Ihr aktuelles Werk „Mitte“ – ein Spin-off der Gereon-Rath-Reihe – ist eigentlich ein illustriertes Buch. Es funktioniert aber als Hörbuch wunderbar, da es ein Briefroman ist. Was hat Sie an dieser etwas altmodischen Form gereizt?
„Mitte“ ist nach „Moabit“ das zweite Buch, das ich zusammen mit der Illustratorin Kat Menschik gemacht habe. Dass es eine Brieferzählung geworden ist, liegt an der Situation meiner Hauptfigur Fritze. Er ist abgetaucht und lebt unter falschem Namen in der Vier-Millionen-Stadt Berlin. Das geht recht gut. Er darf nur niemandem begegnen, den er von früher kennt. Darum vereinsamt der arme Junge ziemlich. Aus dieser Einsamkeit heraus schreibt er Briefe an seine ehemalige Pflegemutter Charly und an seine Schicksalsfreundin Hannah. Die Brieferzählung stellt dieses Alleinsein gut dar. Aus diesem Grund fehlen im Buch auch die Antworten von Charly und Hanna. Neben Fritzes Briefen gibt es nur noch Behördenschreiben, die das Ganze einrahmen. Ich finde es sehr passend, dass diese Briefe im Hörbuch mit Schreibmaschinengeklapper unterlegt sind.
Fritze wird im Verlauf der Gereon-Rath-Romane immer mehr zur dritten Hauptfigur, jetzt haben Sie ihm mit „Mitte“ sogar ein eigenes Buch gewidmet. Warum?
Das stimmt und war tatsächlich so nicht geplant. Fritze taucht in „Märzgefallene“ erstmals auf. Damit hatte ich eine Figur, die eine Kinderrolle für das kinderlose Paar Rath einnehmen konnte. Immer wichtiger geworden ist er, weil er mir gefällt. Als Straßenjunge und ehemaliges Heimkind hat er viel Tragisches erlebt. Er wird HJ-Mitglied und ist anfangs durchaus ein begeisterter Nazi. Erst langsam kommt er dahinter, dass das Dritte Reich eine verlogene Angelegenheit ist. Dieses Schwanken zeigt sich in „Mitte“, aber auch schon in „Marlow“, wo er am Reichsparteitag teilnimmt. In „Olympia“ wird er im olympischen Dorf in Berlin zum Außenseiter, weil er die schwarzen Athleten toll findet. Mit der Rassenideologie der Nazis kann Fritze nichts anfangen. Er ist ja auch in Hannah verliebt, die Jüdin ist.
Fritze erscheint vermutlich vielen Hörenden als sehr naiv. Haben Sie diese Figur bewusst erdacht, um zu zeigen, wie blauäugig viele Menschen auf den zweiten Weltkrieg zugesteuert sind?
Es geht mir vor allem darum, die junge Generation dieser Zeit zu zeigen. Wer mit 15 die Gehirnwäsche in der HJ erlebt hat, ist auf eine ganz andere Weise verführbar als ein Gereon Rath oder eine Charlotte Ritter. Als Kind will man dazugehören. Darum setzt Fritze gegen Charlys Willen durch, dass er in die HJ darf. Er fühlt sich dort aufgehoben. Seine Verführbarkeit hat mit mangelnder Lebenserfahrung zu tun. Es gibt weitere naive Figuren in meinen Büchern, etwa Charlys Mutter Luise, die sich von den Lügen der Nazis einlullen lässt. Dann gibt es idealistische Nazis wie Reinhold Gräf, der Patriot und Nationalist ist und sich für die Ideologie begeistert. Diese unterschiedlichen Geisteshaltungen will ich in meinen Büchern zeigen. Nicht unbedingt exemplarisch, aber doch an verschiedenen Figuren.
Wie recherchieren Sie für Ihre Romane?
Angefangen habe ich mit den Romanen der neuen Sachlichkeit – Kästner, Döblin, Keun, Fallada, die ich alle noch einmal gelesen und dabei notiert habe, wie dort die damalige Welt beschrieben wird. Dann lese ich natürlich Geschichtsbücher, habe mir im Antiquariat alte Adressbücher besorgt, alte Stadtpläne, Speisekarten, Fahrpläne, Fotos, Filme. Ich nehme alles, was ich kriegen kann. Am Ende der Vorrecherche eines jeden Romans steht aber der Besuch in der Zeitungsabteilung der Staatsbibibliothek. Die Tageszeitzungen von damals sind die besten Zeitmaschinen. Wenn möglich, gehe ich auch an die Originalschauplätze. Für „Olympia“ war ich im olympischen Dorf, dort findet man noch eine Menge Spuren. Die Sporthalle, der Sportplatz, das Speisehaus. Die sinnliche Wahrnehmung vor Ort ist für die Fantasie sehr hilfreich.
Die meisten Rezensenten waren sich einig, dass Olympia Ihr bisher bester Roman war. Da entsteht ein gewisser Erwartungsdruck. Wie gehen Sie damit um?
Den Druck gab es schon immer. Wenn man eine Serie schreibt, möchte man ja nicht schlechter werden. Ich sehe das als Verpflichtung, mir Mühe zu geben.
Ihre Romane werden immer düsterer, wie die Zeit, in der sie spielen. Hat Ihre intensive Beschäftigung mit dem aufkommenden Nationalsozialismus Ihren Blick auf die heutige Welt verändert?
Eigentlich haben die aktuellen Entwicklungen meinen Blick auf die heutige Welt verändert. Was mich überrascht, ist, dass Rechtspopulismus und Rechtsextremismus wieder salonfähig geworden sind. Die Leute merken nicht, dass da wieder Nazi-Vokabular auftaucht. Diese Tendenzen gefährdet die offene Gesellschaft, die Demokratie, die Pressefreiheit, den Rechtsstaat. Daran wird zunehmend gesägt, nicht nur von rechts. Es bereitet mir Sorgen, dass die seriöse Presse als „Mainstream-Medien“ verunglimpft wird. Die Grundlage dessen, was als Fakten anerkannt wird, bricht immer mehr weg. Das kann man besonders während der Corona-Pandemie gut beobachten: Verschwörungstheorien breiten sich viel stärker aus, als ich das für möglich gehalten hätte. Das führt zu einer Spaltung der Gesellschaft in zwei Lager, die nicht mehr miteinander reden können. Und das ist eine Entwicklung, die unsere Demokratie bedroht. Für die ist der Streit und die Debatte essentiell, die ist aber nur auf der Grundlage allgemein anerkannter Fakten sinnvoll.
Für viele Lesende und Hörende dürfte Gereon Rath das Gesicht von Volker Bruch haben, der in der Serie „Babylon Berlin“ die Hauptrolle spielt. Bruch hat mit den „Querdenkern“ demonstriert und einen Antrag auf Aufnahme in die Partei „Die Basis“ gestellt. Ist das bitter für Sie?
Ich habe darüber nicht mit ihm gesprochen. Deswegen enthalte ich mich eines öffentlichen Urteils. Ich persönlich würde dieser Partei nicht beitreten und fand auch die Aktionen nicht besonders geglückt, bei denen er dabei war.
So schön „Mitte“ ist, Ihre Fans warten sehnsüchtig auf den neunten Rath-Roman. Geben Sie unseren Lesern ein paar kleine Hinweise?
Aktuell bin ich noch viel auf Reisen, um die Lesungen nachzuholen, die wegen Corona verschoben werden mussten, aber bald werde ich schreiben, der Roman soll schließlich im November 2022 erscheinen. Ich weiß selbst noch nicht genau, wo die Reise hingeht, aber Charly wird definitiv eine größere Rolle spielen als bisher. Ich habe grobe Ideen und ein relativ genaues Setting für den Anfang, ein auslösendes Ereignis. Dazu einige Ideen, wie ich die offenen Fäden aus den letzten Romanen wieder aufnehme. Aber was dann wirklich passiert, entscheidet sich erst beim Schreiben. Die erste Hälfte des Buchs wird im April, Mai 1937 spielen, die zweite im September.
Zwischen den Romanen besteht ein enges Geflecht. Entstehen diese Querverbindungen beim Schreiben?
Sie entstehen im Kopf. Ich begleite meine Figuren und schaue, was die Zeitumstände mit ihnen machen. So werde ich es auch mit den beiden letzten Bänden der Reihe halten. Allein die historischen Ereignisse sind gesetzt. Der Endpunkt der Rath-Reihe werden die Novemberpogrome sein, damit hatte Deutschland den Bruch mit der Zivilisation endgültig vollzogen. Die Morde in jener Nacht waren der erste Schritt zur Shoa. Der Weg in Richtung Krieg und Holocaust waren im November 1938 vorgezeichnet, es gab kein Zurück mehr. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar war, dass es eine solche industriell geplante Massenermordung geben würde.
Haben Sie eine Schreibroutine?
Ja, ich schließe mich ein. Ich gehe in Schreibklausur und mache in dieser Zeit nichts anderes als Schreiben, Schlafen und Essen. Ich habe dann so gut wie kein soziales Leben mehr. Man fühlt sich dabei zwar ein bisschen wie im Straflager, aber dafür schafft man eine Menge und ist sehr konzentriert im Stoff. Ich glaube, die Romane werden dadurch auch dichter.
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