Nach Berlin! Wer im ausgehenden 19. Jahrhundert etwas werden will, der packt seine Sachen und zieht in die modernsten und am schnellsten wachsende Metropole Europas. Denn hier ist die Zukunft, hier spielt die Musik:
"Ich sah Berlin, und es machte den gewaltigsten Eindruck auf mich. Zum ersten Mal empfand ich Rhythmus, Rausch und Wogengärung der großen Stadt. Die Wirkung war sinnbetäubend und fortreißend. Man wurde nicht müde, man redete laut, man war immerwährend aufgepeitscht."
Gerhart Hauptmann, „Das Abenteuer meiner Jugend“
Glanz und Gloria allerdings sind dem Adel und dem gehobenen Bürgertum vorbehalten. Die Arbeiter malochen – und wollen sich in ihrer knappen Freizeit amüsieren. Kabaretts, Tanzlokale und Bordelle schießen wie Pilze aus dem Boden. Zwar ist Prostitution unter Kaiser Wilhelm II. offiziell verboten. Tatsächlich aber lassen die prekären Lebensumstände, fehlende Sozialeinrichtungen und eine brutale Doppelmoral vielen Frauen (und einigen Männern) keine andere Wahl. So gelten etwa Dienstmädchen, die von ihren Dienstherren geschwängert werden, als „gefallene Mädchen“, die niemand mehr anstellt.
Mittendrin: die Mulackritze
Das Scheunenviertel, gerade mal drei Kilometer vom Prachtboulevard „Unter den Linden“ entfernt, gilt als verruchteste aller verruchten Gegenden. Die Gassen sind so eng und feucht, dass Kaiser Wilhelm das ganze Viertel am liebsten abreißen würde. Hier stranden Juden aus Russland, Polen und Rumänien, die vor Verfolgung und Pogromen geflohen sind. Zusammen mit Straßendirnen, Hausierern, Kriminellen und (Überlebens-)Künstlern bilden sie ein einzigartiges „Milljöh“.
Mittendrin, in der heute so schicken Mulackstraße: „Sodtkes Restaurant“, besser bekannt als „Mulackritze“. Eine Arbeiterkneipe, zugleich Treffpunkt von Lesben, Schwulen, Transvestiten und Künstlern. In der Ritze wird gehurt, gesoffen und geprügelt. Der Karikaturist Heinrich Zille sitzt an der Bar, hält die deftigen Szenen mit spitzem Stift fest und sammelt Material für sein Theaterstück „Die Hurengespräche“. Seine kleine Tochter schaukelt so lange auf dem Schoß einer Bordsteinschwalbe. Im Halbstundentakt verschwinden die Mädchen mit ihren Kunden in die Dachkammer – genau, wie es Anna Basener in „Die Juten Sitten“ beschreibt.
Doch auch Künstler gehen in der Ritze ein und aus: Claire Waldoff, Bertolt Brecht, Gustaf Gründgens. Etwas später, in den 20er Jahren, trinkt die noch unbekannte Marlene Dietrich hier ihre Molle. Ganoven wie Adolf Leib („Muskel-Adolf“) und seine schweren Jungs halten hier ihre „Vereinssitzungen“ ab.
"Oben in der Dachkammer praktizierte man auf Wunsch ‚Liebe und Hiebe‘, SM-Sex, mit Peitsche oder Rohrstock auf entsprechenden Böcken. Hier konnte, in Abwandlung des geflügelten Wortes Friedrichs des Großen, jeder nach seiner sexuellen Façon selig werden, und diese Freizügigkeit reizte offensichtlich den wackeren Forscher Magnus Hirschfeld."
Charlotte von Mahlsdorf
Das schrieb Charlotte von Mahlsdorf, Berlins berühmtester Transvestit, über die Mulackritze. Ihr ist es zu verdanken, dass die gesamte Inneneinrichtung der Kneipe bis heute bewundert werden kann, obwohl das Haus 1964 abgerissen wurde: Als letzte Berliner Kneipe der Kaiserzeit steht die Bar samt Hurenzimmer bis heute im Gründerzeit-Museum. An der Wand ein Schild, dessen Inhalt genauso wenig ernst genommen wurde, wie die Rechtschreibung: „Protistuierten ist der Eintritt in dieses Lokal verboten.“
Natürlich hat Charlotte von Mahlsdorf, geboren 1928, diese Szenen nicht miterlebt. Minna Mahlich hat sie ihr geschildert, die legendäre letzte Wirtin der Mulackritze. Resolut, mit Herz und Kodderschnautze – so, wie Anna Basener sie in „Die Juten Sitten“ darstellt, war sie wohl wirklich. Darüber hinaus hat sich die Autorin einige dichterische Freiheiten erlaubt: Die echte Minna wurde 1901 geboren. Zu dieser Zeit ist Anna Baseners Protagonistin schon eine junge Frau. Und die hat es faustdick hinter den Ohren.
Die Kotze-Affäre: Sexskandal im Jagdschloss Grunewald
Diese fiktive Minna schliddert also als blutjunges Ding in einen der deftigsten realen Skandale hinein, die je ein Kaiserhaus erschütterten: die Kotze-Affäre. Benannt wurde sie nach dem kaiserlichen Zeremonienmeister Leberecht von Kotze. Der organisierte im Jahr 1891 eine Orgie für die Hautevolee des Landes. Geladen waren unter anderem Friedrich Karl von Hessen, Charlotte von Preußen – Schwester des Kaisers – und Charlotte von der Decken, Gattin des Grafen Friedrich von Hohenau. Man amüsierte sich prächtig beim Gelage mit anschließendem Gruppensex. Am nächsten Tag kam das böse Erwachen: Alle Teilnehmer erhielten Briefe, die die abendlichen Vergnügungen detailfreudig schilderten, illustriert mit obszönen Zeichnungen. Schon bald bekam die Presse Wind von dem Skandal. Der gute Ruf der Hohenzollern – er war endgültig dahin.
Frauenarmut und Prostitution zur Kaiserzeit
Die lockere Sexualmoral der Zeit verband Adlige und Arbeiter. Wobei letztere – und hier insbesondere die Frauen – kaum eine andere Wahl hatten. Prostitution war für Frauen der unteren Gesellschaftsschicht oft die einzige Möglichkeit, das mickrige Einkommen als Dienstmädchen, Näherin oder Wäscherin aufzustocken. Etwas besser bezahlt war die Arbeit in den Fabriken. Frauen, die Kinder hatten (und sie womöglich noch allein großziehen musste), blieb nur die Heimarbeit. Die aber wurde so schlecht entlohnt, dass es nicht mal für Miete und Essen reichte.
Mädchen, die in einem bürgerlichen Haushalt angestellt war, hatten noch miesere Karten. Selbst gerade einmal 14, 15 Jahre alt, kamen sie in Heerscharen vom Land in die Großstadt, um sich als „Mädchen für alles“ zu verdingen. In den Villen der neureichen Fabrikanten und Kaufmannsfamilien schufteten sie vom Morgengrauen bis in die Nacht. Die Herrschaft konnte nach Belieben über ihr Dienstpersonal verfügen – und tat dies in der Regel auch. Sexuelle Übergriffe durch den Hausherren und seine pubertierenden Söhne waren an der Tagesordnung.
War ein Mädchen so unvorsichtig, schwanger zu werden, wurde sie fristlos entlassen. Nun konnte sie entweder bei einer illegalen Abtreibung ihr Leben riskieren, ihr Kind im Waisenhaus abgeben oder es allein großziehen. Diese verzweifelten jungen Frauen waren für Kupplerinnen und Zuhälter leichte Beute. So explodierte die Zahl der Prostituierten. Im gleichen Maße breiteten sich Geschlechtskrankheiten wie die Syphilis aus. Und der Alkoholismus: Nicht nur, weil die Frauen versuchten, sich ihre erbärmliche Lage schönzutrinken. Sondern auch, weil sie von ausbeuterischen Bordellbesitzern zum Saufen genötigt wurden – um sie gefügig und abhängig zu machen.
Kurz: Das Problem der Frauenarmut war zu groß geworden, um es länger zu ignorieren. Soziale Fragen sorgten in den Jahren rund um die Jahrhundertwende für enormen politischen Sprengstoff. Immer mehr Frauen begannen, sich gegen ihre Bevormundung, Diskriminierung und Ausbeutung zu wehren. Sie organisierten sich, forderten liberalere Sexualgesetze, das Recht auf Abtreibung, Verhütung, Bildung, soziale Absicherung und politische Teilhabe. Die Frauenbewegung – im Berlin der Kaiserzeit kommt sie ins Rollen. Und ist bald nicht mehr aufzuhalten.
Radikaler Rollenwandel: Frauen in den 20er Jahren