Space Is the Place. Unter dieses Motto stellte in den 1970ern der afroamerikanische Jazzmusiker, Poet und Künstler Sun Ra sein Schaffen. Für ihn und andere Afrofuturisten ging es aber nicht darum, den Weltraum zu erobern. Vielmehr wollten sie auf unterschiedliche Weise ihrer Erfahrung Ausdruck verleihen, Aliens in einer weißen Gesellschaft zu sein. In dieser Tradition verbindet der Afrofuturismus traditionelle afrikanische Motive und Mythen mit Fantasy und Science-Fiction – und greift dabei Themen wie Sklaverei und Diskriminierung auf.
Zum Verständnis: Mit Bezug auf Rassismus-Expertin Tupoka Ogette verwenden wir den Begriff „weiß“ im Folgenden als eine politische Bezeichnung, die nicht auf der wörtlichen Farbe Weiß basiert, sondern auf der Zuschreibung von Privilegien, die historisch in einem System sozialer Ungleichheiten gewachsen sind. Diese Definition schließt Personen ein, die in einer Gesellschaft leben, in der ihnen aufgrund dieser Zuschreibung Vorteile und eine bestimmte Machtposition zuteilwerden, oft ohne eigenes Zutun und häufig ohne dies bewusst wahrzunehmen.
Der Begriff „Schwarz“ bezeichnet weder das Adjektiv oder die Farbe Schwarz noch bezieht er sich auf die tatsächliche Hautfarbe von Menschen. Es ist eine politische Selbstbezeichnung für Menschen, die Erfahrungen mit Rassismus gemacht haben und auf eine lange Geschichte des Widerstandes gegen diesen Rassismus zurückblicken können.
Was ist Afrofuturismus?
Oft werden Geschichten über Afrika aus der Perspektive Weißer erzählt. Doch seit Mitte des 20. Jahrhunderts werden die literarischen Stimmen von Menschen mit afrikanischen Wurzeln immer deutlicher vernehmbar. Sie nutzen die Genres Science-Fiction und Fantasy auf neue Weise und thematisieren dabei den düstersten Teil ihrer Geschichte: Sklaverei und Unterdrückung. Zugleich greifen sie auf Motive aus den Mythen und Traditionen der afrikanischen und afroamerikanischen Kultur zurück.
Bekannte Erzählungen über Afrika aus weißer Perspektive
Afrikanische Stimmen wurden über Jahrhunderte hinweg gesilenced. Das bedeutet: Unter anderem im öffentlichen Raum und in der Kultur wurde ihnen kein Raum zugestanden. Aus diesem Grund stammen die bekanntesten Erzählungen über den afrikanischen Kontinent von weißen Menschen.
Die bekanntesten Erzählungen über den afrikanischen Kontinent stammen von weißen Stimmen. Die dänische Autorin Tania Blixen schildert in „Jenseits von Afrika“ die Natur und die Ureinwohner Ostafrikas aus der Sicht weißer Farmer. In „Zurück aus Afrika“ beschreibt die Schweizerin Corinne Hofmann ihre Rückkehr aus Kenia, wo sie als Weiße mehrere Jahre unter den Massai lebte. Und in „Ach, Afrika: Berichte aus dem Inneren eines Kontinents“ erzählt der Afrika-Kenner Bartholomäus Grill von einer Welt voller Widersprüche.
Doch seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird die Stimme des Afrofuturismus immer lauter. In diesem Genre ergreifen schwarze Menschen selbst das Wort und verbinden Traditionen mit Zukunftsvisionen. Da werden die Möglichkeiten von Gentechnik vor dem Hintergrund traditioneller Dorfstrukturen erzählt. Und von afrikanischen Mythen inspirierte Halbgötter liefern sich den letzten Showdown auf einer Plantage in den Südstaaten, wo noch Sklaven schuften.
Ein neues Genre findet seine Stimme: Was hinter dem Afrofuturismus steckt
Den Begriff des Afrofuturismus hat unter anderem der amerikanische Kulturkritiker Mark Dery geprägt. In seinem Essay „Black to the Future“ bemerkte er, dass es nur wenige afroamerikanische Sci-Fi gibt. Umso verwunderlicher, da das Leben als Afroamerikaner in den USA bereits eine Art erfahrene Science-Fiction sei, wie der Musiker und Schriftsteller Greg Tate es einmal formulierte. Auch andere schwarze Kunstschaffende beschrieben sich metaphorisch als „Aliens“ – also als Fremde oder Außenseiterinnen und Außenseiter – in einer überwiegend weißen Gesellschaft, um Erfahrungen der Entfremdung und Isolation auszudrücken.
Wie die Autorin und Wissenschaftlerin Ytasha L. Womack im Hörbuch Afrofuturism: The World of Black Sci-Fi and Fantasy Culture beschreibt, ist Afrofuturismus eine Kunstgattung, die Fantasie, Technologie, Kultur, die Befreiung von Unterdrückung und Sklaverei sowie Mystizismus miteinander verknüpft. Dabei werden die Zukunft und alternative Realitäten durch die Brille von People of Color aus Afrika und in der afrikanischen Diaspora betrachtet. Afrofuturismus wirkt sich auch auf Musik, bildende Kunst und Tanz aus. Laut Ytasha L. Womack ermöglicht er so Selbstbefreiung und Heilung.
Für den Afrofuturismus prägend war der US-amerikanische Jazzmusiker, Künstler und Poet Sun Ra. In der Chicagoer South Side kreierte der Afroamerikaner mit dem Ensemble Arkestra einen völlig neuen Musikstil. In Stücken wie „Space is the place“, „Calling Planet Earth“ oder „Satellites are spinning“ griff der visionäre Künstler futuristische Motive auf. Seine exotischen Kostüme verbanden Elemente des alten Ägypten mit der Raumfahrt, die Ende der 1950er noch eine Zukunftsvision war. Den Saturn bezeichnete er als seinen Heimatplaneten, mit seinen Songs nahm er die Fangemeinde mit ins Weltall. Dabei verband er afrikanische Rhythmen mit Free Jazz.
Heute gilt der exzentrische Musiker, der die Popkultur nachhaltig beeinflusste, als einer der Begründer des Afrofuturismus. Als einer der ersten verband Sun Ra die mythische Vergangenheit des afrikanischen Kontinents mit der Zukunftsvision einer modernen Welt, die von People of Color geprägt ist. Im exklusiv auf Audible erhältlichen Hörbuch A Pure Solar World: Sun Ra and the Birth of Afrofuturism schildert Paul Youngquist Sun Ras Werdegang und die Geburt des Afrofuturismus.
Wer sich anhand von Kurzgeschichten einen Eindruck von afrofuturistischem Erzählen verschaffen möchte, wird bei "Bloodchild and Other Stories" fündig. Autorin Octavia E. Butler wurde dafür mit dem Nebula Award und dem Hugo ausgezeichnet. Einen guten Einstieg ins Genre bietet außerdem die Sammlung "New Suns: Original Speculative Fiction by People of Color", in der neben etablierten literarischen Stimmen wie Rebecca Roanhorse auch Newcomer zu Wort kommen.
Afrikanische Motive, Mythen und Magie
In vielen Werken von Afrofuturisten klingen traditionelle Mythen und Gleichnisse an, die tief in der afrikanischen Kultur verwurzelt sind. Das Hörbuch Wilde Saat von Octavia E. Butler erzählt, wie es dem Unsterblichen Doro meisterhaft gelingt, menschliche Körper zu übernehmen und sich so dem Tod zu entziehen. Seit Jahrtausenden greift der Halbgott immer wieder in die Geschicke eines kleinen afrikanischen Dorfes ein. Er bestimmt, wer mit wem Kinder zeugen darf, um den perfekten Menschen zu schaffen.
Als eines Tages Sklavenhändler sein Dorf verwüsten und seine Kinder mitnehmen, folgt ihnen Doro in die Neue Welt. Dort begegnet er Anyanwu, einer Gestaltwandlerin und Heilerin, die ebenso unsterblich ist. Doch während Doro seine Macht festigen will, hat Anyanwu ganz andere Ziele. Damit beginnt der unerbittliche Kampf zwischen den zwei Halbgöttern, der vom Nigeria des 17. Jahrhunderts bis in die Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts reicht. Die US-amerikanische Science-Fiction-Autorin Octavia E. Butler wurde mehrfach für ihr Werk ausgezeichnet.
Mit Zerrissene Erde hat die New-York-Times-Bestsellerautorin N. K. Jemisin den ersten Teil ihrer spektakulären Endzeit-Trilogie vorgelegt, für die sie den Hugo Award erhielt. Essun ist verzweifelt: Ihr kleiner Sohn ist tot, ermordet. Ihre Tochter wurde vom Mörder ihres Sohnes entführt, ihrem eigenen Mann. Während die menschliche Ordnung durch Naturkatastrophen zerbricht, verfolgt Essun ein einziges Ziel: Sie möchte ihre Tochter befreien. Essun folgt den Spuren ihrer Tochter durchs ganze Land Sansia, in dem es bald nur noch um das nackte Überleben geht. Die Tageszeitung „Die Welt“ schrieb über das Werk von N. K. Jemisin treffend:
„Die High Fantasy erreicht die Epoche des Klimawandels.“
Das Hörbuch Parable of the Sower von Octavia E. Butler spielt im Kalifornien des Jahres 2025. Die Regierung des unter Wasserarmut leidenden Bundesstaats ist nicht fähig, die Menschen vor kriminellen Banden zu schützen. Die Menschen suchen in abgeschlossenen Wohnanlagen Schutz vor Räubern, Mördern und Vergewaltigern. Als Tochter eines Baptistenpriesters wächst die junge Lauren Olamina in diesem bedrückenden Klima auf. Der dystopischen Welt setzt die empathische junge Frau mit ihrer Earthseed-Bewegung eine Philosophie entgegen, die den Menschen wieder Hoffnung gibt.
Das Echo von Sklaverei und Unterdrückung im Afrofuturismus
Häufig klingen in afrofuturistischer Literatur Themen wie Sklaverei, Vergewaltigung und Unterdrückung an. Im Hörbuch Der Wassertänzer des US-amerikanischen Autors Ta-Nehisi Coates schildert Ich-Erzähler Hiram Walker, wie er in Ketten aufwächst. Er muss miterleben, wie seine Mutter verkauft wird. Dann entdeckt er seine besondere Gabe und beschließt, aus der Sklaverei zu fliehen.
Er begibt sich auf eine abenteuerliche Reise von den Tabakplantagen West Virginias bis nach Philadelphia. Dort hofft Hiram, die lang ersehnte Freiheit zu finden. Doch er kann erst wirklich frei leben, wenn er die Frau, die er liebt, und die Frau, die ihn aufzog, in die Freiheit geführt hat. Der US-amerikanische Journalist Ta-Nehisi Coates wurde 2015 schlagartig berühmt und von der Literaturkritik gefeiert. In Form eines 150-seitigen Briefes beschreibt er in "Between the World and Me" den Rassismus als zentrales Gestaltungsprinzip der Gesellschaft in den Vereinigten Staaten.
In ihrem Debütroman Wer fürchtet den Tod verbindet die nigerianisch-amerikanische Schriftstellerin Nnedi Okorafor afrikanische Kultur und Fantasy zu einem fesselnden Endzeit-Abenteuer. Darin werden die dunkelhäutigen Okeke von den hellhäutigen Nuru unterdrückt. Das Mädchen Onyesonwu, deren Name „Wer fürchtet den Tod“ bedeutet, macht sich auf den Weg, um die Vergewaltigung ihrer Mutter zu rächen und ihr Volk zu befreien. Am Ende ihrer langen gefahrvollen Reise will sie den mächtigen Zauberer Daib töten – ihren Vater. Nnedi Okorafor greift hier jahrhundertelange Unterdrückung und Versklavung als Thema auf. Auch ihr Sci-Fi-Roman "Lagoon" wurde von der Literaturkritik gefeiert.
Mit Kindred legte erstmals eine schwarze Autorin einen Science-Fiction-Roman vor. Inzwischen ist dieses Werk von Octavia E. Butler ein Eckpfeiler der afroamerikanischen Literatur. Sie verbindet darin die Geschichte der Sklaverei und Fantasy-Elemente zu einer komplexen Geschichte. Im Kalifornien des Jahres 1976 wird die Afroamerikanerin Dana kurz nach ihrem 26. Geburtstag plötzlich ins Maryland der Sezessionskriege Mitte des 19. Jahrhunderts katapultiert.
Dort rettet sie einen weißen Jungen vor dem Ertrinken, blickt aber kurz darauf in die Mündung einer Pistole. Nur die Flucht zurück ins Jetzt bewahrt sie vor dem Tod. Immer wieder erlebt sie solche Episoden. Allmählich begreift sie, dass sie den jungen Sklavenhalter schützen muss, damit er ihre eigene Familiengeschichte sichern kann.
Durch die wiederkehrenden, gefährlichen Situationen und die Notwendigkeit, ihren Vorfahren zu helfen, entwickelt Dana eine unerwartete psychologische Bindung zu ihm. Diese weist Ähnlichkeiten mit dem Stockholm-Syndrom auf, einem Phänomen, bei dem bei Geiseln eine emotionale Bindung zu ihren Entführerinnen oder Entführern entsteht.
Afrofuturistische Science-Fiction
Wer die Geschichte der USA gut kennt, denkt bei „Black Panther“ an die revolutionäre Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre. Viele Menschen verbinden damit jedoch den Action-Film „Black Panther“ mit Chadwick Boseman und Michael B. Jordan in den Hauptrollen. Die Produktion der Marvel Studios kam 2018 in die Kinos und erhielt drei Oscars.
Das englischsprachige Hörbuch Black Panther von Ronald L. Smith erzählt von der Hauptfigur des Films, T'Challa. Der junge Prinz des technologisch fortschrittlichen Königreichs Wakanda wird gemeinsam mit seinem Freund M'Baku auf eine Schule in den USA geschickt. Zwar hat T'Challa einen High-Tech-Anzug und einen Vibranium-Ring, doch im Kampf gegen einen feindseligen Mitschüler taugen sie wenig. Zumal dieser angeblich schwarze Magie beherrscht.
Im englischsprachigen Science-Fiction-Hörbuch Binti beschreibt Nnedi Okorafor den Konflikt zwischen traditionell überlieferter Weisheit und dem aufgeklärten Wissen der akademischen Welt. Als erste junge Frau aus dem Volk der Himba erhält Binti einen Platz an der Oomza University, der renommiertesten Hochschule in der Galaxie. Hierfür muss sie die Stellung in ihrer Familie aufgeben und unter Fremden zu den Sternen reisen.
Binti ist bereit, den hohen Preis für das Wissen zu zahlen, aber ihr Weg ist steinig. Denn es bahnt sich ein tödlicher Streit mit den Meduse an, einem Stamm von Aliens. Sie rächen sich für die Benachteiligung an der Oomza University und werden zur Gefahr für Binti. Zum Überleben braucht sie alle Weisheit ihres Volkes, aber auch akademisches Wissen.
Rayla 2212 von Ytasha L. Womack erzählt die Geschichte von Rayla Illmatic. Sie entstammt der dritten Generation auf dem Planeten Hope, einer ehemaligen Kolonie der Erde, die inzwischen unabhängig ist. Aus der Utopie ist längst eine Dystopie geworden. Rayla kämpft gegen das Unrecht und die Unterdrückung durch die Dirk. Nachdem ihr Freund, der Rebellenführer Carcine, auf der Suche nach dem mystischen Wissenschaftler Moulan Shakur verschwindet, macht sich Rayla auf den Weg, um eine Gruppe verschollener New-Age-Astronauten zu finden. In der Geschichte verwebt Ytasha L. Womack Wiedergeburt, Raumfahrt, virtuelle Reisen und Liebe.
Afroamerikanerinnen verhelfen Science-Fiction zur Realität
Der Wettlauf zum Mond und die Weltraumbegeisterung waren für Jazzmusiker Sun Ra nur Inspiration für seine Kunst. Doch drei afroamerikanische Mathematikerinnen spielten tatsächlich eine wichtige Rolle bei den Mercury- und Apollo-Programmen der USA. Trotz der Benachteiligung durch die Rassentrennung und den erschwerten Zugang zu Bildungseinrichtungen machten sie den ersten bemannten Raumflug der USA erst möglich. Mit ihrer Hilfe wurde eine Zukunftsvision zur Realität.
Das Hörbuch Hidden Figures – Unerkannte Heldinnen schildert, welchen Beitrag sie zum erfolgreichen Raumfahrtprogramm der NASA leisteten. Bezeichnend ist, dass Janelle Monáe, eine der Hauptdarstellerinnen des gleichnamigen Kinofilms, nach der Lektüre des Drehbuchs zunächst annahm, dass es sich um eine fiktionale Story handelte.
Afrofuturismus bereichert herkömmliche Perspektiven
Afrofuturistische Literatur bringt uns einmal mehr ins Bewusstsein, wie stark die herkömmliche Sichtweise durch „weiße“ Vorstellungen von Kultur, Tradition und Geschichte geprägt ist. Die vielfältigen Erzählungen und Romane des Afrofuturismus bieten da erfrischend andere Perspektiven. Dabei entdecken wir neue literarische Stimmen und ganz innovative Erzählformen. Wer mehr über die afrikanische Geschichte wissen möchte, findet bei Audible spannende Autobiografien und Betrachtungen aus dem Blickwinkel des Afrikanischen Kontinents.