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Die goldenen Zwanziger: Hunger nach Leben

Die goldenen Zwanziger: Hunger nach Leben

Während die wichtigsten Künstler der Zeit wie Max Liebermann, Otto Dix und Bertolt Brecht im Romanischen Café am Kurfürstendamm Kaffee schlürften und die Neue Sachlichkeit diskutierten, grassierten anderswo in Berlin Hungersnot und Armut, machten sich noch deutlich die Auswirkungen des Krieges und der Inflation bemerkbar.

Beide hatten die Gesellschaft tief gespaltet: Während Arbeiterfamilien oft am Existenzminimum lebten, blühte die Kunst- und Kulturszene regelrecht auf. Extravagante Hobbys wie Spritztouren mit motorisierten Fahrzeugen, nächtelanges Schwofen in schlecht beleuchteten Clubs und das Sammeln neuartiger Kunst wurden von denen gepflegt, die es sich leisten konnten. Es schien beinahe, als wären alle Mittel recht, um die Grauen der Kriegs- und der Nachkriegsjahre endgültig zu verjagen. Das Motto der Zeit, es hätte fast das der Generation Z sein können: YOLO.

Die neue Frau der 1920er Jahre

Aus einer ökonomischen Notwendigkeit heraus hatte sich auch das Frauenbild geändert: Vorbei waren die Zeiten, als die Rolle der Frau sich auf den Haushalt beschränkte. Viele pflegten jahrelang ihre invaliden Männer, Söhne und Väter und mussten sich eigenständig um den Lebensunterhalt kümmern. Bislang waren Frauen vor allem in der Landwirtschaft und in Haushalten der höheren Klassen tätig, doch die goldenen Zwanziger sahen das Emporstreben einer ganz neuen Berufsklasse: der des Bürofräuleins. Die fortschreitende Technik ermöglichte immer neue Formen der Kommunikation und schuf Stellen wie die der Telefonistin oder der Stenotypistin.

Diese neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten brachten den Typus der „Neuen Frau“ hervor – ein Ideal, das die Unschuld vom Lande dazu brachte, ihre provinzielle Heimat hinter sich zu lassen und nach Berlin zu kommen, mit damals mehr als drei Millionen Einwohnern die schillerndste aller deutschen Städte. In Berlin trug frau Bubikopf, rauchte, tanzte Charleston, fuhr noch rasanter im Automobil über den Kurfürstendamm als die Männer, war stets top gepflegt mit Wasserwelle und feuerrotem Lippenstift und gönnte sich im Kaufhaus des Westens gerne ein Blubberwasser.

Das Problem: So fortschrittlich die Jobs seinerzeit waren, so rückständig war die Bezahlung. In akademischen oder gar freien Berufen waren Frauen nur selten anzutreffen und mit ihren Bürojobs verdienten sie wesentlich weniger als die Männer – noch so eine Parallele zum heutigen Berlin, in dem der sogenannte Gender Pay Gap immerhin bei etwa 13 Prozent liegt.

Doch das Bild der modernen „Neuen Frau“ aufrecht zu erhalten, kostete Geld: Für eine Dauerwelle (zum Legen der perfekten Wasserwelle unerlässlich!) verlangten Friseure um die fünf Reichsmark – der durchschnittliche Wochenlohn eines Bürofräuleins lag bei 30 Reichsmark. Ins Aussehen zu investieren, lohnte sich jedoch, denn so ließ sich „der Aktuelle“, der Kavalier der Stunde, bei Laune halten. Diese Männer zahlten großzügig Blubberwasser, neue Kleider und den Haarschnitt – natürlich nicht ohne Hintergedanken.

Sexuelle Freiheit setzte sich durch

Denn mit der neuen Freiheit ging auch die sexuelle Selbstbestimmtheit der Frau einher. Und das spiegelte sich in der Zahl illegaler Abtreibungen wider: In Ermangelung an Verhütungsmitteln lag diese in der Weimarer Republik jährlich bei einer Million Fällen. Zum Vergleich: Im Jahr 2018 wurden deutschlandweit knapp über 101.000 Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt.

Die Selbstbestimmtheit der Frau schlug sich auch anderweitig nieder: Vorbei waren die Zeiten, in denen sie Taille und Brüste in enge Korsetts schnürte, um sie möglichst vorteilhaft in Szene zu setzen. So wie die Boyfriend-Jeans vor nicht allzu langer Zeit ihren engen Verwandten ablöste, so ersetzten bequeme, weite Sachen aus fließenden Stoffen die unbequemen Miederwaren. Die „Neue Sachlichkeit“ breitete sich auch in der Modewelt aus: Frauen hatten keine Verwendung mehr für Kleider, die vor allem formen und bedecken sollten.

Jetzt war Bewegungsfreiheit gefragt, zum Beispiel, um eines der allseits beliebten Motorräder fahren zu können. Abends wich die praktische, aber schlicht gehaltene Alltagskleidung mondänen Kreationen, üppig verziert mit Pailletten, Perlen, Federn und allerlei anderem Zierrat. Nur die weit geschnittene Passform, die durfte bleiben – immerhin konnte frau dank locker sitzender Röcke nächtelang das Tanzbein schwingen.

Damals ein absolutes Phänomen: eigens für Frauen entwickelte Sportmode, also Ski- und Reithosen, die die bis dahin so konsequent getragenen Röcke ersetzten. Die Geburtsstunde dessen, was uns heute als „Athleisure“ längst nicht mehr nur beim Yoga begegnet.
Dass die Französinnen zu den bestgekleideten Frauen gehören, war auch in den goldenen 1920ern kein Geheimnis.

Der sogenannte Garçonne-Stil, der sich durch seine markante Männlichkeit auszeichnet, war damals absolut en vogue. Er ging noch einen Schritt weiter als die Unisex-Mode, mit der Phoebe Philo für Céline für Furore sorgte. Vielmehr war er ein Vorreiter für das, was Elsie Fisher und Co. 2019 auf dem roten Teppich der Oscars trugen: Hose, Hemd mit Manschettenknöpfen, Fliege, Sakko.

Von Josephine Baker und Claire Waldoff

Zum Glück gab es für Frauen reichlich Gelegenheit, ihre modischen Errungenschaften zur Schau zu stellen. Clubs und Bars waren nicht mehr den Männern vorbehalten, auch Frauen nahmen aktiv am Nachtleben teil – und das eben nicht nur als sich auf der Bühne räkelnde Schönheit, die von Männern angestarrt wird. Bei Shows von Avantgarde-Tänzerinnen wie Josephine Baker und Anita Berber gehörten Frauen in den goldenen 1920ern ebenso zum begeisterten Publikum wie Männer. Mehr als 150 Damenbars gab es in Berlin, nur für lesbische Frauen. Die Kabarettistin Claire Waldoff trat, stets begleitet von ihrer Lebensgefährtin Olga von Roeder, in Kneipen und Clubs mit dem Lied „Raus mit den Männern aus dem Reichstag“ auf.

Bis die erste Frau an der Spitze der Regierung steht, sollten jedoch noch einige Jahrzehnte vergehen. Jahrzehnte, in denen die Emanzipation der Frau, die in den goldenen 1920ern so hoffnungsvolle Anfänge nahm, nicht nur ein jähes Ende fand, sondern sogar Rückfälle erlebte. Mit der Weltwirtschaftskrise im Jahre 1929 war der Spaß im wahrsten Sinne des Wortes vorbei, weg das Geld für Wasserwellen und Blubberwasser. Seitdem hat es kein anderes Jahrzehnt geschafft, so sehr zum Sinnbild für ausschweifende Exzesse, Glamour, Opulenz und Tabubrüche zu werden. Kaum ein anderes wird so verklärt und so gefeiert. Vielleicht liegt es an der Kürze der „années folles“, dem krassen Kontrast zu den Jahren davor und erst recht denen danach. Eines ist jedenfalls klar: Nicht alles was glänzt, war und ist auch wirklich Gold.

Wer mehr über die 1920er wissen möchte, dem empfehlen wir unsere Artikel über die besten Romane der 1920er Jahre und Zurück in die goldenen Zwanziger. Unbedingt vorbestellen: Die juten Sitten!

Die juten Sitten

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