“Low” bedeutet im Englischen “niedrig” oder “wenig” - und genau darum geht es bei Low Fantasy auch: Der Fantasy-Anteil dieser Geschichten ist schlicht und ergreifend nicht besonders hoch. Statt einer ausgeprägten magischen Welt mit komplexen Details oder vielfältigen übernatürlichen Wesen beschränkt sich dieses Genre auf das Nötigste: ein geradliniges Setting und einen rauen Helden mit viel Muskelkraft und fragwürdigen Beweggründen.
Die oft trashig aussehenden Buchcover älterer Low-Fantasy-Geschichten legen einen gewissen “Groschenroman”-Charakter dieser Literatur nahe - im englischen “pulp fiction” genannt. Die Vertreter des Genres deshalb zu belächeln oder als minderwertig zu betrachten, ist aber falsch: Das Genre hat trotz Vorurteilen und einiger Umwälzungen immer noch eine große Fangemeinde.
Die Abgrenzung zu anderen Literatur-Kategorien gestaltet sich dabei manchmal schwierig und die Übergänge zwischen Low und High Fantasy sind unscharf. Die Grenzen zu historischem Roman, Science-Fiction, Dark Fantasy und Magical Realism sind fließend.
Was also sind die Merkmale von Low Fantasy?
Low Fantasy: Das Setting
Low-Fantasy-Literatur spielt meist in einem historischen Setting in der realen Welt - oder in einer Welt, die stark an die Realität angelehnt ist. Man wähnt sich im alten Rom oder Griechenland, vielleicht auch bei den Angelsachsen oder Wikingern. Übernatürliche Elemente sind nur sparsam enthalten. Magie spielt eine geringe Rolle; sie ist auf wenige Bereiche oder Figuren beschränkt und gefährlich, wird mit Argwohn betrachtet oder als Waffe missbraucht.
Low Fantasy: Die Figuren
Menschliche Figuren dominieren. Fantastische Wesen kommen kaum vor oder sind sehr menschenähnlich, wie etwa böse Zauberer. Fantastische tierische Kreaturen gibt es ebenfalls nur wenige; ganz klassisch trifft man hier auf Drachen.
Die Helden sind keine Könige oder besondere Persönlichkeiten. Sie sind Normalos, oft sogar regelrechte Underdogs, die nicht von hehren Zielen, sondern von persönlichen Beweggründen getrieben werden. Rache ist ein häufiges Motiv. Oft sind sie sogar richtige Antihelden, die sich durchkämpfen müssen: Diebe, Betrüger, Schmuggler oder Söldner. Der klassische Low Fantasy Held ist männlich und mit robuster Physis gesegnet.
Die Bösewichte handeln aus niederen Beweggründen oder aus purem Materialismus. Sie bedienen sich gerne fantastischer Elemente als Mittel zum Erreichen ihrer Ziele: schwarze Magie, Werkzeuge oder Waffen mit magischen Eigenschaften.
Low Fantasy: Der Plot
Wie alles andere auch, ist der Plot in Low-Fantasy-Romanen nicht so komplex gestrickt wie in der High Fantasy. Es geht nicht darum, dass ein Held eine ganze Welt vor dem Bösen rettet. Es geht nicht um hohe moralische Ziele oder darum, sich für das Gute zu opfern. Low-Fantasy-Protagonisten sind egoistisch: Wir folgen einer Figur durch ihren persönlichen Überlebenskampf - oder auf einen Befreiungs- oder Rachefeldzug.
Diese Geschichten sind vom Umfang her weniger episch, fokussiert auf einen Handlungsstrang und eine Heldenfigur und dadurch gut geerdet. Das bedeutet nicht zwingend, dass die Handlung simpel ist oder ohne Anspruch, aber sie ist nicht von der ausufernden, sich oft auf mehreren Ebenen abspielenden Breite der High Fantasy.
Das gilt auch für Konflikte oder Kriege: Es geht nicht um den archetypischen Kampf zwischen Gut und Böse, sondern um Machtansprüche, um Territorien oder Ressourcen. Dabei gibt es Grauzonen; statt deutlicher Schwarz-Weiß-Einteilung der Motive und Figuren gibt es Zwischentöne und auch mal gute Figuren, die Dreck am Stecken haben.
Um zum Ziel zu gelangen, bedienen sich sowohl die Bösewichte als auch die Helden vor allem ihrer Körperkraft und brutalem Waffeneinsatz, gepaart mit List und Tücke. Klirrende Schwerter und harte Fäuste treffen auf Drachen und Zauberer. “Sword & Sorcery” nennt man denn auch das am stärksten vertretene Sub-Genre der Low Fantasy, das sich auch im Gaming-Bereich höchster Beliebtheit erfreut.
Low Fantasy von Conan bis Xena
Als Paradebeispiel des Low-Fantasy-Genres wird gerne “Conan” von Ron E. Howard benannt. Hier haben wir ihn: den einsamen Anti-Helden, der muskelbepackt und bewaffnet loszieht, um in einer altrömisch oder -griechisch anmutenden Welt heroische Abenteuer zu bestehen, in denen manchmal fantastische Wesen seinen Weg kreuzen. 1932 schuf Howard diese ritterliche, wenn auch grobschlächtige Figur für das “Weird Tales” Magazin. Der Erfolg war groß, ebenso wie der Kinofilm von 1982 mit Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle und die Neuverfilmung 2011 mit Jason Momoa. Eine ganze Reihe von Computerspielen drehen sich bis heute um Conan den Barbaren. Und dennoch konnte das neue Genre den Ruf als billige Pulp Fiction nie ganz abschütteln.
Als weitere klassische Vertreter der Low Fantasy werden H. P. Lovecraft und vor allem Michael Moorcock angesehen, dessen tragischer Held Eric von Melnibone 1961 ebenfalls in einer Zeitschrift das Licht der Welt erblickte.
Das Ende der Low Fantasy?
Als die Ära der Groschenromane zu Ende ging und stattdessen ab den 1960ern dem Fantasy-Roman Platz machte, triumphierte das Genre der High Fantasy à la J. R. R. Tolkien über die Low Fantasy. Conan und seine Nachfahren wurden vor allem auf die Leinwand und Bildschirme verbannt, wo sie - etwa in den Serien “Hercules” und “Xena” - neu interpretiert wurden. Durch Role Playing Games und Ego-Shooter ballern sich die hartgesottenen Einzelkämpfer bis heute.
Natürlich wurden die kriegerischen, klischeehaften Protagonisten im Laufe der Zeit auch kritisch hinterfragt und parodiert. Terry Pratchett nahm in seinen Scheibenwelt-Romanen “Die Farben der Magie” und “Das Licht der Phantasie” die Low-Fantasy-Tropes bissig auf die Schippe. In letzterem stolpert gar ein alt gewordener “Cohen” 87-jährig durch die Scheibenwelt. Mit dem Ruf nach Geschlechtergleichheit wurden die virilen Helden der Low Fantasy zum patriarchalen Anachronismus. Low Fantasy verschwand von der Bühne der fantastischen Literatur.
Totgesagte leben länger - Low Fantasy heute
Doch auch wenn es den Anschein hat, als hätten die kruden Helden der Low Fantasy jenseits der Bildschirme ausgedient - es gibt sie noch. Man muss nur genauer hinschauen: Heute verstecken sie sich in den vielen seither entstandenen Sub-Genres der Fantasy. Viele sind Grenzgänger, mischen Low-Fantasy-Elemente mit anderen Zutaten und landen in den Regalen unter historischer Fantasy, YA-Fantasy, Märchen-Fantasy oder Dark Fantasy.
So mixt die unter dem Pseudonym “Robin Hobb” schreibende Amerikanerin Margaret Astrid Lindholm Ogden in ihren Buchreihen gerne Historie mit Mythen und einem Hauch Fantasy. Dem “historischen Roman” zugeordnet, finden wir in den Regenwildnis-Chroniken den klassischen Underdog-Helden, der sich durch eine Geschichte mit magischem Touch kämpft.
Mac P. Lorne’s Robin-Hood-Reihe trägt ebenfalls erkennbare Züge der Low Fantasy. Zum einen fest in der englischen Geschichte angesiedelt, ist der Protagonist dennoch eine halb mythologische Figur. Nobler als der klassische Low-Fantasy-Antiheld zwar, aber ebenso einer, der sich aus dem Dreck nach oben kämpft und insgeheim auf Rache sinnt. Fantastische Elemente kommen im Laufe der Reihe ebenfalls ins Spiel.
Ähnliches gilt auch für den deutschen Autor Kai Meyer. Ein bisschen Tausendundeine Nacht, ein bisschen keckes Schmuggler-Abenteuer, lässt Meyer in der Sturmkönige-Reihe einen listigen jungen Mann im Morgenland gegen die bösen Dschinn kämpfen. Ist das jetzt Märchen-Fantasy oder moderne Low Fantasy? Darüber kann man sich streiten.
Anhänger der Dark Fantasy kennen das Motiv der moralisch fragwürdigen, von Rachedurst getriebenen Hauptfigur gut aus Jay Kristoffs Nevernight-Trilogie. Zwar siedelt der Autor seine Geschichte in einer ausgiebig beschriebenen Fantasiewelt an; diese ist jedoch stark an das alte Rom angelehnt. Die junge, zur Mörderin ausgebildete Mia metzelt sich mit äußerster Brutalität durch eine alles andere als zimperlich geschriebene Geschichte. Hier haben wir eine klassische Low-Fantasy-Heldin, verpflanzt in ein komplexeres Dark-Fantasy-Gefüge.
Wenn es um Drachen – die traditionellste Kreatur der Low Fantasy – geht, braucht man nur zu Markus Heitz zu schauen. Seine Buchserie Die Drachen ist fest im Europa der 1920er Jahre verankert, in dem die Menschen sich allerdings gegen die geschuppten Herrscher zur Wehr setzen.
Stark an ein Rollenspiel erinnert Die Stunde der Helden von Jörg Benne. Ein Antiheld - ein Lügengeschichten auftischender Barde - schließt sich in einer nordisch-mittelalterlich anmutenden Welt einer Gruppe von Söldnern an. Es geht ruppig, abenteuerlich und mitunter fragwürdig zu in dieser Truppe. RPG-Fans dürften sich ganz zuhause fühlen.
Bernhard Cornwell, eine der Säulen des historischen Kämpfer-Romans, hat mit seiner Reihe Die Bücher vom heiligen Gral ebenfalls eine Trilogie geschrieben, die an der Low Fantasy kratzt. Ein deftiges historisches Setting, Testosteron-getränkte Krieger und brutale Kampfszenen sind typische Elemente. Und wenn man die Legende vom Heiligen Gral als Fantasy-Zutat betrachtet, haben wir das übernatürliche Element, das gefehlt hat.
Low Fantasy: Nicht totzukriegen
Wie man sieht, wird der Low Fantasy Unrecht getan. Einst hochgradig beliebt als Ausgeburt der Pulp-Fiction-Ära, etablierte dieses schroffe und zwielichtige Genre Heldentypen und Elemente, an denen der Zahn der Zeit und die High Fantasy vielleicht genagt haben – doch ganz ausgerottet wurde sie nie. Reine Low-Fantasy-Romane sind im Hier und Jetzt schwer zu finden, doch Elemente davon würzen auf vielfältige Art und Weise die unterschiedlichsten Fantasy-Sub-Genres. Am sichtbarsten in visuellen Formaten, fristet die Low Fantasy in der Literatur allerdings ein Schattendasein.
Die Bezeichnung “Low Fantasy” dürfte dazu beigetragen haben. Denn seien wir mal ehrlich: Gerade in Zeiten wie heute, wo in sich zerrissene Marvel-Helden die Kinos füllen und historische Romane mit kernigen Kriegern oder YA-Fantasy mit ausgebufften Femmes Fatales die Bestsellerlisten füllen, war Low Fantasy eigentlich nie weg vom Fenster - wir nennen sie nur nicht beim (ungeliebten) Namen.
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