, nicht so schnell kaputtgehen. Den Schutzumschlag lasse ich immer zu Hause. Urlaub habe ich jetzt aber auch lange nicht mehr machen können, so wie viele. Also, es ist vielleicht zurzeit ein kleiner Überhang, was das Hören anbelangt, aber das hält sich normalerweise die Waage.
"Der erste letzte Tag ist auch als Buch erhältlich, überall dort, wo es Bücher gibt.